# taz.de -- Das Erbe des Kolonialismus: Das Ende weißer Immunität | |
> Koloniale Täterschaft verliert den Schutz eines geschichtspolitischen | |
> Binnenraums. Zeit für Reparationen und einen neuen Internationalismus. | |
Bild: Flog ins Bristoler Hafenbecken: das Denkmal des Sklavenhändlers Edward C… | |
Als in Bristol [1][die Statue von Edward Colston] gestürzt wurde, begann | |
eine neue Ära. Nicht weil es der erste Akt dieser Art gewesen wäre, sondern | |
weil die Figur selbst, der Sklavenhändler als Philanthrop, ein so | |
hochverdichtetes Sinnbild darstellt, dass sich der Verstand daran wieder | |
und wieder abarbeiten kann. Und weil natürlich der Sturz ins Hafenbecken, | |
den ich zunächst roh und abstoßend fand, unvergesslich wird, sobald man | |
verstanden hat, dass er nur die eigentliche Rohheit nachspielte. Colstons | |
Royal African Company warf von ihren Schiffen Körper wie Abfall ins Meer. | |
Der Brite symbolisiert auf besonders drastische Weise eine | |
Doppelgesichtigkeit, wie sie zahllosen europäischen Figuren auf | |
Denkmalsockeln eigen ist: Wohltäter aus Sicht der jeweiligen Metropole, | |
Übeltäter aus Sicht eines anderen Teils der Welt. Der Hafensturz hat diese | |
Aufteilung rabiat außer Kraft gesetzt: Hier ist dort, es gibt kein Drinnen | |
& Draußen mehr, keinen geschützten Binnenraum für eine separate weiße | |
Geschichtsbetrachtung und für eine [2][ungestörte Verschleierung von | |
Täterschaft]. | |
Wie jäh nun eine fühlbare, erlebbare Globalität aufkommt, das hat einiges | |
mit der Pandemie zu tun. Die Erfahrung sozialen Ausgeschlossenseins in der | |
Krise verlieh den allerersten George-Floyd-Protesten jene Wucht, die sich | |
dann von Schauplatz zu Schauplatz übertrug, bis hinein in jenen besser | |
gestellten Teil der Weltgesellschaft, wo der Schock der | |
Mobilitätsbegrenzung ein neues Nachdenken über den eigenen Ort im Drinnen & | |
Draußen ausgelöst hatte. | |
Nicht dass jemand das alles eindeutig erklären könnte, dieses bizarre | |
Zusammenwirken von Faktoren. Aber so funktioniert Globalgeschichte. Und | |
während die Idee einer postkolonialen Globalisierung soeben noch etwas eher | |
Künftiges zu bezeichnen schien, ist daraus unter der Hand Gegenwart | |
geworden. | |
## Schuld und Verantwortung | |
Dass es kein Drinnen & Draußen mehr gibt, war bereits die Lehre aus der | |
Debatte um Achille Mbembe: Deutsche müssen damit umgehen lernen, dass es im | |
globalen Süden eine andere Sicht auf die Schoah (und somit auch auf Israel) | |
gibt. Nun werfen die Denkmalstürze die Frage nach historischer Täterschaft | |
und heutiger Verantwortlichkeit von einer anderen Seite her auf. | |
Sie markieren ein Ende weißer Immunität – und der Begriff sei verstanden in | |
seinem doppelten Sinn: als Schutz vor Strafverfolgung und als ein | |
organisches Gefeitsein gegen Angriffe. Beides schmilzt für Europäer dahin: | |
Sie leben nicht mehr unter dem Schutzschirm einer Weltordnung, die ihnen so | |
lange alle Forderungen nach Rechenschaft vom Halse hielt. Und ihre | |
psychische Struktur, ihr Selbstbild, ist nicht mehr ausreichend geimpft | |
gegen Verunsicherung. Letzteres gilt gewiss nicht für alle, aber zum Glück | |
doch für eine wachsende Zahl. | |
Was die Haltung zu Kolonialverbrechen betrifft, so befanden wir uns bis | |
gestern in einer Phase, die den 50er und 60er Jahren in Bezug auf die | |
Schoah ähnelt: keine Täter, keine kollektive Verantwortung; ausweichen, | |
verharmlosen. Wie mit Schuld und Verantwortung aus zwei historischen | |
Epochen umgegangen wird, das darf durchaus verglichen werden. Wäre es nicht | |
wünschenswert, aus den großen Versäumnissen im Umgang mit NS-Tätern zu | |
lernen für den Blick auf koloniale Verbrechen? | |
Derzeit steht in Hamburg ein einstiger SS-Wachmann des KZ Stuthof vor | |
Gericht; die Anklage wirft dem damals 17-Jährigen Beihilfe zum Mord in mehr | |
als 5.000 Fällen vor. Anders als in früheren Jahrzehnten gilt nun der | |
Grundsatz: Wer im Vernichtungsapparat mitwirkte, war schuldig. | |
Wie aber wird für die koloniale Epoche Täterschaft definiert? Gern wird nun | |
auf die „Ambivalenz“ historischer Gestalten verwiesen. Bismarck sei kein | |
Befürworter von Kolonialpolitik gewesen, obwohl auf der Urkunde von der | |
Aufteilung Afrikas ganz oben, steil und schnörkellos, seine Unterschrift | |
steht, mit reichlich rotem Siegellack beschwert. | |
## Kein Schutz vor Verstörung | |
Ambivalenz ist die vornehmere Vokabel für jene Doppelgesichtigkeit, wie sie | |
in derbster Weise Leopold II. verkörpert, der Baumeister Brüssels – für | |
Belgien die beste Zeit, für den Kongo die schlimmste. Manche entsetzt die | |
Vorstellung, dem steinernen Leopold werde performativ eine Hand | |
abgeschlagen, mehr als die Tatsache, dass dies Tausenden von Kindern | |
widerfuhr, weil sie nicht genug Kautschuk im Korb hatten. Aber es hilft | |
nicht, sich abzuwenden. | |
Das Ende weißer Immunität bedeutet, dass es keinen Schutz mehr vor der | |
Verstörung gibt. Weiße sind genötigt, in einen Abgrund zu blicken, wo sie | |
Folter, Kastration und das Herausreißen von Eingeweiden sehen, sie sehen | |
dabei Deutsche, Niederländer, Franzosen, Italiener, Briten, es werden immer | |
mehr, die jetzt ins Blickfeld rücken, gerade betreten die bodenständigen | |
Schweizer als Sklavenhändler die Bühne. | |
Wenn es kein Drinnen & Draußen mehr gibt, keinen abgeschirmten Binnenraum | |
für Geschichtspolitik, dann ist auch eine andere Grenze verweht: die | |
zeitliche. Wie lange ein Unrecht zurückliegt, hat an Relevanz verloren, | |
denn es gilt nun das Prinzip: [3][Kein Unrecht ist vergangen], solange es | |
nicht von seinen Verursachern anerkannt wird. Diese Anerkenntnis wird mehr | |
sein müssen als die windigen Entschuldigungen, die britische Institutionen | |
gerade in Serie verfassen: weil sie ihre Entstehung erst den Profiten aus | |
Sklavenhandel verdankten und später, an dessen Ende, der staatlichen | |
Entschädigung der Händler. | |
Die Täter zu entschädigen statt die Opfer ist ein unerträglicher Gedanke; | |
wie lange wurde er dennoch ertragen! Eine globale Bewegung für Reparationen | |
werde die größte Gerechtigkeitsbewegung des 21. Jahrhunderts, heißt es | |
heute in den karibischen Staaten. Dies zu unterstützen, daran muss | |
europäischer Antirassismus seine Ernsthaftigkeit beweisen. Gibt es dazu die | |
Kraft? Es wäre nichts weniger als ein neuer Internationalismus. | |
24 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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