| # taz.de -- Verschwundene in Franco-Diktatur: „Die Diktatur ist noch immer im… | |
| > Lange nach Francos Tod liegen noch 100.000 unidentifizierte Verschwundene | |
| > in Massengräbern. Die Spuren der Diktatur bleiben sichtbar, sagt der | |
| > Journalist Emilio Silva. | |
| Bild: Emilio Silva bei einer Ausgrabung der ARMH in einem ehemaligen Massengrab… | |
| taz: Herr Silva, [1][am Donnerstag jährt sich zum 50. Mal der Todestag des | |
| Diktators Francisco Franco]. Vor etwas mehr als 25 Jahren öffneten Sie das | |
| Massengrab, in dem Ihr Großvater zusammen mit anderen Opfern der Faschisten | |
| verscharrt waren. Was hat sich seitdem verändert? | |
| Emilio Silva: Heute gibt es eine öffentliche Debatte über die | |
| Vergangenheit, die es so vor 25 Jahren nicht gab. Bis zum Jahr 2000 waren | |
| die Verschwundenen aus den Jahren des Bürgerkrieges und der Diktatur | |
| niemals Thema im Parlament. Gleichzeitig gab es Kommissionen, die sich mit | |
| den Diktaturen Lateinamerikas und den dort verschwundenen Spaniern | |
| beschäftigten. Das Land und seine Politiker schauten nach draußen. Unsere | |
| Ausgrabung und alle, die folgten, erreichten, dass Spanien auch nach innen, | |
| auf sich selbst schaute. | |
| taz: [2][Es geht um mehr als 100.000 Opfer der Repression, die nach der | |
| Ausgrabung von 17.000 Menschen größtenteils noch immer irgendwo in | |
| Massengräbern liegen]. Dank der Debatte ist es heute üblich, von ihnen als | |
| den Verschwundenen zu reden. | |
| Silva: Zu Anfang erschien das vielen Journalisten und Kolumnisten | |
| unangebracht. Für sie war das auf Lateinamerika anwendbar, aber nicht auf | |
| Spanien. Als wären die Faschisten in Europa, die entführten, [3][folterten] | |
| und mordeten und dann die Leichen verschwinden ließen, etwas anderes. Als | |
| würden solche Barbareien nur die Ex-Kolonien begehen, aber nicht wir hier. | |
| Heute bestreitet niemand mehr den Ausdruck „Verschwundene“ für die hiesigen | |
| Opfer. | |
| taz: Es war Ihr Artikel mit dem Titel „Mein Großvater ist auch ein | |
| Verschwundener“, der dies vor 25 Jahren bewirkte. | |
| Silva: Es störte viele, dass ich ihn geschrieben hatte. Wenn jemand nicht | |
| über das reden will, was geschehen ist, dann ist es oft so, dass er sich an | |
| den Worten stört. Im November 2000, einen Monat nachdem ich meinen | |
| Großvater ausgegraben hatte, erschien eine Beilage in der größten | |
| spanischen Tageszeitung, El País, zum 25. Todestag Francos mit dem Titel | |
| „Jene weit zurückliegende Diktatur“. Das sagt viel darüber, wie damals die | |
| Stimmung war. | |
| taz: Damals vielleicht nicht, aber inzwischen ist es doch eine weit | |
| zurückliegende Diktatur. Oder? | |
| Silva: Ganz und gar nicht. Wer zur Universität geht, kommt immer noch an | |
| einem riesigen [4][Triumphbogen vorbei, der den Sieg der Franco-Truppen im | |
| Bürgerkrieg feiert]. Es gibt immer noch Straßen, die nach Faschisten | |
| benannt sind, und noch immer über 100.000 Verschwundene, deren sterbliche | |
| Überreste nicht geborgen wurden. | |
| Die Diktatur ist immer noch im Alltag. Ein Beispiel: Ich war in einem | |
| Städtchen, Manzanares, Ciudad Real, das stolz ein Museum eröffnet, das dem | |
| historischen Erinnern gewidmet ist. Zu meiner Überraschung stellte ich | |
| fest: Es gibt dort nach wie vor franquistische Tafeln an Gebäuden und | |
| faschistische Straßennamen. | |
| taz: Verstößt das nicht gegen das Gesetz? | |
| Silva: Ja, solche Symbole und Straßennamen sind laut Gesetz des | |
| Demokratischen Erinnerns von 2022 verboten und müssen entfernt werden. In | |
| diesem Fall sind die kommunalen als auch die regionalen Verantwortlichen | |
| von der Sozialistischen Partei zuständig. Sie müssten über das Gesetz | |
| wachen und nicht wir, die Angehörigenorganisationen. | |
| taz: Und das an einem Ort, der künftig eines der wenigen Museen der | |
| Erinnerung haben wird? | |
| Silva: Wir leben in einer Zeit, in der die Regierung die Opfer der Diktatur | |
| ehrt und gleichzeitig faschistische Denkmäler stehen lässt. Das sind | |
| Denkmäler, die den Schmerz der Opfer feiern. Der Triumphbogen in Madrid | |
| feiert den Verlust von Familien wie die meinige als Sieg, der für Spanien | |
| notwendig war. Dieses Monument stand dort die letzten 16 Jahre der Diktatur | |
| und mittlerweile 50 Jahre in Demokratie, wenige hundert Meter vom Sitz | |
| aller Regierungschefs von 1977 bis heute. Alle Minister und Ministerinnen | |
| kommen mehrmals in der Woche daran vorbei. Und keiner hat was unternommen. | |
| taz: Wie ist das zu erklären? | |
| Silva: Mit einer politischen Kultur, die noch immer nicht wahrhaben will, | |
| dass der Antifaschismus Teil der demokratischen Kultur ist. | |
| taz: Warum? | |
| Silva: Antifaschismus wird als radikale, gefährliche Ideologie gesehen. | |
| Diese politische Kultur kommt nicht von ungefähr und es gibt Kräfte, die | |
| ein Interesse daran haben, dass sie so bleibt. In Spanien waren es die | |
| Eliten, die den Übergang zur Demokratie bestimmten. Dabei bedeutet Demokrat | |
| zu sein, Antifaschist zu sein. | |
| taz: Hat dieses Schweigen, dieses Vergessen, dieses Wegschauen dafür | |
| gesorgt, dass der Franquismus in der Gesellschaft weiterlebt? | |
| Silva: Wir alle in diesem Land sind soziologisch ein wenig franquistisch. | |
| Sonst würden wir es nicht ertragen, mit Denkmälern wie jenem Triumphbogen | |
| zu leben, oder mit Tausenden von Straßen, die faschistische Namen tragen. | |
| Wir alle tragen den Schaden in uns, den 40 Jahre Diktatur hinterlassen | |
| haben. Und den Schaden eines Übergangs zur Demokratie, der die Möglichkeit | |
| zugelassen hat, mit öffentlichen Geldern die Franco-Stiftung zu | |
| subventionieren und sich gleichzeitig als demokratisch zu bezeichnen. | |
| taz: Wen meinen Sie damit? | |
| Silva: Nicht nur die spanische Rechte, wie viele jetzt antworten würden, | |
| sondern auch ihre Weggefährten im Parlament, die das toleriert haben. Diese | |
| Kultur war dort über Jahrzehnte präsent. Als das Bildungsministerium des | |
| konservativen Ministerpräsidenten von der Partido Popular, José María | |
| Aznar, Gelder an die Franco-Stiftung vergab, hätte es einen Aufschrei im | |
| Parlament geben müssen. Doch der blieb aus. | |
| taz: Aber jetzt gibt es bereits das zweite Gesetz des Erinnerns und [5][die | |
| Franco-Stiftung könnte bald verboten werden]. | |
| Silva: Ja, doch bis heute gab es keine einzige Parlamentsdebatte über die | |
| Verschwundenen. Unter den permanenten Parlamentskommissionen gibt es keine | |
| für Menschenrechte, die einzige Regierungsinstitution für Menschenrechte | |
| untersteht dem Außenministerium. Als gäbe es in unserem Land keine | |
| Probleme. Und in keinem der beiden Gesetze des Erinnerns von 2007 oder 2022 | |
| wird die katholische Kirche und ihre Unterstützung des Franquismus erwähnt. | |
| Diese politische Architektur hat jahrzehntelang ein Modell geschaffen, das | |
| die Konsequenzen der Diktatur toleriert. | |
| taz: Was mich immer wieder überrascht, sind die Ausgrabungen von | |
| Massengräbern. Wie kann es sein, dass sterbliche, menschliche Überreste | |
| gefunden werden und kein Richter auftaucht, die Polizei nicht tätig wird? | |
| Silva: Vor Jahren legten wir eine Beschwerde bei der Gerichtsverwaltung | |
| ein, mit 45 Anzeigen, die wir bei Polizei und Gericht eingereicht hatten. | |
| Darin informierten wir die Behörden über das Auffinden sterblicher | |
| menschlicher Überreste mit klaren Spuren von Gewalt. Als kein Richter | |
| auftauchte, sagte der Vorsitzende des spanischen Obersten Gerichtsrates: | |
| Sie kamen nicht, weil sie die Gesetze so interpretiert haben. | |
| taz: Aber verpflichten die Gesetze die Richter nicht, vor Ort zu sein und | |
| Tatbestände aufzunehmen? | |
| Silva: Eigentlich schon, sie müssten dort auftauchen. Anschließend können | |
| sie interpretieren, wie sie mit den Informationen umgehen. Immer wieder | |
| stoßen wir auch auf Richter, die versuchen, die Ausgrabungen zu verhindern. | |
| taz: Es geht um weit über 100.000 Verschwundene, das scheint ganz klar ein | |
| Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sein. Fand eine gerichtliche | |
| Aufarbeitung der Diktatur statt? | |
| Silva: In den 50 Jahre, die seit der Diktatur vergangen sind, wurde kein | |
| einziger der Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen vor Gericht | |
| gestellt. Unmittelbar nach den ersten Wahlen nach dem Tod des Diktators | |
| erließ das Parlament eine Amnestie, sowohl für die Verfolgten der Diktatur | |
| als auch für die Täter. Es war also eine Selbstamnestierung derer, die | |
| Verbrechen gegen die Menschenrechte begangen hatten. | |
| Keine Regierung hat dieses Amnestiegesetz annulliert. Wir haben immer | |
| wieder Anzeige erstattet, wenn wir ein Massengrab fanden, vergebens. Die | |
| Opfer, die wir ausgegraben haben, sind alle Zivilisten, die abgeführt und | |
| hingerichtet wurden, weil sie Demokraten, Linke, Gewerkschafter waren. | |
| taz: Dürften solche Verbrechen überhaupt verjähren oder amnestiert werden? | |
| Silva: Nein, eigentlich nicht. Im Jahr 2010 suchten deshalb 16 Familien ein | |
| Gericht außerhalb Spaniens, in Buenos Aires in Argentinien. Sie beriefen | |
| sich auf das universelle internationale Recht. Das Verfahren ist noch nicht | |
| abgeschlossen, aber es ist das Einzige, das es jemals gegen den Franquismus | |
| gab. Die argentinische Justiz beruft sich auf die gleichen | |
| Rechtsgrundlagen, mit denen spanische Gerichte den chilenischen Diktator | |
| Augusto Pinochet verfolgten und von London die Auslieferung forderten. | |
| Spanien tut alles, damit dieses Verfahren behindert wird. Die gleiche | |
| spanische Justiz, die gegen Pinochet vorging, hat in den letzten 15 Jahren | |
| kein einziges Mal mit den argentinischen Ermittlungen kooperiert. | |
| taz: Was ist das Beste, das in den 25 Jahren seit der ersten Ausgrabung | |
| passiert ist? | |
| Silva: All die Familien, denen wir helfen konnten, die Ihrigen zu finden | |
| und zu identifizieren. Und endgültig Sicherheit darüber zu haben, was mit | |
| ihnen geschehen war. | |
| taz: Und das Schlechteste? | |
| Silva: Nicht die gesellschaftliche Kraft gehabt zu haben – und ich glaube, | |
| dass das viel mit Angst zu tun hat –, um genügend politischen Druck | |
| aufzubauen für eine wirkliche Wiedergutmachung für die Opfer, und | |
| Gerechtigkeit für sie zu erreichen – und dass der Gesellschaft die Wahrheit | |
| darüber erzählt wird, was den Opfern widerfuhr und was die Henker | |
| anrichteten. | |
| 20 Nov 2025 | |
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| [2] https://www.spiegel.de/geschichte/spaniens-umgang-mit-der-franco-diktatur-e… | |
| [3] /Gedenken-an-spanischen-Faschismus/!6066397 | |
| [4] https://www.woz.ch/1333/kampf-ums-spanische-geschichtsbild/triumphbogen-gut… | |
| [5] /Erinnerungskultur-in-Spanien/!6095398 | |
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| Reiner Wandler | |
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