| # taz.de -- Adventszeit in Palästina: Sehen, dass man nicht alleine ist | |
| > Zum ersten Mal seit 2023 leuchtet in Bethlehem im Westjordanland wieder | |
| > der Weihnachtsbaum. Doch unter die Freude der Menschen mischt sich | |
| > Trauer. | |
| Bild: Ein Spektakel: Der Christbaum in Bethlehem im Westjordanland | |
| Wenige Stunden bevor am Weihnachtsbaum in Bethlehem erstmals seit drei | |
| Jahren wieder die Lichter erleuchten werden, kommt Issa Thaljieh kaum | |
| hinterher, die Gäste zu begrüßen. Der orthodoxe Priester der Geburtskirche | |
| schüttelt Hände, gibt Interviews und lächelt in Kameras. „Es tut gut, das | |
| erste Mal seit dem 7. Oktober 2023 wieder so viele Menschen hier zu sehen“, | |
| sagt der 43-Jährige in der schwarzen Robe orthodoxer Geistlicher. | |
| Der rund 20 Meter hohe Christbaum auf dem Platz vor der Geburtskirche im | |
| Stadtzentrum mache ihn glücklich und traurig zugleich. Die Entscheidung für | |
| die Feierlichkeiten sei der Gemeinde nicht leicht gefallen, sagt der Mann | |
| mit dem dichten Vollbart. Er steht seit 2012 den rund 3.500 orthodoxen | |
| Christen der Stadt vor. | |
| Er weiß, was das Ausbleiben von Touristen wegen des Krieges im Gazastreifen | |
| für die Stadt bedeutet, in der Christinnen und Christen den Geburtsort von | |
| Jesus sehen. „Viele haben ihre Arbeit verloren, können die Schule für ihre | |
| Kinder nicht mehr bezahlen“, sagt Thaljieh. Alleine aus der orthodoxen | |
| Gemeinde seien zuletzt 50 Mitglieder weggezogen. Für die Menschen in der | |
| Stadt seien die Tausende Gäste auf dem Platz ein Zeichen der Hoffnung. | |
| Seine Freude ist jedoch getrübt. In den vergangenen zwei Jahren hatten sich | |
| die Christen in Bethlehem wegen der Zehntausende von Israel in Gaza | |
| getöteten Zivilisten gegen Feierlichkeiten entschieden. Jetzt habe die | |
| Waffenruhe zu einer Pause geführt. Die Lage in Gaza aber sei weiter schwer, | |
| sagt Thaljieh. Regelmäßig hält er Kontakt dorthin. | |
| ## Im Rathaus läuft die palästinensische Politprominenz auf | |
| Auch in Bethlehem ist die Lage schwierig: Um den Ort herum könne man sich | |
| wegen der Checkpoints und der Angriffe israelischer Siedler kaum noch | |
| bewegen. Bereits vor den Hamas-Massakern im Süden Israels war die Stadt von | |
| einer meterhohen Betonmauer und israelischen Siedlungen eingehegt. „Den | |
| Christbaum zu erleuchten heißt auch, dass wir als Palästinenser hier | |
| bleiben, das ist unser Widerstand.“ Vom Nikolaustag bis nach Weihnachten | |
| leuchtet er. | |
| Auf der anderen Seite des Platzes empfängt Bürgermeister Maher Canawati im | |
| Rathaus palästinensische Politprominenz. Der Bethlehemer Weihnachtsbaum hat | |
| symbolische Strahlkraft über die Stadt hinaus. Politiker der | |
| Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) mühen sich aktuell, von den USA im | |
| Nachkriegsgaza eine Rolle zugesprochen zu bekommen. Sie nutzen den Abend, | |
| um Gesicht zu zeigen: Der Sprecher des palästinensischen | |
| Sicherheitsapparates Anwar Rajab ist da, ebenso Innenminister Siad Hab | |
| al-Rih. Der 90-jährige Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat einen | |
| Vertreter geschickt. | |
| Canawati gesteht ein, dass es an der Entscheidung, den Baum wieder zu | |
| erleuchten, Kritik gab. Wegen des anhaltenden Leids in Gaza: „Manche sagen, | |
| es ist nicht angemessen, aber ich denke, es war das Richtige. Für uns | |
| bedeutet dieses Licht Hoffnung.“ Erstmals seit Langem seien die Hotels in | |
| der Stadt an diesem Abend zu rund zwei Dritteln ausgebucht, nachdem der | |
| Tourismus in den vergangenen zwei Jahren um 90 Prozent eingebrochen sei. | |
| Rund 4.000 Menschen hätten Bethlehem verlassen, vor allem gut ausgebildete. | |
| ## Drei Jahre warten auf den Auftritt | |
| Im Erdgeschoss des Rathauses haben christlich-palästinensische Pfadfinder | |
| in Uniformen mit Trommeln und Dudelsäcken Aufstellung bezogen. „Wir haben | |
| seit drei Jahren auf diesen Auftritt gewartet“, sagt eine 15-Jährige und | |
| prüft ein letztes Mal, ob das Barett auf ihrem Kopf richtig sitzt. Bevor | |
| sie mit Trommelwirbeln auf den Platz hinaustreten, wartet die Gruppe noch, | |
| bis der Muezzin an diesem Abend seinen Gebetsruf beendet hat. Neunzig | |
| Prozent der Einwohner Bethlehems sind Muslime. | |
| Als die offizielle Zeremonie startet, haben sich Tausende Zuschauer auf dem | |
| Platz versammelt. Von fahrbaren Ständen verkaufen junge Männer gekochten | |
| Mais, ein Weihnachtsmann verschenkt leuchtende Luftballons. Dazwischen | |
| rennen Kinder, schieben sich Familien durch die Menge. Die meisten Gäste | |
| sind Palästinenser aus anderen Städten im Westjordanland, aus Ost-Jerusalem | |
| oder aus Israel. Internationale Touristen sind kaum zu sehen. | |
| „So etwas habe ich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, ich freue mich | |
| riesig“, sagt die 39-jährige Hadil Musa. Die Palästinenserin mit | |
| israelischer Staatsbürgerschaft ist Krankenschwester und mit ihrem Bruder | |
| und ihren drei Kindern aus dem Norden Israels angereist. Früher seien sie | |
| jedes Jahr nach Bethlehem gekommen. Das sei für die Menschen hier wichtig, | |
| aber auch für sie selbst. „Ich habe das vermisst“, sagt Musa. | |
| Ein Stück weiter steht Nagam, die nur ihren Vornamen nennt, im Gedränge und | |
| wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. „Es gibt mir ein Gefühl von | |
| Verbundenheit und Trost, plötzlich als Palästinenserin wieder zusammen auf | |
| der Straße feiern zu können. Und zu sehen, dass ich nicht alleine bin“, | |
| sagt die Kunststudentin, die an einer der angesehensten Kunsthochschulen | |
| Israels lernt. „Als könnte ich dadurch für einen Moment all die schweren | |
| Gefühle der vergangenen zwei Jahre loslassen.“ | |
| Sie wisse, dass der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern nicht | |
| vorbei sei. „Er war vor dem 7. Oktober präsent, er wird weitergehen“, sagt | |
| sie. Selbst an der liberalen Kunsthochschule sei der Kontakt mit | |
| jüdisch-israelischen Kommilitonen nicht einfach. Diese würden zwar | |
| leidenschaftlich gerne über den Konflikt diskutieren, kämen aber ebenfalls | |
| an ihre Grenzen, wenn sie als Palästinenserin ihre Geschichte erzähle: dass | |
| alle Bewohner aus Kfar Bar’am, dem Dorf ihrer Großeltern im heutigen | |
| Israel, 1948 im Zuge der Staatsgründung von jüdischen Milizen vertrieben | |
| wurden. Dass der Ort Jahre später fast vollständig zerstört wurde, um eine | |
| Rückkehr zu verhindern. „Wenn ich davon erzähle, glauben mir viele jüdische | |
| Mitstudenten nicht“, sagt Nagam. „Es fällt ihnen schwer zu akzeptieren, | |
| dass das Teil ihrer eigenen Geschichte ist.“ | |
| Für Heiligabend werde sie zu ihren Eltern nach Nordisrael fahren. Die | |
| Kirche von Kfar Bar’am ist als einziges Gebäude bis heute erhalten. Jedes | |
| Jahr im Dezember kämen die Nachkommen der Bewohner aus Haifa, Nazareth und | |
| den Dörfern in der Umgebung, um dort gemeinsam Weihnachten zu feiern. | |
| 12 Dec 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Felix Wellisch | |
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