| # taz.de -- Autorin über Versäumnisse des Gedenkens: „Uns geht es um eine p… | |
| > Wenn das Gedenken gelungen wäre, wäre die AfD nicht so erfolgreich, sagt | |
| > Hadija Haruna-Oelker. Sie plädiert dafür, alles auf Anfang zu stellen. | |
| Bild: Sprechakt: Zentrale Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus, 2… | |
| taz: Frau Haruna-Oelker, warum braucht es eine neue Erinnerungskultur? Was | |
| ist denn mit der alten – hat die jemand kaputtgemacht? | |
| Hadija Haruna-Oelker: Vorneweg, und das ist, glaube ich, wichtig: Es geht | |
| nicht um eine Generalabrechnung, die sagt, alles war verkehrt und nichts | |
| war gut. Eher um eine kritische Betrachtung des Weges, der nach 1945 | |
| eingeschlagen wurde im Sinne der Aufarbeitung der deutschen | |
| Gewaltgeschichte. Was ist da passiert, zu welchem Zweck und mit welchem | |
| Ergebnis? Es ist nun mal so, dass wir den Aufstieg einer [1][teilweise | |
| gesichert rechtsextremen Partei] haben, der eigentlich nicht da sein | |
| dürfte, wenn Erinnerungskultur und Aufarbeitung gut funktioniert hätten. | |
| Und da ist ja die Frage schon berechtigt: Warum ist das so? Was ist da | |
| passiert? Was haben die Menschen nicht gelernt, oder was wurde nicht | |
| verlernt? | |
| taz: Dem Thema widmen Sie und Ihr Ko-Autor Max Czollek schon seit 2023 auch | |
| einen Podcast. | |
| Haruna-Oelker: [2][„Trauer und Turnschuh“], genau. Da geht es uns um dieses | |
| Sprechen über die Leerstellen der Aufarbeitung. Also: Welche Opfer wurden | |
| vergessen, nicht mitgedacht, nicht miterzählt in ihren parallelen | |
| Geschichten? Das ist wichtig: Es geht nicht um eine Hierarchisierung, nicht | |
| um eine Relativierung. | |
| taz: Sondern? | |
| Haruna-Oelker: Um Gleichzeitigkeiten in der deutschen Gewaltgeschichte und | |
| deren Folgen. Und dann kam eben dieser Aufstieg der AfD 2023, dann [3][der | |
| Anschlag der Hamas am 7. Oktober] und dann wurde es sehr traurig in | |
| Deutschland und in mehrerlei Hinsicht. Diese Wendepunkte, so nenne ich es | |
| jetzt mal, haben das, was Menschen in Deutschland hatten, oder wie wir | |
| erinnern, oder wer überhaupt relevant ist, in der Geschichte, erschüttert | |
| und vieles infrage gestellt. Und unter anderem auch die Erinnerungskultur. | |
| Uns geht es deshalb auch um eine plurale Erinnerungskultur, die wir jetzt | |
| bräuchten, damit wir diese Zeiten besser zusammen bewältigen können. | |
| taz: Die AfD ist also nicht das einzige Problem. Sie ist nur so was wie | |
| dessen deutlichster Ausdruck? | |
| Haruna-Oelker: Ja, bei einer deutsch-deutschen Betrachtung ist das | |
| Erstarken der AfD sicherlich die ausdrücklichste Form. Wir haben natürlich | |
| viele Konflikte, und in unserem Buch schauen wir auch auf die innerhalb der | |
| marginalisierten Gruppen. [4][Wir sind Teil der postmigrantischen | |
| Generation], so verstehen wir uns. Es ist sozusagen auch ein kulturelles | |
| Verständnis einer Zeit, in der marginalisierte Menschen sich sichtbar | |
| gemacht haben. Juden und Jüdinnen sind dafür eingestanden, nicht nur als | |
| homogene Gruppe verstanden zu werden, sondern als heterogene, genauso | |
| migrantisierte Gruppen, [5][Schwarze Menschen], behinderte Menschen und | |
| queere Personen – all die aus den sozialen Bewegungen. | |
| taz: Alles Kämpfe um Anerkennung, um Sichtbarkeit? | |
| Haruna-Oelker: Sie haben für ihre Wahrnehmbarkeit gekämpft, fernab | |
| irgendeines Trends, sondern im Sinne einer Erinnerungskultur und einer | |
| Geschichte, die eben plural erzählt werden will. Innerhalb dieser Gruppen | |
| gab und gibt es auch Konflikte, es gibt Schmerz und Trauer und vieles, was | |
| von einer Dominanzkultur nicht verstanden wird. Deswegen haben wir es | |
| aufgeschrieben, das wäre [6][schon vor dem 7. Oktober] wichtig gewesen. | |
| taz: Ich gehe nicht davon aus, dass Sie es vorhatten, aber Sie haben da | |
| jetzt keine Handreichung geschrieben, „Diverser Gedenken 2.0“, oder so | |
| etwas. | |
| Haruna-Oelker: Es ist kein Ratgeber. Es ist kein Gesprächsband, auch kein | |
| Abdruck unseres Podcasts. Es ist ein dialogischer Austausch, den ich mal | |
| ein „reaktives Schreiben“ genannt habe. | |
| taz: Wie ist das zu verstehen? | |
| Haruna-Oelker: Weil wir mit unseren Positionen und den Erfahrungen, mit | |
| denen wir auf die Welt blicken, Thesen entwickelt haben, um diese Gegenwart | |
| zu bewältigen. Wir haben uns viele Gedanken gemacht, wie wir dieses Buch | |
| schreiben, und so ist es nun auch gegliedert. Es geht um [7][das | |
| postmigrantische Jahrzehnt]. Es geht um das Thema Anti-Wokeness und | |
| Kulturkampf aus einer medial kritischen Sicht. | |
| taz: Das klingt ziemlich heutig. | |
| Haruna-Oelker: Um die Vergangenheit geht es natürlich auch und um Politik. | |
| Um die Dinge, die uns bewegen. Die haben wir uns in einem Ballsystem | |
| zugeworfen, als Thesen. Entstanden sind unterschiedliche Formen, mal ein | |
| Brief, aber auch mal längere Ausführungen, dann wieder schnellere Szenen. | |
| So wie es in einem Gespräch entsteht, in dessen Verlauf man Zeit hat | |
| nachzudenken, etwas auszuformulieren. So ist das Buch sehr mit der Zeit | |
| entstanden und deswegen auch ein Logbuch der Gegenwart, mit all dem, was | |
| war in dem knappen Jahr vom [8][Ampel-Aus] bis nach der Bundestagswahl. | |
| taz: Sie formulieren den Anspruch, dass „unsere Vergangenheit mit ihren | |
| Geschichten“ auch ein „Reservoir für die Herausforderungen der Gegenwart“ | |
| sein könne. Wie kann die Mehrheitsgesellschaft in diesem Sinne profitieren | |
| von den marginalisierten Perspektiven? | |
| Haruna-Oelker: Der Lohn läge darin, wieder zu mehr Zusammenhalt und | |
| Miteinander zu finden. Es zeigen doch viele Studien: Wenn man Menschen | |
| privat fragt, was sie sich wünschen, dann ist es genau das Gegenteil der | |
| [9][Spaltung, von der immer erzählt wird]. Das sehen wir auch bei unseren | |
| Lesungen oder in den Rückmeldungen zum Buch: Die Menschen sehnen sich nach | |
| einem Gefühl, das sie zusammenbringt, ja, und zusammenhält und auch Fragen | |
| beantwortet. Ich glaube, viele Menschen haben verstanden, dass sie vieles | |
| über die vermeintlichen anderen nicht wissen. Das ist ein Angebot. | |
| taz: Und dabei helfen andere Erfahrungen? | |
| Haruna-Oelker: Genau. Wir gehen da mit [10][Audre Lorde], die schreibt: „We | |
| were never meant to survive“, und das ist ja so ein Hinweis auf ein Wissen | |
| der Unterdrückten. Ob man auf Jüdinnen und Juden schaut, auf Schwarze | |
| Menschen, auf andere Marginalisierte: Es gab immer Zeiten, in denen es | |
| nicht vorgesehen war, dass man leben sollte, dabei sein sollte, zugehörig | |
| ist. Daraus ist ein Wissen entstanden, davon profitieren Max und ich. | |
| taz: Was für ein Wissen? | |
| Haruna-Oelker: „Elder Wissen“ nenne ich es, er spricht über „die Ahnen�… | |
| „die Toten“. Aus meiner Sicht ist es auch ein spirituelles Wissen, aber es | |
| gibt genauso wissenschaftliches und philosophisches Material, Dinge, die | |
| man nachlesen kann. All das steckt mit in unserem Text. Wir haben uns da | |
| nicht alles ganz neu ausgedacht, wir haben auch Wissen, das es gibt, | |
| gemeinsam zusammengelegt. Das wollen wir auch retten, dieses Wissen der | |
| Unterdrückten. | |
| taz: Gibt es über fehlendes Wissen hinaus nicht aber auch konkurrierende | |
| Interessen? Sie hatten vorhin einen Knackpunkt jeder Gedenk-Diskussion | |
| gestreift: die Frage, wie sich Hierarchisierung vermeiden lässt. Nehmen wir | |
| diejenigen, die lange und hart kämpfen mussten für die Anerkennung | |
| spezifischen Leids, zum Beispiel des jüdischen. Die werden nicht ohne | |
| Weiteres von der besonderen Aufmerksamkeit lassen können – und das ja nicht | |
| aus Egoismus oder weil sie böse wären. Wie löst man so einen Konflikt? | |
| Haruna-Oelker: Na ja, wer hat sich das ausgedacht? Dinge in Hierarchie und | |
| Konkurrenz zu stellen, ist eine alte koloniale Praxis. Man trennt Menschen, | |
| indem man ihnen erzählt, sie seien unterschiedliche Gruppen und verstünden | |
| sich nicht. Das ist Machtpolitik. Aus einer intersektionalen Perspektive, | |
| über die man diskutieren kann, geht es um ein Denkangebot: Hör auf, | |
| Menschen in Gruppen zu denken, sieh ihre Einzelerfahrungen und | |
| biografischen Überschneidungen im Menschsein. Deswegen erfolgt da auch | |
| keine Relativierung, keine Infragestellung von Singularität beispielsweise | |
| der Shoa. | |
| taz: Keine Infragestellung des einen, aber die Berücksichtigung auch des | |
| anderen? | |
| Haruna-Oelker: Wenn man die Komplexität der Migrationsgesellschaft | |
| verstehen will, und so eine sind wir, dann braucht es ein anderes | |
| Verständnis dieser Gesellschaft. Und ich würde behaupten, in einem | |
| dominanten Diskurs existiert so eines nicht. | |
| taz: Sondern? | |
| Haruna-Oelker: Es gibt Erinnerungskämpfe, es gibt Anerkennungskämpfe, | |
| Menschen ringen um die eigene Wahrnehmbarkeit sogar in ihren Familien, in | |
| ihren sozialen Bewegungen. So banal es klingt, nur gemeinsam ist man stark | |
| gegen machtvolle Erzählung, die Menschen ausschließt. Und wenn Sie mich | |
| konkret fragen: Natürlich braucht es Wissen. Wir leben in einem | |
| postfaktischen Zeitalter, Menschen holen sich ihr Wissen sonst woher und | |
| glauben an Lügen. Es braucht darum Wissen, aber es braucht auch | |
| Selbstkritik, ein kritisches Denken und sich loslösen vom Wunsch, auf der | |
| „Seite der Guten“ zu stehen, wie Max gerne sagt. Denn welche Seite ist die | |
| Gute? In welcher Erzählung, von wem aus wird sie bestimmt? | |
| taz: Und außerdem? | |
| Haruna-Oelker: Bedarf es des Mitgefühls – mit einem Bindestrich dazwischen: | |
| Mit-Gefühl. Keine Empathie, die man sich performativ aneignen kann, sondern | |
| mehr in der Richtung: Ich nehme dich wahr und ich lerne von dir. Ein | |
| bildliches An-die-Seite-Stellen, um ein Gegenüber anzuerkennen. Viel | |
| wichtiger als Toleranz ist Anerkennung, auch die von Geschichten. Dann | |
| kommen wir raus aus der Hierarchie: Wenn ich alle Geschichten der Menschen | |
| einer Gemeinschaft kennenlerne, dann gibt es keine, die wichtiger ist. Dann | |
| sind sie alle auf ihre Art wichtig. Und so ist es ja in Deutschland. Wir | |
| sind Menschen von überall auf der Welt. Alle bringen ihre Geschichten mit. | |
| In Deutschland gibt es eine deutsche Geschichte, in anderen Ländern gibt es | |
| andere und sie verbinden sich hierzulande transnational. Das heißt, wenn | |
| wir eine Migrationsgesellschaft sind, sollten wir lernen, diese Geschichten | |
| gemeinsam zu lesen, um eine plurale Erinnerungskultur zu schaffen, die | |
| niemanden ausschließt und niemanden klein macht und niemanden wegdenkt. | |
| taz: Wenn Sie es optimistisch betrachten: Wo steht die Gedenk-, die | |
| Erinnerungskultur in diesem Land in zehn Jahren? | |
| Haruna-Oelker: Max und ich haben unser Buch „Alles auf Anfang“ genannt, | |
| auch weil es manchmal gut ist, wenn man einen Strich zieht – und sei es nur | |
| ein innerlicher. Wenn man noch mal neu anfängt zu denken und nicht glaubt, | |
| die alten Konzepte funktionieren auch weiterhin. Sondern sich fragt, was | |
| daran nicht funktioniert hat. Was man besser machen könnte – zum Beispiel | |
| bei einer alljährlichen Gedenkfeier, [11][wenn es um jüdisches Leben geht]. | |
| Was würde es bedeuten, nicht performativ zu agieren? Wie kann dabei echte | |
| Verantwortung übernommen werden für die eigene Geschichte und familiäre | |
| Beteiligung zum Beispiel? Ich habe selbst einen deutschen Anteil in meiner | |
| Biografie, und ich weiß, wie in deutschen Familien oft mit der | |
| Vergangenheit umgegangen wird. Was also würde passieren, im Privaten wie im | |
| Institutionellen, wenn [12][wir uns davon erzählen und aufarbeiten]? Das | |
| würde ich mir wünschen, dass sich mit den Erkenntnissen, die sich dadurch | |
| ergeben, in zehn Jahren eine Mehrheit aufgebäumt hat, gegen die rechten | |
| Kräfte in diesem Land, die ein autoritäres System wollen. Und das Prinzip | |
| dabei ist: mit mehr Ehrlichkeit dazu zu stehen, wie dieses Land durch seine | |
| plurale Bevölkerung geworden ist. Von diesen Geschichten erzählen wir uns | |
| dann mehr an Gedenktagen und bauen von mir aus auch [13][entsprechende | |
| Denkmäler]. | |
| 24 Nov 2025 | |
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