# taz.de -- 126 Jahre Röntgenstrahlen: Als Conrad seine Knochen sah | |
> Durch Zufall machte Wilhelm Conrad Röntgen 1895 eine besondere Strahlung | |
> sichtbar. Seine Entdeckung veränderte unsere Wahrnehmung der Welt. | |
Bild: Conrad Röntgen entdeckte die nach ihm benannten Röntgenstrahlen durch Z… | |
Machen die Weisheitszähne Faxen? Beim Volleyball verunfallt? Oder zu tief | |
mit dem Kugelschreiber in der Nase gebohrt? Dann ab zum Röntgen! Dank der | |
von Conrad Röntgen entdeckten Strahlen können wir in unsere Körper | |
hineingucken, ohne sie gleich aufschneiden und auf links drehen zu müssen. | |
Das bis heute am häufigsten eingesetzte bildgebende Verfahren hat vor | |
ziemlich genau 126 Jahren die Medizin revolutioniert. Und auch noch unser | |
gesamtes Weltverständnis. | |
Röntgenstrahlen – die übrigens in den meisten anderen Teilen der Welt | |
X-Strahlen genannt werden – sind elektromagnetische Wellen in einem | |
Energiebereich jenseits der für uns sichtbaren Lichtwellen. Sie sind noch | |
kurzwelliger als die für den Sonnenbrand verantwortlichen UV-Strahlen. | |
Allerdings nicht ganz so kurzwellig wie die radioaktiven Gammastrahlen, an | |
die wir heute meist denken, wenn von Strahlung die Rede ist. | |
Ein Röntgenapparat funktioniert so: In einer Röhre werden Elektronen | |
beschleunigt. Werden sie abgebremst, geben sie Energie in Form von | |
elektromagnetischen Wellen ab. Diese Wellen durchdringen nahezu mühelos die | |
Röhre und noch mehr – uns zum Beispiel! Die Strahlen passieren unsere | |
Bestandteile dabei mehr oder weniger gut – Knochen schlechter als Organe. | |
Das kann man erkennen, wenn man uns bei der Bestrahlung vor einen Detektor | |
wie etwa einen Röntgenfilm platziert, der die Strahlung aufnimmt. Auf dem | |
Film kommen dann Zähne ganz in Weiß daher, weil die kaum Röntgenstrahlen | |
durchgelassen haben. Weniger dichtes Gewebe wie Muskeln erscheint grau, und | |
die luftige Lunge ganz schwarz. So machen die Röntgenstrahlen sichtbar, was | |
in unserem Innersten eventuell nicht ganz in Ordnung ist – rein anatomisch | |
gesehen. | |
Entdeckt wurden die Röntgenstrahlen, wie so oft in der Geschichte der | |
Wissenschaft, durch blanken Zufall. Es war der 8. November 1895, als | |
Wilhelm Conrad Röntgen noch bis spätabends in seinem Labor an der | |
Universität Würzburg saß. Draußen machten die ersten elektrischen Lampen | |
die Nacht zum Tag, die Eisenbahn war immer noch ein großes Ding und das | |
Telefon die neue Sensation. Auch eine luftleere Röhre, in der sich ein | |
Elektronenstrahl erzeugen ließ, war schon ein paar Jahre im Umlauf. Später | |
einmal würde diese zum ersten Röhrenfernseher weiterentwickelt werden. Aber | |
zunächst einmal spielte Röntgen an besagtem Abend mit dem Gerät herum. | |
Über Röntgens Leben bis zu diesem Abend weiß man gar nichts so genau. | |
Vielleicht, weil er ein von Grund auf introvertierter und bescheidener | |
Mensch war, oder weil er nach seinem Tode alle Aufzeichnungen über sich | |
vernichten ließ – oder beides. 1845 in Remscheid geboren und in den | |
Niederlanden aufgewachsen, flog er von der Schule, man glaubt zu wissen, | |
weil er eine Karikatur seines Klassenlehrers gemalt hatte. Ohne offiziellen | |
Abschluss schaffte er es dennoch über Umwege in die Wissenschaft, erst als | |
Gasthörer an der Universität Utrecht, von dort ging es in die Schweiz, | |
schließlich wurde er in Zürich mit 24 Jahren zum Doktor der Physik | |
promoviert, Thema: „Studien über Gase“. Die waren offenbar sein Ding, auch | |
später in Würzburg, wo er sich in seinem Labor an der Universität in der | |
Thermo- und Elektrodynamik verlor. | |
Wegen der vernichteten Unterlagen lässt sich auch der Abend des 8. | |
Novembers 1895 nur ungefähr rekonstruieren: Röntgen untersuchte mal wieder | |
die Eigenschaften von Gasentladungen, als er bemerkte, dass jenseits der | |
Röhre ein mit einem Leuchtstoff beschichtetes Papier im Raum zu glimmen | |
begann. Der Forscher knipste sofort alle Lichter aus und schirmte die Röhre | |
mit schwarzem Papier ab, doch noch immer leuchtete die kleine Leinwand, | |
egal, wo im Labor er sie aufstellte. Beim weiteren Experimentieren geriet | |
irgendetwas zwischen die Röhre und die Leinwand – und Röntgen sah einen | |
seltsamen Schatten. Er hatte eine bislang unbekannte Strahlung entdeckt. | |
Und sollte damit Geschichte schreiben. | |
Anderthalb Monate lang verbarrikadierte sich Röntgen in seinem Würzburger | |
Unilabor, niemandem erzählte er von seiner Entdeckung. Der Physiker fand | |
heraus, dass die Strahlung so stark war, dass sie Bücher, Bretter oder auch | |
Röntgens eigenen Körper durchdringt. Womöglich ahnte er, dass diese Energie | |
nicht so ganz ohne sein würde. Und so bat er kurzerhand seine Frau Bertha | |
ins Labor. | |
In einem Brief an einen Schüler ist zu lesen, dass Conrad seiner Gattin | |
erklärte, er würde etwas tun, von dem die Leute, wenn sie es erfahren, | |
sagen würden: Der Röntgen ist wohl verrückt geworden. Doch Ende des 19. | |
Jahrhunderts gab es noch keine Skepsis gegenüber der Wissenschaft. Jede | |
neue Entdeckung war eine Sensation und musste ohne Rücksicht auf Verluste | |
erforscht werden. Also feuerte Röntgen die unbekannten Strahlen auf Berthas | |
Hand ab. Nicht etwa eine Sekunde, sondern eine halbe Stunde lang. Das | |
Ergebnis: die erste Röntgenaufnahme der Welt. Eine Hand, deren Knochen klar | |
zu erkennen waren – und ein Ehering am Finger. | |
Am 28. Dezember 1895 veröffentlichte Röntgen bereits seinen Bericht „Über | |
eine neue Art von Strahlen“. Für Conrad Röntgen war alles gesagt. Der | |
Physiker betonte, dass seine Arbeit nicht mehr als Grundlagenforschung sei | |
und setzte sich nicht länger den Strahlen im Labor aus. Eine Entscheidung, | |
die ihm (und wahrscheinlich auch seiner Frau) ein längeres Leben bescherte. | |
Die Nachricht über die Röntgenstrahlung hingegen ging auch ohne die Werbung | |
seines Entdeckers um die Welt. Binnen Tagen erfuhr eine breite | |
Öffentlichkeit, dass die Medizin vor einer Revolution steht. Fortan würden | |
der Mensch und seine inneren Zusammenhänge zugänglich. Und das auch noch | |
schmerzfrei und schnell, wie praktisch. Innerhalb weniger Monate wurden | |
überall Röntgengeräte gebaut und vertrieben. Der Nutzen war gigantisch; | |
niemand ahnte, dass diese wissenschaftliche Entdeckung auch Gefahren mit | |
sich bringen würde. Etwa, dass gewisse Strahlen krank machen, weil sie das | |
durchdrungene Gewebe schädigen und Krebs verursachen. | |
Der introvertierte Wilhelm Conrad Röntgen war derweil gestresst von dem | |
Trubel um seine Person. Berühmtheit und Reichtum schienen ihn nicht | |
sonderlich zu interessieren. Als einziges Kind eines Tuchfabrikanten war er | |
Zeit seines Lebens ohnehin betucht genug und in Würzburg hatte er ein Labor | |
mit Instrumentarium auf Weltniveau, was wollte er mehr? Also ließ sich | |
Röntgen seine Entdeckung nicht einmal patentieren, sie sollte dem | |
Allgemeinwohl dienen. Preise und Ehrungen, ja, sogar einen Adelstitel | |
lehnte er ab. Nur einmal machte er eine Ausnahme. Fünf Jahre nach seiner | |
Entdeckung reiste Conrad Röntgen widerwillig nach Stockholm, um den | |
allerersten Nobelpreis der Physik entgegenzunehmen – und sich dann noch vor | |
den Festlichkeiten schleunigst wieder zu verabschieden. | |
„Als Anerkennung des außerordentlichen Verdienstes, das er sich durch die | |
Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen erworben hat“ steht auf der | |
Urkunde. Röntgen hatte der Medizin, der Molekularbiologie und der Physik zu | |
einem Quantensprung verholfen. Schon ein Jahr nach Röntgens Entdeckung | |
experimentierte Henri Becquerel mit lumineszenten Materialien herum und | |
stieß auf die Radioaktivität, für die er zusammen mit Marie Curie und ihrem | |
Mann Pierre 1903 den Nobelpreis bekam. Kurz darauf verstand Joseph John | |
Thomson, was es mit den Elektronen genau auf sich hat, und legte das | |
Fundament für die gesamte Elektrotechnik. | |
Darüber hinaus eröffnete uns Conrad Röntgen einen neuen Horizont. Der | |
Physiker machte offensichtlich, dass es Dinge jenseits des Sichtbaren gibt, | |
jenseits unserer eingeschränkten fünf Sinne – sie ließen sich nun erkläre… | |
ohne dafür Geister verantwortlich zu machen. Bald würden Strahlen erkennen | |
lassen, dass winzige Elementarteilchen Grundlage jeder Materie sind, und | |
dass das Weltall jenseits dieser Materie galaktisch unfassbar bleibt. Somit | |
war es wohl der deutsche Physiker mit seiner durchdringenden Strahlung, der | |
die Zusammenhänge des Universums erst so richtig kompliziert gemacht hat. | |
5 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Philipp Brandstädter | |
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