| # taz.de -- Deutsche Erinnerungskultur im Wandel: Im Dialog dekolonisieren | |
| > Die Bedeutung postkolonialer Kritik wächst. Das ermöglicht und erfordert | |
| > eine kritische Weiterentwicklung der deutschen Erinnerungskultur. | |
| Bild: Die deutsche Kolonialherrschaft und damit verbundene Verbrechen müssen k… | |
| Ob und wie in postkolonialen Debatten israelbezogener Antisemitismus | |
| auszumachen ist, wurde in den vergangenen Wochen kontrovers diskutiert. | |
| Dass diese Debatte jetzt breit geführt wird, liegt auch an der zunehmenden | |
| Bedeutung postkolonialer Kritik. Wurde die Aufarbeitung unseres kolonialen | |
| Erbes über Jahrzehnte verdrängt, hat [1][die Restitutionsdebatte] in den | |
| vergangenen Jahren eine Tür geöffnet, durch die Stimmen postkolonialer | |
| Theoretiker*innen und Aktivist*innen vermehrt gehört werden. Das ist auch | |
| dem beständigen Engagement postkolonialer Initiativen zu verdanken, ohne | |
| welches das Bekenntnis zur „Aufarbeitung des Kolonialismus“ wohl kaum | |
| Eingang in den aktuellen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD gefunden | |
| hätte. | |
| Entgegen den Verlautbarungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist die | |
| Debatte über das [2][Humboldt Forum] und die Rückgabe von Kultur- und | |
| Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu Recht nicht bei einer | |
| „Sommerloch-Debatte“ geblieben. So hat der Restitutionsbericht von | |
| Bénédicte Savoy und Felwine Sarr – eigentlich eine Handlungsempfehlung für | |
| den französischen Staatspräsidenten – auch in Deutschland hohe Wellen | |
| geschlagen. | |
| Diese zunehmende Bedeutung des Postkolonialismus ermöglicht und erfordert | |
| eine Weiterentwicklung unserer Erinnerungskultur. Erinnerungskultur ist | |
| genuin dynamisch, sind die ihr zugrundeliegenden Narrative doch stets | |
| Gegenstand von Deutungskämpfen. Ein Wandel der Gesellschaft muss sich auch | |
| in einer Weiterentwicklung der [3][Erinnerungskultur] widerspiegeln. Gerade | |
| in einer Einwanderungsgesellschaft müssen wir der Frage nachgehen, wie aus | |
| vielen verschiedenen Perspektiven und Erzählungen ein gemeinsames Erinnern | |
| entstehen kann. | |
| ## Fortwirken kolonialer Machtverhältnisse | |
| Zweifelsohne muss die kritische Aufarbeitung der deutschen | |
| Kolonialherrschaft und der damit verbundenen Verbrechen eine bedeutendere | |
| Rolle einnehmen. Postkoloniale Asymmetrien können nur überwunden werden, | |
| wenn wir ein kritisches Bewusstsein über und einen Umgang mit unserem | |
| kolonialen Erbe schaffen. Demut und die Abgabe von Deutungshoheit der | |
| eurozentristischen Sicht sind dabei elementar. | |
| Bei der fortgesetzten Suchbewegung nach einer angemessenen | |
| Erinnerungskultur ist das Sich-selbst-Hinterfragen ebenso elementar, wie | |
| Widerspruch konstruktiv aufzunehmen. Dekolonisierung kann nur im Dialog | |
| entstehen. Zu Recht weisen die Vertreter*innen des Postkolonialismus auf | |
| das Fortwirken kolonialer Machtverhältnisse in der Gegenwart hin; darauf, | |
| dass durch Kolonialismus und Imperialismus verfestigte Strukturen bis heute | |
| wirkmächtig sind. | |
| Der aktuell kritisierte Philosoph [4][Achille Mbembe] hat eindrücklich | |
| gezeigt, dass der Kapitalismus der Gegenwart und der Kolonialrassismus – | |
| also der durch das koloniale Projekt hervorgebrachte und dieses System | |
| gleichzeitig stützende Rassismus, der sich gegen People of Color richtet | |
| und sich nicht zuletzt in der rassistischen Polizeigewalt zum Beispiel in | |
| den USA äußert – aufs Engste miteinander verbunden sind. Die nun geäußerte | |
| Kritik bezieht sich aber eben nicht auf diese Erkenntnis. Vielmehr steht | |
| dabei der antisemitische Antizionismus innerhalb des postkolonialen | |
| Diskurses im Vordergrund, der sich unter anderem durch die Unterstützung | |
| der BDS-Bewegung äußert. | |
| Die Verdienste des postkolonialen Diskurses werden in keiner Weise | |
| geschmälert, wenn wir festhalten: Die kritische Aufarbeitung des kolonialen | |
| Erbes und die Überwindung von Kolonialitäten brauchen nicht den Rekurs auf | |
| Israel. Die wiederkehrenden polemischen Versuche, Israel als | |
| „Siedlerkolonie“ oder „rassistischen Apartheidstaat“ zu delegitimieren … | |
| zu dämonisieren, sind historisch falsch und ihnen muss aufs Schärfste | |
| widersprochen werden. | |
| Der Staat Israel wurde 1948 als Refugium einer ethnisch-religiösen Gruppe | |
| gegründet, die in Europa über Jahrhunderte unterdrückt, verfolgt und | |
| während der Schoah industriell vernichtet wurde. Lange gab es die jüdische | |
| Präsenz in Palästina; „Eretz Israel“ ist die uralte Heimstätte der | |
| Jüd*innen, aus der sie mehrfach vertrieben wurden. Ein „arabisches Land | |
| Palästina“ gab es nicht. Durch die Gleichsetzung werden reale | |
| Siedlerkolonien von Kolonialmächten relativiert, wie sie etwa in Namibia | |
| („Deutsch-Südwestafrika“) und Südafrika aufgebaut wurden und dort das Ziel | |
| der Unterwerfung und Ausbeutung der lokalen Bevölkerung verfolgten. | |
| Der „Apartheidstaat“-Vorwurf ist ebenso unhaltbar, verkennt er doch, dass | |
| Israel ein Rechtssaat ist, in dem jüdische wie nicht-jüdische | |
| Staatsbürger*innen die gleichen Bürger*innenrechte haben. Durch die | |
| Gleichsetzung wird auch hier ein über Jahrzehnte dauerndes rassistisches | |
| System in Südafrika relativiert, das auf ungleichen Rechten und | |
| diskriminierenden Gesetzen beruhte. Die Gleichsetzung der Staatsgründung | |
| Israels mit einem „kolonialen Projekt“ wird beiden Phänomenen nicht | |
| gerecht, sie ist gefährliche Geschichtsklitterung. | |
| Inwieweit sich Postcolonial Studies und Antisemitismusforschung zukünftig | |
| produktiv aufeinander beziehen werden, ist im Moment noch nicht abzusehen. | |
| Eine zunehmende Wachsamkeit gegenüber strukturellem Antisemitismus wird die | |
| Bedeutung postkolonialer Kritik stärken. Wünschenswert ist ein vertiefter | |
| interdisziplinärer und öffentlicher Austausch allemal, weil so auch im | |
| politischen Raum ein notwendiger Selbstreflexionsprozess im Hinblick auf | |
| unsere Erinnerungskultur entstehen könnte. Gemeinsames Anliegen aller | |
| Beteiligten sollte es dabei sein, grundsätzlich Antisemitismus keinen Raum | |
| zu geben – weder israelbezogen noch sonst. Dieser Grundsatz stellt für mich | |
| eine wesentliche Prämisse, eine normative Orientierung der | |
| Erinnerungskultur dar, für die ich streite. | |
| 9 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kirsten Kappert-Gonther | |
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| Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
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