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# taz.de -- Justiz in Syrien: In Aleppo beginnt ein historischer Prozess
> Es ist der erste Prozess gegen Gewalttäter der Massaker an Alawiten im
> März. Auf der Anklagebank sitzen auch Soldaten der Übergangsregierung.
Bild: Sicherheitskräfte vor dem Justizpalast im syrischen Aleppo
taz | Es ist die schwarze, rechteckige Box in der linken Ecke neben der
Richterbank, auf der am Dienstagmorgen die Blicke der rund 100
Zuschauer:innen im Justizpalast von [1][Aleppo] ruhen. „Name des Vaters?
Der Mutter? Wann geboren?“, fragt Richter Zakaria Bakkar nacheinander ins
Mikrofon und in Richtung der Box. Die Worte der sich darin befindenden
Angeklagten sind hingegen nur schwer zu verstehen, ihre Gesichter durch die
Gittertür nicht zu erkennen. Mehrere Dutzend Sicherheitskräfte bewachten
den bis zum letzten Platz gefüllten Raum.
Insgesamt 14 Männern sind heute angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, während
der [2][Gewaltexzesse im März] in der [3][alawitisch geprägten
Küstenregion] mit mindestens 1.400 Toten schwere Straftaten begangen zu
haben. Die eine Hälfte der beiden getrennt voneinander befragten Gruppen
soll sich als Anhänger des im Dezember gestürzten Assad-Regimes bewaffnet
gegen die Übergangsregierung von Ahmad al-Scharaa und ihre
Sicherheitskräfte aufgelehnt haben. Die andere Hälfte steht vor Gericht,
weil sie als Teil des neuen Sicherheitsapparats bei der Niederschlagung des
Aufstands Zivilist:innen getötet haben soll. Diebstahl, Aufstachelung
zu konfessioneller Gewalt und Mord lauten einige der Anklagepunkte.
Für Syrien ist es ein historischer Prozess: Fast ein Jahr nach Ende der
[4][jahrzehntelangen Diktatur der Assad-Familie] soll im Gerichtssaal
demonstriert werden, dass Recht und Rechenschaft jetzt für alle Menschen im
Land gelten. Einerseits in Richtung der Bevölkerung, bei der nach mehreren
Massakern an Minderheiten in den vergangenen Monaten Zweifel über eine
friedliche Zukunft für alle im Land aufgekommen sind. Und andererseits in
Richtung der Welt, die trotzdem beim Wiederaufbau Syriens und der
Reintegration in die internationale Staatengemeinschaft helfen soll.
Die 14 vornehmlich jungen Männer sollen dabei nur der Anfang sein. Allein
mit Blick auf die Gewalt an der Küste wird laut syrischer Justiz aktuell
gegen 560 Menschen ermittelt. Nach den Massakern hatte die
Übergangsregierung eine unabhängige Kommission einberufen. Diese erklärte
in ihrem Bericht vom Juli, dass die Militärführung keine systematische
Gewalt gegen Alawit:innen – zu denen auch die Assad-Familie gehört –
angeordnet habe. Eine im September veröffentlichte Untersuchung von Human
Rights Watch konnte den Befehlsablauf nicht klären, kam aber zu dem
Ergebnis, dass Exekutionen und andere Gräuel an Zivilist:innen von
Teilen der Damaskus unterstehenden Sicherheitskräfte weit verbreitet waren.
## „Du bist klar zu erkennen“, entgegnete der Richter
Befehlsketten standen an diesem ersten Prozesstag in Aleppo nicht im Fokus,
unter den Angeklagten befinden sich bislang auch keine hohen Kommandeure.
Lediglich bei den mutmaßlichen Assad-Anhängern fragte Richter Bakkar nach
Anweisungen – aus Israel, [5][Russland] oder Irak vielleicht? Ja, erklärte
einer der Befragten, er habe Fahrzeuge des Militärs gestohlen, sich aber
nicht an den Kämpfen beteiligt.
Im Zentrum der Befragung der Sicherheitskräfte standen Videoaufnahmen, die
die Angeklagten teils selbst aufgenommen haben sollen. Laut der
Beschreibung des Richters soll darin zu sehen sein, wie einzelne Angeklagte
auf Zivilist:innen einschlagen. Auch von Leichen war die Rede.
„Das bin nicht ich, die Bilder wurden mit künstlicher Intelligenz
erstellt“, erklärte einer der Männer. „Du bist klar zu erkennen“,
entgegnete der Richter. Doch der Angeklagte blieb dabei. Ein Zweiter sagte,
die Menschen in einem der als Beweis angeführten Videos seien nur als
Zivilist:innen gekleidet, in Wahrheit aber bewaffnet gewesen. „Ich bin
nicht in die Küstenregion gereist, um Menschen zu töten, ich wollte sie
schützen“, beteuerte ein Dritter: „Niemand, der die vergangenen 14 Jahre
miterlebt hat, will das wiederholen.“
Während in einer Pause die beiden Gruppen in der Box wechselten, liefen
einigen Angehörigen der Angeklagten beim Anblick der Männer Tränen über das
Gesicht. Gefilmt oder fotografiert werden durften die miteinander durch
Handschellen verbundenen Beschuldigten nicht. Nach etwa drei Stunden
vertagte Richter Bakkar die weitere Anhörung. Für den Dezember sind die
nächsten Termine angesetzt – nach dem Jahrestag des Sturzes von Assad.
19 Nov 2025
## LINKS
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[3] /Lage-der-Alawiten-in-Syrien/!6059466
[4] /Ende-des-Assad-Regimes/!6051443
[5] /Unser-Fenster-nach-Russland/!t5916992
## AUTOREN
Anna-Theresa Bachmann
## TAGS
Syrischer Bürgerkrieg
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Aleppo
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Ahmed al-Scharaa
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