| # taz.de -- Weihnachten ohne Familie: Solidarität statt Familienzwang und Eins… | |
| > An den Feiertagen wird in der Familie gern Geborgenheit simuliert. Zum | |
| > Glück gibt es Angebote für alle, die da nicht mitmachen können oder | |
| > wollen. | |
| Bild: Dass Weihnachten Müll ist, fanden schon Demonstrant:innen bei den Protes… | |
| Es gibt diese schöne Schlussszene in der Erzählung „Wassilissa Malygina“ | |
| der kommunistischen Feministin Alexandra Kollontai. In dem Roman ringt die | |
| Protagonistin Wassilissa mit dem Scheitern ihrer Ehe. Sie und ihr Partner | |
| hatten sich im Sturm der Oktoberrevolution verliebt, doch dann voneinander | |
| entfernt. Er geht ihr fremd, die Ehe liegt in Scherben. Im Roman | |
| entscheidet sich Wassilissa für die Trennung – und damit dagegen, das | |
| kaputte Konstrukt der ehelichen Gemeinschaft fortzuführen. | |
| Auf den letzten Seiten stellt sich allerdings heraus, dass Wassilissa | |
| schwanger ist. Ihre Freundin Gruscha stellt ihr deshalb die | |
| bedeutungsschwere Frage, ob sie ihr Kind denn nun alleine großzuziehen | |
| gedenke. Es scheint nur diese zwei Optionen zu geben: Die kaputte Ehe | |
| fortzuführen oder in der Isolation überfordert zu sein. Doch dann macht | |
| Kollontai ihren Clou. „Es wird eben unser Kindchen sein, unser | |
| gemeinsames“, sagt Wassilissa – und meint damit ihr | |
| Arbeiter:innenkollektiv. „Ein kommunistisches?“, fragt Gruscha. | |
| „Selbstverständlich!“. Beide lachen. | |
| Abermals bricht Wassilissa damit aus der bürgerlichen Familienidee heraus. | |
| Sie erkennt: Es gibt nicht nur die kaputte Familie und die Einsamkeit. Denn | |
| Gemeinschaft und Fürsorge können auch kollektiv organisiert werden. | |
| In der Weihnachtszeit, die Stunde der bürgerlichen Kernfamilie, resoniert | |
| Kollontai besonders. Denn nicht nur die Berliner Straßen sind an diesen | |
| Tagen leer, weil es alle zurück auf die Dörfer zieht, aus denen sie einst | |
| in die große Stadt geflüchtet sind. Nein, leer sind dieser Tage auch die | |
| Kalender für alle, die an Weihnachten keine familiäre Geborgenheit | |
| simulieren können, weil die Festtage für sie eine Zeit der Einsamkeit, der | |
| Angst oder der Eskalation sind. Weil es eine Familie schlicht nicht mehr | |
| gibt, weil sie gewalttätig oder krank ist oder weil sie die eigene | |
| Identität und Lebensweise nicht anerkennen will. | |
| ## Orte gegen den Zwang der Familie | |
| Doch zum Glück gibt es linke Strukturen, die auch an den dunkelsten Tagen | |
| des Jahres den Gedanken der selbstbestimmten Solidarität hochhalten. Auf | |
| der [1][Antifamilia Shitmas Gala] im Friedrichshainer Hausprojekt | |
| Schreina47 (Schreinerstr. 47) gibt es an Heiligabend ab 18 Uhr einen großen | |
| (Mitbring-)Festschmaus. Ab 19 Uhr startet ein Shitmas-Varieté mit | |
| Bescherung, Gedichten, Liedern und Spielen, ab 22 Uhr geht es auf den | |
| Dancefloor mit gepflegter Trash- und Trap-Eskalation. Und weil die | |
| Solidarität der Antifamilia tatsächlich ernst gemeint ist, gehen die | |
| Einnahmen an Opfer rechter Gewalt. | |
| Auch am Stadtrand gibt es Angebote: Das Hellersdorfer Hausprojekt La Casa | |
| (Wurzener Str. 6) organisiert einen [2][Anti-Xmas-Tresen], der um 20 Uhr | |
| losgeht. Zurück in Friedrichshain gibt es im Zielona Góra am Boxhagener | |
| Platz eine [3][gemeinschaftliche Volksküche] (Grünbergerstr. 73, ab 14 | |
| Uhr). Und in der Tristeza in Neukölln ist ein [4][stinknormaler | |
| Kneipenabend] (Pannierstr. 5, ab 20 Uhr). | |
| Auch an den Folgetagen bieten Hausprojekte und Jugendclubs Unterstützung | |
| an. In der Rigaer Straße 78 gibt es am ersten Weihnachtstag das | |
| [5][Feiertagsjammer-Konzert] im Abstand, eine Soliparty für ein | |
| klandestines Hausprojekt im Kiez (ab 20 Uhr). Und wer danach immer noch | |
| Erinnerungen zu verdrängen hat, dem wird bei der zweitägigen | |
| [6][„Weihnachten Vergessen“-Konzertreihe] im Café Köpenick | |
| (Seelenbinderstr. 8) geholfen. Da spielen am 26. und 27. Dezember ab 19 Uhr | |
| Punkrockbands. Sie beweisen damit, dass es auch an Weihnachten nicht nur | |
| kaputte Familie und Einsamkeit gibt – sondern auch Orte, an denen sich für | |
| freie Solidarität entschieden werden kann. | |
| 22 Dec 2025 | |
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| [2] https://stressfaktor.squat.net/node/310231 | |
| [3] https://stressfaktor.squat.net/node/323387 | |
| [4] https://stressfaktor.squat.net/node/323083 | |
| [5] https://stressfaktor.squat.net/node/323281 | |
| [6] https://stressfaktor.squat.net/node/322818 | |
| ## AUTOREN | |
| Timm Kühn | |
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