| # taz.de -- Streit um das Sorgerecht: Im Zweifel für den Vater | |
| > Maria Hartmann sagt, sie habe häusliche Gewalt erlebt. Um ihren Sohn zu | |
| > schützen, flieht sie ins Frauenhaus. Dann wird dem Vater das Sorgerecht | |
| > zugesprochen. Warum? | |
| Maria Hartmann wird niemals den Tag vergessen, an dem man ihr Leon | |
| weggenommen hat. Noch am Morgen kuschelt sie mit ihrem dreijährigen Sohn | |
| und spielt mit ihm an seinem Werkzeugkasten. Dann brechen sie gemeinsam zum | |
| Familiengericht auf. Kaum dort angekommen, beschleicht sie ein mulmiges | |
| Gefühl, erzählt Hartmann heute, ein Jahr später. Ein Gefühl, als wäre | |
| bereits eine Entscheidung gefallen. | |
| Bei der Verhandlung sitzt sie im Saal, Leon wartet im Nebenzimmer. In der | |
| Pause darf sie kurz zu ihm. „Wann fahren wir nach Hause, Mama“, fragt er. | |
| „Später“, sagt sie. Eine Stunde später wird verkündet: Leon soll von nun… | |
| bei seinem Vater leben. | |
| Direkt nach der Verhandlung wird er dem Vater übergeben. Hartmann kann sich | |
| nicht einmal von Leon verabschieden. | |
| Ein Jahr nach diesem Tag sitzt Maria Hartmann in einem Café in Magdeburg | |
| und erzählt von dem Gerichtstermin im Juli 2024. Sie ist 39 Jahre alt, eine | |
| schmale Frau mit leiser Stimme und warmem Blick. Einen ganzen Stapel | |
| Dokumente hat sie dabei, außerdem einen USB-Stick. Es sind Schreiben und | |
| Beschlüsse vom Gericht, von Anwälten, Gutachten von Ärzt:innen und | |
| Psychologinnen. Dutzende Seiten, die Hartmanns Kampf dokumentieren – gegen | |
| ihren Ehemann und für ihr Kind. | |
| Maria Hartmann hat einen jahrelangen Rechtsstreit hinter sich. Er begann | |
| mit der Scheidung von ihrem Mann 2022. Geendet hat er vorerst damit, dass | |
| Hartmann im April 2025 das Sorgerecht für ihren jetzt fünfjährigen Sohn | |
| verloren hat. Sie darf ihn nur noch alle zwei Wochen sehen, dort, wo der | |
| Sohn heute lebt: bei seinem Vater. Der hat das alleinige Sorgerecht. | |
| Für Hartmann ist das Haus in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt voll | |
| schlimmer Erinnerungen. Dort, sagt sie, habe sie in ständiger Angst gelebt. | |
| Ihr Ex-Partner habe sie geschlagen, beleidigt und degradiert. Auch den Sohn | |
| soll er geschlagen haben. Die Belege dafür hat Hartmann mitgebracht. Der | |
| Gedanke, in dieses Haus zurückzukehren, löst bei ihr Panikattacken und | |
| Albträume aus, sagt sie. | |
| Seit vier Monaten hat sie deswegen ihren Sohn nicht mehr gesehen. Sie | |
| schafft es einfach nicht, an diesen Ort zurückzukehren. | |
| Maria Hartmann hat ihren Sohn verloren, weil das Gericht und eine | |
| Gutachterin die Gewaltvorwürfe beiseite gewischt haben. Davon sind Hartmann | |
| und ihre Anwältin überzeugt. So legen es auch die Dokumente nahe, die | |
| Hartmann mitgebracht hat. Anstatt das Kind vor dem Vater zu schützen, wurde | |
| die Mutter vor Gericht zur gefährlichen Person erklärt. Als eine, die ihren | |
| Sohn manipuliere. Eine, die ihr Kind vom Vater „entfremden“ könnte, die | |
| „bindungsintolerant“ sei. Die Anwältin, die mit Hartmann das Verfahren | |
| bestritten hat, beschreibt es als „Täter-Opfer-Umkehr“. Für Hartmann kam … | |
| einem „Missbrauch nach dem Missbrauch“ gleich. | |
| Die taz hat auf mehreren Wegen versucht, mit dem Exmann von Maria Hartmann | |
| über seine Version der Geschichte zu sprechen. Sie hat ihn mit den | |
| Gewaltvorwürfen konfrontiert. Der Mann hat ein Gespräch abgelehnt. Seine | |
| Sicht soll hier über die Gerichtsunterlagen einfließen. Die zuständige | |
| Richterin und das Jugendamt dürfen sich nicht zu dem laufenden Verfahren | |
| äußern, sie haben Schweigepflicht. Die Argumentation des Gerichts und die | |
| Einschätzung des Jugendamts lassen sich jedoch über die zahlreichen | |
| Beschlüsse nachverfolgen. | |
| ## Frauenfeindliche Narrative? | |
| Was Maria Hartmann erlebt hat, beobachten Expert:innen regelmäßig in | |
| Deutschland: Gerichte ignorieren [1][Vorwürfe von häuslicher Gewalt] in | |
| Familienrechtsverfahren. Anwält:innen raten ihren Klientinnen daher, | |
| Gewaltvorfälle in Sorgerechtsverfahren lieber nicht zu erwähnen – weil sie | |
| ihnen im Zweifel negativ ausgelegt werden können. | |
| Einige Beobachter:innen sehen dahinter den Einfluss einer starken, gut | |
| vernetzten Lobby. Andere berichten, dass sich frauenfeindliche Narrative | |
| und Theorien hartnäckig an deutschen Familiengerichten halten. | |
| Die taz hat mit sechs betroffenen Frauen gesprochen, Gerichtsakten von fünf | |
| Fällen ausgewertet, Chat-Nachrichten und Fotos gesichtet, die die häusliche | |
| Gewalt belegen. | |
| Alle Frauen berichten von ähnlichen Erfahrungen wie Hartmann: Sie sagen, | |
| sie hätten Gewalt erlebt, dennoch lebten ihre Kinder inzwischen beim Vater. | |
| Eine Mutter aus Bayern verlor drei Jahre, nachdem ihr Expartner sie | |
| gewürgt, in eine Tür geklemmt und zu Sex gezwungen haben soll, das | |
| Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre beiden Kinder. „Es hat keinen | |
| interessiert, was mein Exmann mir angetan hat“, sagt sie heute. | |
| Auch eine andere Betroffene erzählt, dass ihre Kinder drei Jahre nach der | |
| Trennung plötzlich beim gewalttätigen Vater lebten: „Er hat einen | |
| Freifahrtschein bekommen, seine Gewalt fortzusetzen.“ | |
| Eine Mutter aus Tunesien, die zehn Jahre in München lebte, berichtet, sie | |
| habe sich nach wiederholten Übergriffen getrennt. Zwei Jahre später | |
| entschied das Gericht, dass die Kinder beim Vater leben sollen. „Ich habe | |
| das Gefühl, ich habe als Frau mehr Rechte in Tunesien als hier in | |
| Deutschland“, sagt sie. | |
| Keine der Frauen möchte mit ihrem echten Namen in der Zeitung stehen – | |
| viele fürchten Nachteile vor Gericht oder Reaktionen ihrer Expartner. Auch | |
| Maria Hartmann und ihr Sohn heißen anders. | |
| Maria Hartmann hat zuletzt in einem Supermarkt gearbeitet. Wegen Problemen | |
| an ihrer Wirbelsäule und einer chronischen Entzündungskrankheit kann sie | |
| derzeit nicht arbeiten. | |
| Die Beziehung zu ihrem Exmann sei nur im ersten Jahr harmonisch gewesen, | |
| sagt sie. Die beiden waren in ihrer Jugend für eine kurze Zeit ein Paar, | |
| verloren sich aus den Augen, trafen sich 2015 wieder. Einen Monat später | |
| zieht er bei ihr ein, sie hofft damals, mit ihm ein gemeinsames Leben | |
| aufzubauen. | |
| Nach knapp einem Jahr habe er angefangen, sie zu isolieren, mit ihren | |
| Freunden zu streiten, die Kontrolle über ihre Finanzen zu übernehmen. Ein | |
| Jahr später, im Jahr 2017, soll er zum ersten Mal körperlich gewalttätig | |
| geworden sein. In einer Facebook-Nachricht bezeichnet er sie damals als | |
| „Stück Scheiße“ und „Opfer.“ In einer anderen Nachricht schreibt er: | |
| „Votze, votze, votze, ich hass dich immer mehr, ich schwör es dir.“ In | |
| weiteren Nachrichten droht er ihr mit Gewalt. Im Jahr 2019 soll er ihr die | |
| Nase gebrochen haben, ein Arztbrief bestätigt eine „Nasenbeinfraktur“. Alle | |
| Dokumente und Chats liegen der taz vor. | |
| Im Februar 2020 wird sie unerwartet schwanger. Während der Schwangerschaft | |
| schlägt und beleidigt er sie weiter, erzählt Hartmann. Manchmal | |
| entschuldigt er sich und sie verzeiht ihm. In anderen Momenten spielt sie | |
| mit dem Gedanken zu fliehen, weiß aber nicht wie. Zur Polizei geht sie nie, | |
| sie hat Angst, dass man ihr nicht glaubt. Mit ihrer Mutter hat sie damals | |
| nur sporadisch Kontakt, verschweigt auch ihr gegenüber die Gewalt. Die | |
| Mutter ahnte damals jedoch, dass etwas nicht stimmt, sagt sie im Gespräch | |
| mit der taz und erzählt, dass sie den Mann später selbst gewalttätig erlebt | |
| habe. | |
| Schließlich gelingt es Hartmann, ihren Mann zu überreden, dass er in eine | |
| andere Wohnung im gleichen Haus zieht. Er lässt sich darauf ein, kommt | |
| jedoch immer wieder ungefragt in ihre Wohnung. Hartmann sagt, sie habe zu | |
| viel Angst gehabt, um sich zu wehren. | |
| Im März 2022, da ist Leon eineinhalb Jahre alt, lassen sie sich scheiden. | |
| Ein Arzt stellt im gleichen Monat mehrere Hämatome am Körper von Hartmann | |
| fest: am Nasenbein, unterm Auge, an ihrer Schulter. Fotos aus dieser Zeit | |
| zeigen sie mit geschwollener Lippe, blauem Auge und Prellungen am Bein. | |
| Die Eltern einigen sich darauf, Leon weiter gemeinsam zu betreuen, Hartmann | |
| stimmt der Regelung zu. Aus Angst, wie sie sagt, und nur bis zu einem | |
| Vorfall im Januar 2023. | |
| Da soll der Vater allein mit seinem Kind in dessen Kinderzimmer gewesen | |
| sein. Er sei zu Besuch bei Hartmann in der Wohnung gewesen, so erzählt es | |
| die Mutter. Plötzlich habe sie Schreie aus dem Kinderzimmer gehört, | |
| wutentbrannt sei der Vater aus dem Raum gestürmt. Als Hartmann zu ihrem | |
| Sohn eilt, habe er am Ohr geblutet. Sie wollte sofort zum Arzt, doch ihr | |
| Expartner habe ihr das Handy weggenommen und ihr verboten, das Haus zu | |
| verlassen. | |
| Am nächsten Tag, so erzählt es Hartmann, eskalierte ein weiterer Streit. | |
| Ihr Expartner habe sie mehrmals auf den Kopf geschlagen. | |
| In den Gerichtsunterlagen bestreitet der Mann, dass er Hartmann jemals | |
| körperlich angegriffen habe. Er sei lediglich mal laut geworden oder habe | |
| Türen geknallt. Er wirft wiederum Maria Hartmann vor, dass sie Leon | |
| geschlagen habe. „Mein Exmann hat versucht, alle Tatsachen umzudrehen“, | |
| sagt Hartmann. | |
| Sie habe ihr Kind nie geschlagen. Im gesamten Rechtsstreit hat ihr Mann | |
| keine stichhaltigen Belege für seine Behauptungen vorgelegt. Es gibt weder | |
| ärztliche Gutachten noch Aussagen von Psychologinnen oder anderen | |
| Zeug:innen, die darauf hindeuten, dass Hartmann ihrem Kind gegenüber | |
| gewalttätig gewesen sei. In den Schriftsätzen der Anwälte ist lediglich von | |
| Sprachnotizen die Rede, in denen sie zugegeben haben soll, dass sie ihr | |
| Kind geschlagen hat. | |
| Hartmann sagt, ihr Exmann habe sie gezwungen, diese Aufnahmen zu erstellen. | |
| Eine soll nach dem Vorfall im Januar entstanden sein. Als ihr Exmann sie | |
| fragte, ob sie Leon schlage, habe sie aus Angst „ja“ gesagt, damit die | |
| Gewalt aufhört, schildert Hartmann. Ihre Anwältin beantragte, die Aufnahmen | |
| nicht als Beweismittel aufzunehmen. Sie durften dann – zumindest offiziell | |
| – auch nicht im Verfahren verwendet werden. Die Entscheidung könnten sie | |
| aber dennoch beeinflusst haben. | |
| ## Verletzungen dokumentiert | |
| Drei Tage nach dem Streit flieht Hartmann mit ihrem Sohn aus der Wohnung. | |
| Ihr erster Weg führt sie zu ihrem Hausarzt, der die Verletzungen | |
| dokumentiert. | |
| In dem Befundbericht vom 31. Januar 2023, der der taz vorliegt, steht: „Bei | |
| der Patientin fanden sich Zeichen von äußerer Gewaltanwendung. Es wurden | |
| Hämatome an der rechten Schläfe sowie ein Taubheitsgefühl des Ohres | |
| festgestellt.“ Auch bei Leon dokumentiert der Arzt „eine Beule an den | |
| Stirnbeinhöckern und eine Risswunde am Ohr“. | |
| Hartmann erstattet Strafanzeige gegen ihren Exmann und zieht für fast acht | |
| Monate in zwei Frauenhäuser. | |
| Nach dem Vorfall Ende Januar stellen Hartmann und ihr Exmann bei Gericht | |
| jeweils einen Antrag auf das alleinige Sorgerecht. Die Mutter beantragt | |
| zudem ein Gewaltschutzverfahren. Anders als bei vielen anderen Betroffenen | |
| von häuslicher Gewalt thematisiert und belegt ihre Anwältin die mutmaßliche | |
| Gewalt von Anfang an. | |
| Wenn sich Eltern trennen und sich nicht darüber einigen können, wer für die | |
| Kinder sorgt, wer sie betreut, kommt es zu einem Verfahren vor dem | |
| Familiengericht. In Fällen von häuslicher Gewalt sind Trennungen besonders | |
| konfliktreich, sie werden deshalb meist vor dem Familiengericht verhandelt. | |
| Das Sorgerecht regelt Erziehung, Betreuung und Versorgung des Kindes. Das | |
| Umgangsrecht regelt, wie oft Eltern mit ihren Kindern Zeit verbringen und | |
| Kontakt haben dürfen. | |
| Häusliche Gewalt ist vor Gericht oft schwer zu beweisen – meist steht | |
| Aussage gegen Aussage. Die Familiengerichte sind nicht für die | |
| strafrechtliche Aufklärung zuständig. Sie ermitteln nicht selbst, befragen | |
| keine Zeug:innen oder prüfen keine Beweise, wie es in einem | |
| Strafverfahren der Fall wäre. Doch sie können Mütter wie Hartmann schützen | |
| – etwa durch Umgangsbeschränkungen oder Kontaktverbote. Außerdem muss das | |
| Gericht prüfen, ob die Gewaltvorwürfe das Kindeswohl beeinträchtigen. Ziel | |
| ist immer eine Lösung, die für das Kind am besten ist. | |
| Leicht sind solche Verfahren nie. Wenn Kinder involviert sind, sind sie | |
| häufig hoch emotional. Kommt dann noch ein Gewaltvorwurf dazu, stehen | |
| Richter:innen oft vor einem Dilemma: Sprechen sie das Kind jenem | |
| Elternteil zu, das mutmaßlich gewalttätig ist? Oder enthalten sie jemandem | |
| sein Kind vor, weil Vorwürfe im Raum stehen, die nicht bewiesen sind? | |
| In den Verfahren werden meist das Jugendamt, Gutachter:innen sowie | |
| sogenannte Verfahrensbeistände hinzugezogen. Sie reden mit den Eltern und | |
| Kindern, um sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Liegen keine | |
| eindeutigen Beweise für die Gewalt vor, kann der Gewaltvorwurf als | |
| Falschbehauptung gewertet werden – als Versuch, den anderen Elternteil zu | |
| diffamieren. Im Extremfall kann das der Betroffenen in den Fragen über das | |
| Sorge- und Umgangsrecht schaden. | |
| Als über Hartmanns Fall entschieden wird, sind die strafrechtlichen | |
| Ermittlungen gegen den Vater noch nicht abgeschlossen. Das Gericht beruft | |
| sich darauf, dass bislang nichts bewiesen sei, so erzählt es ihre Anwältin. | |
| Dennoch trifft das Gericht zunächst immer wieder auch Entscheidungen, die | |
| Maria Hartmann und ihr Kind schützen sollen. | |
| Zum Beispiel verbietet das Gericht dem Exmann Ende März 2023, sich Maria | |
| Hartmann zu nähern. Er verstößt mehrmals dagegen, wie aus den Gerichtsakten | |
| hervorgeht. Laut Hartmann fand er heraus, in welchem Frauenhaus sie sich | |
| aufhielt, tauchte dort mehrmals auf, um sie einzuschüchtern. | |
| Ende März 2023 treffen sich Hartmann und ihr Exmann auch vor Gericht. | |
| Hartmann thematisiert die Gewalt, ihr Exmann behauptet, sie habe ein | |
| Alkohol- und Drogenproblem. Aufgrund der gegenseitigen Beschuldigungen | |
| entzieht das Familiengericht beiden Eltern mit ihrer Zustimmung das | |
| Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Umgangsrecht. Das Kind kommt zur | |
| Mutter, für Fragen der Gesundheitsfürsorge und Kita-Angelegenheiten ist | |
| aber fortan das Jugendamt zuständig. | |
| „Das wurde mir so verkauft, als müsste ich mich so nicht weiter mit meinem | |
| Exmann auseinandersetzen“, sagt Hartmann. Deshalb habe sie sich darauf | |
| eingelassen. Später habe sie das bereut. | |
| Der Vater darf den Sohn in regelmäßigen Abständen sehen, doch das | |
| eskaliert, erzählt Hartmann. Leon habe nicht zum Vater gehen wollen. Nach | |
| den Treffen mit dem Vater habe er nachts geschrien und um sich getreten. | |
| Einmal habe er sich geweigert, auf die Toilette zu gehen. Auf Nachfrage | |
| habe Leon gesagt, dass sein Vater ihm an seinem „Pullermann“ wehtue. Die | |
| Mutter hat dieses Gespräch mit ihrem Sohn aufgenommen, der taz liegt die | |
| Tonaufnahme vor. Das Gericht darf diese Sprachaufnahme nicht verwenden. | |
| Auch die Psychologin des Frauenhauses schreibt, dass Leon anfangs, nach dem | |
| Einzug ins Frauenhaus, angespannt und unsicher gewesen sei. Er habe andere | |
| Mitbewohnerinnen getreten, gehauen und gebissen. Sein Verhalten habe sich | |
| aber in den wenigen Wochen im Frauenhaus verbessert. Aber: „Mit Beginn der | |
| gerichtlich angeordneten Umgänge zum Kindesvater zeigten sich deutliche | |
| Rückschritte in der positiven Entwicklung“, fasst sie in einer | |
| Stellungnahme zusammen. | |
| ## 75 Seiten Gutachten | |
| Nach der Toiletten-Episode ruft Hartmann die Kinderärztin an und schildert | |
| die Aussagen von Leon. Die Ärztin bittet das Jugendamt, die Umgänge mit dem | |
| Vater auszusetzen und dieses kommt der Bitte nach. Drei Monate lang sieht | |
| Leon seinen Vater nicht. | |
| Der Vater bestreitet laut der Dokumente immer wieder, dass er gegenüber | |
| seinem Sohn gewalttätig wurde. | |
| Das Gericht gibt schließlich ein Gutachten in Auftrag, das feststellen | |
| soll, ob die beiden Eltern in der Lage sind, ihr Kind zu erziehen. Eine | |
| Gutachterin, eine Psychologin, spricht dafür mit beiden Eltern und | |
| beobachtet sie gemeinsam mit Leon. Sie spricht auch mit Leon allein. Das | |
| 75-seitige Dokument wird entscheidend dafür sein, dass das Sorgerecht im | |
| April 2025 dem Vater zugesprochen wird. | |
| Das Gutachten erwähnt die Gewaltvorwürfe, prüft aber nicht, ob sie | |
| plausibel sind oder Auswirkungen auf Mutter und Kind haben könnten. | |
| Stattdessen interpretiert die Gutachterin Hartmanns Angst vor ihrem | |
| Expartner als „paranoide Tendenz“ und bezeichnet sie als stark belastet und | |
| überfordert. Hartmanns Sorge um ihren Sohn nach den Umgängen sieht sie als | |
| Zeichen von mangelnder „Bindungstoleranz“ und „Manipulation“. | |
| Widersprüchliche Aussagen des Kindes – einmal berichtet Leon, der Vater | |
| habe ihn geschlagen, ein anderes Mal verneint er dies – interpretiert die | |
| Gutachterin nicht als Hinweis auf mögliche Angst oder Verunsicherung, | |
| sondern als Beleg für den Einfluss der Mutter, die „eine Ablehnung seines | |
| Vaters“ fördere. | |
| Den Umgang zwischen Vater und Sohn beschreibt die Gutachterin wiederum als | |
| liebevoll und harmonisch. Zwar wird erwähnt, dass er schon mal wegen | |
| Körperverletzung in Haft saß, bewertet wird dies aber nicht weiter. | |
| Der Vater bestreitet die Gewaltvorwürfe stets, er habe lediglich einmal ein | |
| „Loch in den Tisch gekloppt“. Außerdem gibt er Hartmanns angebliches | |
| Drogen- und Alkoholproblem zu Protokoll. Belege dafür nennt das Gutachten | |
| nicht. Dass Hartmann medizinisches Cannabis nur wegen einer chronischen | |
| Erkrankung konsumiert, wird erwähnt, aber nicht weiter thematisiert. Ein | |
| Attest hierfür liegt der taz vor. | |
| Die Gutachterin beschreibt Leon als unsicher im Kontakt, mit einer geringen | |
| Frustrationstoleranz und impulsivem Verhalten. Diese Auffälligkeiten führt | |
| sie auf die Erziehung der Mutter zurück. Hartmann habe „Schwierigkeiten, | |
| die kindlichen Bedürfnisse von den eigenen Ängsten zu trennen“. Als Beleg | |
| wird etwa genannt, dass ihr die Übergabe von Leon an den Vater schwerfalle. | |
| Die vergangenen Jahre haben bei Maria Hartmann Spuren hinterlassen. In | |
| einem Schreiben, das der taz vorliegt, führt ihre Psychologin aus, dass | |
| Hartmann aufgrund der Partnerschaftsgewalt und der intensiven | |
| familiengerichtlichen Auseinandersetzung zeitweise stark von Ängsten | |
| geprägt und antriebslos war. Auch die Gutachterin sieht „Verhaltensweisen | |
| einer traumatisierten“ Persönlichkeit – setzt diese aber nicht mit der | |
| mutmaßlichen Gewalt in Verbindung. | |
| ## Keine psychiatrische Diagnose | |
| „Bindungsintolerant“, „manipulativ“, „Entfremdung“ – das sind Beg… | |
| in vielen dieser Verfahren auftauchen. Es sind Schlagworte, die viele | |
| Frauen über sich lesen, bevor sie ihre Kinder verlieren. Sie sind die | |
| Vokabeln einer wissenschaftlich widerlegten Theorie, dem Elterlichen | |
| Entfremdungssyndrom, im Original Parental Alienation Syndrome (PAS). | |
| Entwickelt wurde das Konzept von dem Kinder- und Jugendpsychiater Richard | |
| A. Gardner in den 1980er Jahren. Gardner nahm an, dass Kinder | |
| Missbrauchsvorwürfe erfinden, weil Mütter sie ihnen einredeten. Die Mütter | |
| täten dies in der Absicht, das Kind vom Vater zu „entfremden“. | |
| Gardners Ideen waren schon damals hoch umstritten. Heute ist klar, dass PAS | |
| keine psychiatrische Diagnose ist. In die internationalen Klassifikationen | |
| von Krankheiten, dem offiziellen ICD-11-Kodex der | |
| Weltgesundheitsorganisation wurde PAS nicht als Diagnose aufgenommen. | |
| Das Bundesverfassungsgericht beurteilte die Theorie 2023 als | |
| fachwissenschaftlich widerlegt, auch [2][die Ampel-Regierung distanzierte | |
| sich] von ihr. Und trotzdem halten sich solche Annahmen hartnäckig, sagt | |
| die Familienrechtsanwältin Birte Strack vom Deutschen Juristinnenbund. Sie | |
| können das auch, weil hinter ihnen eine mächtige Lobby steht: d[3][ie | |
| Väterrechtler-Bewegung.] Sie entstand in den 1980er und 1990er Jahren als | |
| Reaktion auf die bis dahin gängige Praxis, das Sorgerecht eher Müttern | |
| zuzusprechen. | |
| Galten die frühen Väterrechtler noch als progressiv und liberal, beobachten | |
| Expert:innen in jüngeren Jahren eine zunehmende Radikalisierung der | |
| Bewegung. Sie sehen eine strategische Nähe mit Rechtsextremen. Politisch | |
| und medial sind ihre Vertreter sehr aktiv, geben Fortbildungen für | |
| Familienrichter:innen und Verfahrensbeistände. Das bestätigt auch | |
| Strack: Ihre Mandant:innen sprächen sie immer wieder auf das | |
| Entfremdungssyndrom an, das ihnen auf den Internetseiten von | |
| Väterrechtsgruppen begegnet. Eine Correctiv-Recherche zeigte 2023, wie | |
| Väterrechtler über gezielte Lobbyarbeit versuchen, Justiz und Politik zu | |
| beeinflussen. | |
| Wolfgang Hammer ist Soziologe und beschäftigt sich seit Jahren mit den | |
| Missständen an deutschen Familiengerichten. Vor drei Jahren löste er mit | |
| einer ersten Studie zu dem Thema eine breite Debatte aus. Seine Arbeit wird | |
| seitdem häufig zitiert, ist aber nicht unumstritten. Kritikerinnen | |
| bemängeln, die Auswahl der Fälle sei nicht repräsentativ und zeichne ein | |
| verzerrtes Bild der Justiz. | |
| Für die Studie wertete Hammer 1.000 familienrechtliche Fälle aus, in denen | |
| Gewalt oder Trennungskonflikte eine Rolle spielten. Er analysierte | |
| Gerichtsbeschlüsse, Gutachten und Akten von Jugendämtern und führte | |
| Gespräche mit Betroffenen, Fachanwält:innen und Mitarbeitenden aus | |
| Behörden. | |
| Sein Befund: Familienrichter:innen treffen Entscheidungen häufig | |
| [4][auf Basis mütterfeindlicher Narrative]. Den Frauen werde vorgeworfen | |
| „bindungsintolerant“ oder „manipulativ“ zu sein. Bindungstoleranz | |
| beschreibt die Fähigkeit, die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil | |
| zu unterstützen. Müttern werde laut Hammer zudem oft unterstellt, | |
| Gewaltvorfälle nur zu erwähnen, um den Kontakt zwischen Vater und Kind zu | |
| verhindern. | |
| Dabei dürfte das eigentlich nicht mehr im großen Stil passieren. | |
| Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention, dem | |
| internationalen Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, | |
| verpflichtet, von Gewalt betroffene Frauen und Kinder in Familienverfahren | |
| besser zu schützen. | |
| Grevio, der Expert:innenausschuss des Europarats, überwacht die | |
| Umsetzung der Istanbul-Konvention. In einem Bericht von 2022 kritisierte | |
| der Ausschuss, dass die Sicherheit von Frauen und Kindern in Sorgerechts- | |
| und Umgangsentscheidungen in Deutschland nicht ausreichend berücksichtigt | |
| werde. Und die UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte, Reem | |
| Alsalem, bezeichnete den Umgang mit Frauen und Kindern vor | |
| Familiengerichten in zahlreichen Ländern – darunter auch Deutschland – auf | |
| der Sitzung des UN-Menschenrechtsrats im Jahr 2023 offen als | |
| Menschenrechtsverletzung. | |
| Im Sommer 2024 muss Maria Hartmann erneut vor Gericht. Es soll entschieden | |
| werden, was aus dem Gutachten folgt, das Hartmann attestiert, sie sei nicht | |
| in der Lage, ihr Kind zu erziehen. Leon, Hartmanns Sohn, lebt zu diesem | |
| Zeitpunkt noch bei seiner Mutter. Die Entscheidung über seinen Wohnort | |
| liegt jedoch bei einer vom Gericht eingesetzten Erziehungspflegerin. Seit | |
| der Verhandlung im April 2023 hält diese das Aufenthaltsbestimmungsrecht | |
| inne. Das heißt: Sie entscheidet, bei welchem Elternteil Leon wohnen soll. | |
| Hartmann hat versucht, gegen das Gutachten vorzugehen. Auch ihre Anwältin | |
| bemängelt, dass die Gewaltvorwürfe darin nicht geprüft, dass Beweismittel | |
| nicht gewürdigt wurden. | |
| Und trotzdem: Auf Basis des Gutachtens entscheidet die Erziehungspflegerin, | |
| dass Leon künftig beim Vater leben soll. So geht es aus den Gerichtsakten | |
| hervor. Der Aufenthalt bei der Kindesmutter sei laut der | |
| Erziehungspflegerin eine Kindeswohlgefährdung, ist dort zu lesen. „Dieser | |
| Tag hat mich erschüttert“, erinnert sich Hartmann. Ab diesem Zeitpunkt darf | |
| sie Leon nur noch alle zwei Wochen sehen, einmal pro Woche dürfen sie | |
| telefonieren. | |
| Der Vater erhält erst das Aufenthaltsbestimmungsrecht, später auch das | |
| Sorgerecht für seinen Sohn. Das Familiengericht bewertet das Gutachten als | |
| „schlüssig, logisch aufgebaut und nachvollziehbar“, heißt es in dem | |
| Beschluss. Maria Hartmann würde Leon bewusst manipulieren, deshalb müssten | |
| Umgänge begleitet stattfinden. Beim Vater sei keine Kindeswohlgefährdung zu | |
| erkennen, steht dort weiter. | |
| Dass das Familiengericht dem Gutachten folgt, ist nicht ungewöhnlich. | |
| Richter:innen entscheiden in der Regel selten gegen die Einschätzungen | |
| von Sachverständigen, sagt auch Birte Strack. Gleichzeitig weisen viele | |
| Gutachten Mängel auf. Das zeigt schon eine Studie der Fernuniversität Hagen | |
| aus dem Jahr 2014: In einer Stichprobe von 116 Gutachten hatten mehr als | |
| ein Drittel methodische Fehler. | |
| Im Fall von Maria Hartmann wäre es zu einfach, zu behaupten, dass das | |
| Jugendamt und das Familiengericht leichtfertig gehandelt hätten. Sie haben | |
| zunächst verhindert, dass der Vater seinen Sohn sieht. Sie haben ein | |
| Gutachten in Auftrag gegeben, was die Erziehungsfähigkeit der Eltern | |
| untersuchen sollte. Und dennoch entsteht in Hartmanns Fall der Eindruck, | |
| dass die Gewaltvorwürfe am Ende nicht gegen ihren Mann, sondern gegen sie | |
| selbst ausgelegt wurden. | |
| ## Gegengutachten eingereicht | |
| Um Fälle wie den von Hartmann zu vermeiden, hatte die Ampelkoalition eine | |
| Reform des Familienrechts geplant. Aufgrund des vorzeitigen Koalitionsendes | |
| kam es aber nie zu einer Abstimmung. Auch die aktuelle Regierung will | |
| häusliche Gewalt in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren stärker | |
| berücksichtigen. Das Vorhaben ist jedoch weniger weitreichend als das der | |
| Ampel: Eine klare Ermittlungspflicht oder Risikoanalyse für die Gerichte | |
| fehlt bislang. „Die Beweislast liegt weiterhin bei den Betroffenen. Solange | |
| sich daran nichts ändert, werden die Opfer den Kürzeren ziehen“, sagt | |
| Hartmanns Anwältin. | |
| Maria Hartmann will weiter für ihren Sohn kämpfen. Sie hat ein | |
| Gegengutachten erstellen lassen, von einer Psychologin. Diese kritisiert | |
| das ursprüngliche Gutachten scharf. Sie beschreibt, dass die Mutter keine | |
| psychischen Störungen habe und sie zur Erziehung ihres Kindes in vollem | |
| Umfang fähig sei. Das Gutachten arbeite zudem mit Begriffen wie | |
| „Kooperationsbereitschaft“ und „Bindungstoleranz“, welche nicht | |
| wissenschaftlich messbar oder diagnostizierbar seien. Deshalb habe es einen | |
| „groben Evaluationsfehler“. | |
| Mittlerweile hat Hartmann das Gegengutachten im Rahmen einer Beschwerde | |
| beim Oberlandesgericht eingereicht. Darin beruft sich ihre Anwältin auch | |
| auf die Istanbul-Konvention. Die Mutter hofft, dass dem Vater so das | |
| Sorgerecht wieder entzogen wird und sie Leon zu sich holen kann. | |
| Ob die Beschwerde Erfolg haben wird, hängt davon ab, ob das Gericht | |
| anerkennt, dass das ursprüngliche Gutachten gravierende methodische Mängel | |
| aufweist und dass die häusliche Gewalt gegen Mutter und Kind ignoriert | |
| wurde. | |
| Die Ermittlungen zu Hartmanns Strafanzeigen gegen ihren Exmann laufen noch | |
| immer. Mit ihrer Anwältin kämpft sie darum, dass die Umgänge mit ihrem Sohn | |
| weiter in einem Familienzentrum stattfinden – und nicht mehr im Wohnhaus | |
| ihres Exmannes. Vom Jugendamt kam bisher keine Reaktion. Maria Hartmann | |
| hätte es auch nicht anders erwartet. | |
| Sie hat das Vertrauen in das System längst verloren. | |
| 3 Dec 2025 | |
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