# taz.de -- Eroberung von Aleppo: Glückstränen und Zukunftsängste | |
> Syrische Rebellen haben die Millionenstadt Aleppo erobert. Das | |
> Assad-Regime ist auf dem Rückzug, auch seine Verbündeten halten still. | |
Bild: Machtkampf voll entbrannt: Syrische Rebellen zünden die Flagge der syris… | |
Männer fallen sich weinend in die Arme. Kämpfer reißen Plakate von Diktator | |
Assad nieder. Solche Videos teilen Menschen aus Aleppo am Wochenende. Die | |
Millionenstadt im Norden Syriens ist seit Freitagabend in den Händen von | |
Rebellen, die Truppen des Assad-Regimes sind geflohen. | |
„Es sind Tränen der Rückkehr nach vielen Jahren der Vertreibung und | |
Unterdrückung“, schreibt ein Mann am Freitag auf Instagram, der sich als | |
Aktivist bezeichnet. Gemeinsam mit bewaffneten Kämpfern steht er auf einem | |
Video vor der Zitadelle in der Altstadt, sagt: „Wir sind mitten in Aleppo“ | |
und die Männer singen: „Arabische Muslime haben unter dem iranischen Modell | |
gelitten.“ | |
Mit Giftgas, Fassbomben und Folter kämpft Syriens Machthaber Baschar | |
al-Assad seit 2011 gegen jegliche Opposition, unterstützt von Russland über | |
Iran bis zur libanesischen Hisbollah-Miliz. Über die Hälfte der Bevölkerung | |
des Landes ist geflohen, Hunderttausende wurden getötet, Zehntausende sind | |
verschwunden. Jahrelang wurde Ost-Aleppo vom Regime bombardiert und | |
ausgehungert. Die Oppositionellen wurden einst nach Idlib vertrieben. Nun | |
können sie wieder zurück. Häftlinge sind frei, Familien sehen sich nach | |
Jahren der Trennung wieder. | |
„In den Reihen der kriminellen Regimekräfte hat es einen weitgehenden | |
Zusammenbruch gegeben“ [1][erklärte die Kommandozentrale der Rebellen]. | |
„Unsere Kräfte haben Mut und Überlegenheit im Feld bewiesen.“ In einer | |
[2][politischen Erklärung] betonten sie, sie hätten nach „jahrelangen | |
Gräueltaten Assads und seiner verbündeten Milizen“ die Operation | |
„Aggression Zurückschlagen“ gestartet, „um Zivilisten zu schützen“. | |
## Jahre des Exils sind vorbei | |
Die Offensive, geführt von der in Idlib herrschenden Miliz HTS (Hayat | |
Tahrir al-Sham), wurde seit langem erwartet, aber Ausmaß und Wucht ihres | |
Erfolges hat alle überrascht. Sie begann am Mittwoch, 27. November, | |
[3][lokalen Berichten zufolge] als Reaktion auf einen Luftangriff auf eine | |
Schule im Dorf Ariha, bei dem 15 Kinder getötet oder verletzt wurden. Schon | |
nach wenigen Stunden meldeten die Rebellen die Einnahme einer der | |
wichtigsten Militärbasen der Regierungsarmee westlich von Aleppo, das | |
Hauptquartier der 46. Armeedivision, und die Tötung des höchstrangigen | |
iranischen Revolutionsgardekommandeurs in Syrien, General Kiyomarth | |
Porhashmi. | |
Danach gab es offenbar kaum noch Widerstand gegen den Vormarsch der | |
Rebellen. Sie eroberten immer mehr Dörfer und sollen am Donnerstagabend | |
bereits vor der Stadt Aleppo gestanden haben. Zugleich schnitten sie die | |
wichtige Autobahnverbindung ab, die Aleppo mit dem Rest des syrischen | |
Regimegebietes verbindet, und eroberten die strategisch wichtige Stadt | |
Sarakeb weiter südlich. In der Folge brachten Rebellenkolonnen ein | |
Stadtviertel nach dem anderen kampflos unter ihre Kontrolle. | |
Am Samstag ging der Vormarsch Richtung Osten und Süden weiter. | |
Rebellenkämpfer fuhren sogar kurz durch die Straßen der Stadt Hama auf dem | |
Weg Richtung Damaskus, bevor sie sich wieder zurückzogen und Stellung | |
nördlich der Stadt bezogen. | |
Südlich von Idlib, in Kafrnabel, filmten sich am Samstag zwei Männer, wie | |
sie schniefend auf den Boden fallen und die Erde küssen. „Gott ist groß, | |
Gott sei Dank!“, rufen sie. [4][Ein Video] zeigt einen Mann, der bei | |
Sonnenuntergang in sein zerstörtes Zuhause zurückkehrt – „Jahre nach dem | |
Exil“, wie es heißt. „Wir haben für diese Freude mit Jahren des Schmerzes | |
bezahlt“, schreibt der angehende Ingenieur dazu. | |
## Angst vor Beschuss – und den Rebellen | |
Dieser Syrer arbeitet bei der Initiative Molham, die zu Beginn des Krieges | |
von syrischen Studierenden gegründet wurde. Die Freiwilligen kümmern sich | |
um Essen, Unterkünfte und Medikamente für Bedürftige. Denn für die | |
Zivilisten bedeuten die Kämpfe erneutes Leid. | |
„Viele sind glücklich, weil sie ihre Mütter oder Brüder wiedersehen, die | |
sie dreizehn Jahre lang nicht gesehen haben“, sagt ein Zivilist aus der | |
Provinz Aleppo der taz am Telefon. „Die Mehrheit der Menschen ist | |
gestresst. Es gibt Menschen, die Angst haben, weil sie nicht wissen, was | |
die Zukunft bringen wird und wie sie aussehen wird. Die Angst ist groß, | |
dass Russland wieder voll in den Krieg eintritt und weiter Raketenangriffe | |
fliegt.“ Aleppo sei voller Menschen, „es gibt kaum Trinkwasser oder Brot | |
und es mangelt an Lebensmitteln“. Er hat sich auf den Weg nach Aleppo | |
gemacht, um Essen und Trinken zu verteilen. | |
„Die meisten Bäckereien sind geschlossen, Bürgerinitiativen und | |
Hilfsverbände aus Idlib und dem Umland versuchen, Brot für Aleppo zu | |
sichern“, beschreibt der Kanal [5][Aleppo Community] auf Instagram. Der | |
Bedarf an Brot für mehrere Millionen Menschen könne nur gedeckt werden, | |
wenn die Bäcker wieder arbeiten könnten. Weite Teile Aleppos seien aber von | |
Wasser abgeschnitten, weil es keinen Diesel für den Betrieb der | |
Wasserverteilstationen gebe. „In vielen Stadtvierteln ist der Strom | |
abgestellt, das Elektrizitätswerk liefert nicht genügend Strom, wegen | |
Betriebsstörungen und weil die Stromnetze unter Druck stehen und es an | |
Wartungspersonal fehlt.“ | |
„In der ganzen Stadt waren die im Krieg erstarkten Mafia-Strukturen und die | |
schlechte Versorgungslage seither ein Problem“, sagt zur Lage in Aleppo | |
Bente Scheller, Nahost-Referatsleiterin der Heinrich-Böll Stiftung. | |
„Gleichzeitig fürchten sich viele, gerade unter den Christen oder anderen | |
Minderheiten wie den Kurden, vor HTS als einer islamistischen Miliz. Ich | |
höre von einigen, die die Stadt entweder in Angst vor den Rebellen oder | |
schlicht einer weiteren militärischen Eskalation verlassen haben – | |
gleichzeitig aber auch eine Erleichterung von Menschen, die es als eine | |
Befreiung empfinden, die erstmals seit vielen Jahren wieder ihre | |
Familienangehörigen in die Arme schließen können.“ | |
## Russland macht sich rar | |
Syriens Regierung hat dem HTS-Vorstoß bisher kaum etwas entgegenzusetzen. | |
Armeeeinheiten zogen sich schnell weiträumig zurück, hinterließen dabei oft | |
gigantische Mengen von Militärgerät. Iran hält still. Auch die russische | |
Luftwaffe hat die Rebellenkolonnen nicht mit großflächigen Angriffen | |
aufgehalten; befürchtete massive Gegenschläge Russlands aus der Luft | |
beschränken sich auf zivile Ziele in Idlib und Aleppo. | |
In Moskau sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag, man habe die | |
syrische Regierung aufgefordert, die Ordnung wiederherzustellen – eine | |
elegante Art, auszudrücken, dass man selbst dafür nichts zu tun gedenkt. | |
Die russische Regierung zog ihre Soldaten auch aus der nordsyrischen | |
Luftwaffenbasis Tell Rifaat ab. Wer in Syriens Hauptstadt Damaskus | |
überhaupt noch die Macht hat, war am Wochenende zunehmend unklar. Syriens | |
Diktator Baschar al-Assad flog bereits am Mittwoch nach Moskau. | |
Das Machtvakuum ruft weitere Akteure auf den Plan. Am Freitag verkündeten | |
die pro-türkischen syrischen SNA-Rebellen im Norden des Landes, auch sie | |
würden jetzt zu den Waffen greifen. Ihr Hauptfeind ist bisher die syrische | |
Kurdenguerilla YPG, die Syriens Nordosten beherrscht, und die SNA soll im | |
Begriff sein, durch eigene Vorstöße nördlich von Aleppo eine Ausdehnung des | |
Kurdengebiets vereiteln zu wollen. Denn am Samstagmittag wurde gemeldet, | |
kurdische Einheiten seien nun ebenfalls Richtung Aleppo vorgerückt und | |
hätten den internationalen Flughafen besetzt. | |
Wie genau sich die Machtverhältnisse zwischen YPG, SNA und HTS rund um | |
Aleppo sortieren, dürfte in den nächsten Tagen die entscheidende Frage | |
werden. „Meine Leute haben Angst“, erklärte ein christlicher Pater aus | |
Aleppo dem katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“ (ACN) am Freitag. „Die | |
Kriegsgeräusche haben unsere Seelen wieder in Panik versetzt. Wann werden | |
wir in der Gewissheit schlafen können, dass morgen ein normaler Tag ist, an | |
dem unsere Kinder zur Schule gehen und unsere Älteren arbeiten?“ | |
1 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://x.com/Levant_24_/status/1862752401586868509 | |
[2] https://x.com/Levant_24_/status/1862509858496335889 | |
[3] https://x.com/KareemRifai/status/1862536804303249424 | |
[4] https://www.instagram.com/stories/ammar.antar/3512886431972885349/?utm_sour… | |
[5] https://www.instagram.com/p/DDCHBWZsU2d/?igsh=MWc0N3hzZ2d4dzFmZQ%3D%3D&… | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
Julia Neumann | |
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