| # taz.de -- Offensive in Syrien: Ist ein freies Syrien möglich? | |
| > Syrische Rebellen erobern eine Stadt nach der anderen. Befreite Orte | |
| > feiern und hoffen auf ein Ende des Assad-Regimes. | |
| Bild: Rebellen in Hama am 3. Dezember | |
| Was ist passiert? | |
| Am 30. November fiel Syriens zweitgrößte Stadt Aleppo mit zwei Millionen | |
| Einwohnern völlig überraschend an Rebellen – nur drei Tage nach Beginn der | |
| Offensive der in der Bergregion Idlib [1][dominanten Rebellenbewegung HTS | |
| (Hayat Tahrir al-Scham)]. Die Rebellen stießen daraufhin weit nach Süden | |
| vor und eroberten am 5. Dezember Syriens viertgrößte Stadt Hama – ein | |
| Symbol der Stärke Assads, seit ein Aufstand gegen die Diktatur dort 1982 | |
| blutig mit über 40.000 Toten niedergeschlagen wurde. Nun hat das Regime | |
| Hama aufgegeben, am Donnerstagabend gab es gigantische Freudenfeiern auf | |
| den Straßen. Das Ende des Assad-Regimes ist jetzt aus Sicht vieler Syrer | |
| unabwendbar. Am Freitag standen die Rebellen vor Homs, in Daraa im Süden | |
| brach ein Aufstand aus. | |
| War der Syrienkrieg nicht eigentlich vorbei? | |
| Das Regime von Diktator Baschar al-Assad in Damaskus schien bisher fest im | |
| Sattel zu sitzen. Es war 2011 unter Druck von Massenprotesten geraten, die | |
| angesichts brutaler Repression in einen Bürgerkrieg eskalierten. Mit | |
| Giftgas, Hungerblockaden und Massakern hatte Assads Armee, unterstützt von | |
| Iran, Russland sowie der Hisbollah aus Libanon, die Aufständischen brutal | |
| niedergekämpft, Hunderttausende Menschen wurden getötet. | |
| Ab 2017 war Syrien faktisch geteilt. Assad herrschte im zentralen Gürtel | |
| von Damaskus bis Aleppo und an die Mittelmeerküste. Die einzige von | |
| Anti-Assad-Rebellen noch gehaltene Provinzhauptstadt war Idlib. Alle | |
| verbliebenen Aufständischen anderswo wurden dorthin verfrachtet, auch 1,5 | |
| Millionen Zivilisten flohen dorthin. Die Türkei schützte das Gebiet, es | |
| wurde aber dennoch weiter bombardiert und verkleinert. Im Nordosten | |
| Syriens, jenseits des Euphrat, machte sich die dortige kurdische | |
| Mehrheitsbevölkerung unter Führung der YPG, syrischer Arm der PKK-Guerilla, | |
| selbstständig und rief ein autonomes „Rojava“ aus, geduldet vom | |
| Assad-Regime; die Kurden besiegten mit US-Hilfe in Syrien und Irak den | |
| „Islamischen Staat“ (IS). Die Türkei besetzte ihrerseits einen | |
| nordsyrischen Grenzstreifen und vertrieb aus diesem Gebiet Teile der | |
| kurdischen Bevölkerung. | |
| Wieso kollabiert jetzt das Assad-System so schnell? | |
| Das Assad-Regime in Damaskus war nach dem Krieg faktisch kein Staat mehr, | |
| sondern ein Mafiasystem. Funktionierende Institutionen gab es nicht, | |
| sondern nur das Militär, die Geheimdienste und den Assad-Familienclan, der | |
| Unternehmen und Behörden entweder direkt führte oder nach Gutdünken | |
| schröpfte. Wiederaufbau gab es nicht. Fast alle Güter des täglichen Bedarfs | |
| sind rationiert, ihr Bezug hängt von der Willkür des Regimes ab. Statt | |
| produktiver Wirtschaft blüht der Drogenhandel. So wahrte der Assad-Clan | |
| vordergründig die totale Kontrolle über ein Rumpfsyrien, in dem nichts mehr | |
| funktionierte. In den letzten Jahren hat es wieder neue Proteste gegeben, | |
| außerdem neue Anschläge eines erstarkenden „Islamischen Staats“ (IS). | |
| Als die HTS-Rebellen zur Großoffensive schritten, [2][stellte sich dem | |
| niemand entgegen]. Manche Regierungssoldaten wussten offenbar frühzeitig | |
| Bescheid; sie waren in Richtung Süden und Mittelmeerküste abbeordert | |
| worden. „Die Einheiten der 4. Division von Assads Armee in Damaskus wurden | |
| auch fünf Tage nach Beginn des Falls von Aleppo nicht mobilisiert“, | |
| berichtet ein syrischer Analyst. „Daher deutet vieles auf eine Art | |
| stillschweigendes Abkommen hin.“ Viele Militärbasen und Waffenlager mit | |
| modernstem Kriegsgerät aus Russland hat die Armee kampflos und intakt den | |
| Rebellen überlassen. | |
| Wer sind die HTS-Rebellen? | |
| In vielen Berichten ist von Islamisten oder „Dschihadisten“ die Rede, aber | |
| das geht an der Realität vorbei. Schon früher diffamierte die Assad- und | |
| Putin-Propaganda Syriens Aufständische immer als Islamisten und | |
| Terroristen. In Idlib war die dort erfolgreiche Rebellengruppe tatsächlich | |
| islamistisch – die Al-Nusra-Front, die sich zum globalen Terrornetzwerk | |
| al-Qaida bekannte. Aber als Idlib als einziges Rebellengebiet übrig blieb, | |
| vollzog ihr Anführer Jolani eine radikale Kehrtwende und gründete HTS in | |
| Abgrenzung von al-Qaida als islamisch-konservative Bewegung, die sich dem | |
| Staatsaufbau verschrieb. | |
| Unter der HTS entstand in Idlib eine Regierung namens SSG (Syria Salvation | |
| Government), die das Gebiet verwaltet und als Partner für internationale | |
| humanitäre Hilfe dient. Die HTS kontrolliert die Grenzübergänge in die | |
| Türkei, die einzigen Tore zur Außenwelt, und verdient daran viel Geld. | |
| HTS-Firmen dominieren auch die lukrativsten Dienstleistungsbranchen, | |
| nämlich Mobilfunk und Treibstoffe. Letzteres – teils angekauft von | |
| Ölraffinerien [3][im syrischen Kurdengebiet], die dort weiter von der | |
| Regierung betrieben werden – verkaufen sie auch ins Assad-Gebiet. | |
| Die HTS führte auch die Überreste der Anti-Assad-Rebellen zusammen und | |
| bildete eine neue professionelle Armee mit zuletzt 60.000 Kämpfern. Es gibt | |
| gut ausgebildete Offiziere, Spezialkräfte, eine eigene Drohneneinheit. | |
| Diese Armee ist jetzt der Assad-Armee deutlich überlegen. | |
| Viele Kurden haben Angst vor dem Rebellenerfolg, weil sie dahinter die | |
| Türkei vermuten. Zu Recht? | |
| Alles deutet darauf hin, dass die Türkei die HTS-Offensive nicht wollte. | |
| Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzte zuletzt, wie auch viele | |
| Regierungen in Europa und die Arabische Liga, auf eine Normalisierung mit | |
| Assad – nicht zuletzt um Syrien-Flüchtlinge deportieren zu können. Die HTS | |
| ist in Reaktion auf die drohende Rehabilitierung Assads zum Angriff | |
| übergegangen. Gut informierte Quellen sagten, ihre Offensive war eigentlich | |
| für Mitte Oktober geplant. Die Türkei, die die seit 2020 geltende | |
| Waffenstillstandslinie zwischen HTS und Assad kontrolliert, legte Einspruch | |
| ein. Assad intensivierte dann seine Angriffe auf das Rebellengebiet | |
| deutlich. Das zwang die Rebellen geradezu zur Offensive. | |
| Zwischen der kurdischen Autonomieverwaltung im Nordosten Syriens und den | |
| Rebellen im Nordwesten gibt es schon länger Gespräche über eine bessere | |
| Zusammenarbeit sowohl gegen die Türkei als auch gegen Assad. Daher blieb es | |
| bei der Eroberung von Aleppo zwischen der Kurdenguerilla und der HTS | |
| weitgehend friedlich. Die Türkei versucht das nun zu sabotieren. Während | |
| die HTS Assad-Gebiet erobert, ist nun die von der Türkei aufgestellte | |
| „Syrische Nationalarmee“ (SNA) nördlich und östlich von Aleppo zum Angriff | |
| gegen die Kurden übergegangen, es gibt Vertreibungen. | |
| Was machen Russland und Iran, die beiden Hauptverbündeten Assads? | |
| Beide sind momentan durch andere Kriege abgelenkt und haben keine Reserven | |
| für Syrien. Russland konzentriert sich auf den Schutz seiner Militärbasen | |
| an Syriens Mittelmeerküste, die zentral sind für Moskaus regionalen | |
| Machtanspruch. Iran braucht Assad mehr, als Kern seiner „Achse des | |
| Widerstandes“, die bis zur Hisbollah-Miliz in Libanon führt, und Offiziere | |
| der Revolutionsgarden haben südlich von Damaskus ganze Dörfer aufgekauft. | |
| Iran hat nun schiitische Milizen aus Irak für Assad mobilisiert, aber die | |
| wurden schon im Anmarsch von den USA bombardiert. | |
| Wie geht es jetzt weiter? | |
| Jetzt hängt alles vom Verhalten der HTS-Rebellen ab. Die Bewohner von | |
| Aleppo waren vom HTS-Vormarsch überrascht. Christen und Kurden in Syriens | |
| Wirtschaftsmetropole wussten tagelang nicht, ob sie fliehen sollen. Nachdem | |
| Anführer Jolani die Achtung von christlichen Syrern und Kurden gefordert | |
| hatte, blieben dann Übergriffe aus. Doch ein prominenter Gegner von Assad | |
| im Exil warnt: „Viele junge Kämpfer, auf allen Seiten, kennen seit ihrer | |
| Kindheit nur Not und Leid, teilweise in Flüchtlingslagern. Selbst ohne | |
| Provokationen der Gegenseite ist es schwierig, die Lage unter Kontrolle zu | |
| haben.“ | |
| Die HTS inszeniert sich jetzt als nationalistische Kraft mit einem | |
| Machtanspruch für ganz Syrien und betont ausdrücklich den Schutz aller | |
| ethnischer und religiöser Minderheiten. HTS-Führer Jolani besuchte am | |
| vergangenen Mittwoch Aleppo, versprach die Einsetzung einer zivilen | |
| Administration und wies seine Kämpfer an, sich ausschließlich auf | |
| militärische Aktivitäten an der Kriegsfront zu beschränken. | |
| „Das Regime ist tot“, sagte Jolani am Freitag [4][in einem CNN-Interview in | |
| Aleppo]. Jetzt gehe es darum, in Syrien Institutionen aufzubauen, anstelle | |
| der Einmannherrschaft. HTS sei nur eine von vielen beteiligten Gruppen | |
| dabei. | |
| Viele Menschen glauben bereits aufgrund der Geschwindigkeit der | |
| Neuverteilung der Macht in Syrien an die Entstehung eines föderalen | |
| Systems. „Im Regierungslager gibt es Stimmen, die seit Langem die | |
| Aufteilung des Landes in lokale Machtbereiche favorisieren, mit der | |
| aktuellen Regierung in Damaskus als internationaler Repräsentanz“, sagt ein | |
| syrischer Analyst. Inzwischen dürfte ein Rücktritt Assads die Voraussetzung | |
| für einen solchen Deal sein – seit Donnerstag kursieren bereits | |
| entsprechende Gerüchte in Damaskus. Dann könnte eine neue Führung Gespräche | |
| mit den anderen Machtzentren Syriens aufnehmen, um einen blutigen Endkampf | |
| zu vermeiden. | |
| Wie der Analyst sagt: „Niemand will eine chaotische Situation wie in Libyen | |
| nach dem Tod von Muammar Gaddafi.“ | |
| 6 Dec 2024 | |
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| [1] /Die-HTS-in-Syrien/!6049870 | |
| [2] /Eroberung-von-Aleppo/!6049873 | |
| [3] /Syrische-Kurdengebiete/!5983287 | |
| [4] https://edition.cnn.com/2024/12/06/world/video/abu-mohammad-al-jolani-syria… | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
| Mirco Keilberth | |
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