| # taz.de -- „Decolonizing Christmas“: Neue Perspektiven aufs Fest | |
| > Wie viel Kolonialgeschichte steckt in der Weihnachtsgeschichte? Eine | |
| > Führung beleuchtet die christliche Tradition aus muslimischer | |
| > Perspektive. | |
| Bild: Die „Heiligen drei Könige“: „Sie sind nicht drei, nicht heilig und… | |
| Das Weihnachtszimmer im oberen Stockwerk der Kirche ist festlich | |
| geschmückt: Lichterketten zieren die Wände, von der Decke schweben | |
| selbstgebastelte Papierschneeflocken. Auf einem Sessel in der Ecke sitzt | |
| ein Weihnachtsmann aus Stoff mit weißem Rauschebart und rotem Mantel. | |
| Gegenüber steht ein geschmückter Tannenbaum. | |
| „Diese Weihnachtssymbole sind nicht nur westlich“, sagt Gökçe Aydın vom | |
| Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität (HU). „Auch in | |
| vielen muslimisch geprägten Ländern werden heute Tannenbäume verwendet – | |
| nicht zu Weihnachten, sondern zum Jahreswechsel.“ Auch der Adventskalender | |
| werde mancherorts kulturell übersetzt in einen Ramadankalender. „Kulturen | |
| und Religionen lernen voneinander“, sagt sie. | |
| Unter dem Titel „Decolonizing Christmas“ führt Aydin am Montagabend durch | |
| den Weihnachtsgarten der Friedenskirche Charlottenburg. Sie beleuchtet die | |
| Weihnachtsgeschichte aus muslimischer Sicht; Bastian Schmidt, | |
| Theologiestudent und freier Referent für Kirche und Gesellschaft, ergänzt | |
| die christliche Perspektive. | |
| „Befreiung von kolonialen Strukturen ist theologischer Auftrag“, zitiert | |
| Bastian Schmidt den „Vater der Befreiungstheologie“, Gustavo Gutiérrez. | |
| „Die Geschichten, die wir an Weihnachten erzählen, sind auch Geschichten | |
| von Macht, Kolonialismus und Diskriminierung.“ Der Anspruch der | |
| Veranstalter*innen: Interreligiös und rassismuskritisch hinterfragen, woher | |
| die Bilder kommen, die wir vom „Anderen“ haben, wie koloniales Denken | |
| unsere religiösen Vorstellungen prägt, und wie Weihnachten dekolonisiert | |
| werden kann – als Fest für alle. | |
| Die Führung ist eine Kooperation zwischen dem Initiativkreis Dialog der | |
| Religionen für Kinder und Jugendliche, der Friedenskirche Charlottenburg | |
| und Dozent*innen des Berliner Instituts für Islamische Theologie der HU. | |
| Gefördert wird sie durch die Senatskulturverwaltung. | |
| ## Eine Zeitreise durch die Weihnachtsgeschichte | |
| Die Zeitreise beginnt wie im Film „Die Chroniken von Narnia“: Durch einen | |
| Holzschrank taucht die Besuchergruppe direkt in das Jahr null. Dahinter | |
| öffnet sich ein Raum, dessen Wände mit schwarzen Laken verhängt sind; | |
| Leuchtsterne formen die bekannten Sternbilder. Vorne im Raum stehen Figuren | |
| von Caspar, Melchior und Balthasar – in der christlichen Tradition die | |
| Heiligen Drei Könige. Schmidt stellt jedoch klar: „Sie sind nicht drei, | |
| nicht heilig und keine Könige“. | |
| In der koptischen Tradition etwa seien es vier bis sechs Könige, in der | |
| äthiopischen und syrischen zwölf; im Ökumenischen einigt man sich meist auf | |
| mindestens drei. Außerdem seien sie nie heilig gesprochen worden und seien | |
| auch keine Könige, da sie Gelehrte waren. „In dem geschichtlichen Kontext | |
| von Matthäus zeigt sich zudem ein Moment von Xenophobie“, erklärt der | |
| 27-Jährige. Der Evangelist bezeichne die Männer aus Mesopotamien – dem | |
| heutigen Irak – als Magoi, übersetzt Gaukler oder Scharlatane. | |
| Fremdenfeindlichkeit sei damit kein Phänomen, das erst begonnen habe, als | |
| die katholische Kirche Balthasar schwarz anmalte. „Die Weisen aus Persien | |
| mussten exotisiert werden – etwas an ihnen musste magisch sein, sonst hätte | |
| man nicht erklären können, warum sie klüger sein sollten als wir“, erklärt | |
| Schmidt. | |
| Vom ersten Raum führt ein mit künstlichem Efeu überwucherter Gang nach | |
| „Nazareth“, in das Haus Marias. In einem Papierkamin flackert eine | |
| LED-Flamme, auf einer Pritsche sitzt Gökçe Aydın. „Maria heißt bei uns | |
| Maryam“, erklärt sie. Maryam sei die einzige Frau, die im Koran namentlich | |
| genannt werde. Wie in der biblischen Tradition ist sie auch im Koran eine | |
| ganz gewöhnliche Frau, die aus innerer Stärke Außerordentliches vollbringt, | |
| nicht etwa aufgrund adeliger Herkunft. | |
| Anschließend geht es über eine Treppe vom „Gebirge“ hinab nach „Bethleh… | |
| in das Kirchenschiff. Dort steht ein Projektor, der eine Landkarte der | |
| antiken Region rund um das heutige Israel zeigt. „Die Reiseroute von | |
| Nazareth nach Bethlehem wird viel diskutiert“, erzählt Schmidt. Während | |
| Theologen sagen, dass Jesus in Bethlehem geboren sei, bezweifelten | |
| Historiker dies. Die Route diene lediglich dazu, Frömmigkeit und | |
| Pilgertradition in der christlichen Tradition zu veranschaulichen. | |
| ## Christlicher Fundamentalismus muss reflektiert werden | |
| Schmidt betont: „Über muslimischen Fundamentalismus wird überall | |
| gesprochen, aber darüber, dass wir als christliche Mehrheitsgesellschaft | |
| auch ein Problem mit Fundamentalismus haben, nicht.“ Diese blinden Flecken | |
| in der eigenen Mehrheitskultur aufzudecken, sei ein wichtiger Bestandteil | |
| von Dekolonisierung. | |
| Gegenüber dem Projektor stehen selbstgebaute Holzhäuser, eines trägt die | |
| Aufschrift „Herberge“. Nach langem Klopfen öffnet der Wirt und führt die | |
| Gruppe durch die Scheunentür in einen Schlafsaal mit Hochbetten, in denen | |
| etwa vierzig Puppen liegen. Da alle Betten belegt sind, geht es weiter in | |
| einen mit Heu ausgelegten Raum. Dazwischen stehen Schafsfiguren, ein | |
| LED-Feuer lodert, darüber funkeln Lichterketten – es ist das Hirtenfeld | |
| unter dem Sternenhimmel. | |
| „Über Hirten haben die Menschen zu der Zeit gesprochen wie die CDU über | |
| Neuköllner“, sagt Schmidt und lacht: „Alle steckten unter einer Decke, alle | |
| seien Kriminelle.“ Das Problem, Menschen vom Land abzuwerten, sei kultur- | |
| und religionsübergreifend, so die Theolog*innen. Auch im Islam würden | |
| Hirten oft als primitiv und ungebildet abgewertet, so Aydın. „Hirten sind | |
| ein Paradebeispiel für Gruppen, die strukturell unterdrückt wurden und | |
| unter ‚Othering‘ gelitten haben. Sie wurden immer zu Anderen deklariert: | |
| Kriminellen, Primitiven.“ | |
| ## Unbefleckte Empfängnis, schmerzfreie Geburt | |
| Durch einen Vorhang geht es in den letzten Raum: Ein meterhoher Holzstall | |
| steht darin, mit Krippe, Esel, Ochse, Maria und Josef – und einer Palme. | |
| „In der muslimischen Tradition gibt es die Herberge nicht“, erklärt Aydın. | |
| „Maryam bekommt die Wehen unter großen Schmerzen unter einer Palme.“ In der | |
| Bibel werden diese Leiden verschwiegen. | |
| Das sei „zu dreckig“, so Schmidt. „Während der Koran ehrlich das Leid ei… | |
| Gebärenden zeigt, macht die christliche Tradition daraus ein Pseudowunder, | |
| in dem Armut hochstilisiert wird.“ Dabei sei das Gebären im Stall üblich | |
| gewesen, ebenso die Flucht, so Schmidt. Ziel der christlichen Darstellung | |
| sei es, Demut und Bescheidenheit als Werte zu betonen. | |
| Aydın und Schmidt sind sich einig: „Im Kernethos sind unsere Religionen | |
| einander sehr nah. Es ist schön zu sehen, dass die Geschichten sich | |
| ergänzen können und sich nicht widersprechen müssen.“ Schmidt fügt hinzu: | |
| „Beide unsere Religionen sind sich einig: Rassismus und Kolonialismus ist | |
| Scheiße.“ | |
| 11 Dec 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Lilly Schröder | |
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