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# taz.de -- Streit um das Sorgerecht: Im Zweifel für den Vater
> Maria Hartmann sagt, sie habe häusliche Gewalt erlebt. Um ihren Sohn zu
> schützen, flieht sie ins Frauenhaus. Dann wird dem Vater das Sorgerecht
> zugesprochen. Warum?
Maria Hartmann wird niemals den Tag vergessen, an dem man ihr Leon
weggenommen hat. Noch am Morgen kuschelt sie mit ihrem dreijährigen Sohn
und spielt mit ihm an seinem Werkzeugkasten. Dann brechen sie gemeinsam zum
Familiengericht auf. Kaum dort angekommen, beschleicht sie ein mulmiges
Gefühl, erzählt Hartmann heute, ein Jahr später. Ein Gefühl, als wäre
bereits eine Entscheidung gefallen.
Bei der Verhandlung sitzt sie im Saal, Leon wartet im Nebenzimmer. In der
Pause darf sie kurz zu ihm. „Wann fahren wir nach Hause, Mama“, fragt er.
„Später“, sagt sie. Eine Stunde später wird verkündet: Leon soll von nun…
bei seinem Vater leben.
Direkt nach der Verhandlung wird er dem Vater übergeben. Hartmann kann sich
nicht einmal von Leon verabschieden.
Ein Jahr nach diesem Tag sitzt Maria Hartmann in einem Café in Magdeburg
und erzählt von dem Gerichtstermin im Juli 2024. Sie ist 39 Jahre alt, eine
schmale Frau mit leiser Stimme und warmem Blick. Einen ganzen Stapel
Dokumente hat sie dabei, außerdem einen USB-Stick. Es sind Schreiben und
Beschlüsse vom Gericht, von Anwälten, Gutachten von Ärzt:innen und
Psychologinnen. Dutzende Seiten, die Hartmanns Kampf dokumentieren – gegen
ihren Ehemann und für ihr Kind.
Maria Hartmann hat einen jahrelangen Rechtsstreit hinter sich. Er begann
mit der Scheidung von ihrem Mann 2022. Geendet hat er vorerst damit, dass
Hartmann im April 2025 das Sorgerecht für ihren jetzt fünfjährigen Sohn
verloren hat. Sie darf ihn nur noch alle zwei Wochen sehen, dort, wo der
Sohn heute lebt: bei seinem Vater. Der hat das alleinige Sorgerecht.
Für Hartmann ist das Haus in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt voll
schlimmer Erinnerungen. Dort, sagt sie, habe sie in ständiger Angst gelebt.
Ihr Ex-Partner habe sie geschlagen, beleidigt und degradiert. Auch den Sohn
soll er geschlagen haben. Die Belege dafür hat Hartmann mitgebracht. Der
Gedanke, in dieses Haus zurückzukehren, löst bei ihr Panikattacken und
Albträume aus, sagt sie.
Seit vier Monaten hat sie deswegen ihren Sohn nicht mehr gesehen. Sie
schafft es einfach nicht, an diesen Ort zurückzukehren.
Maria Hartmann hat ihren Sohn verloren, weil das Gericht und eine
Gutachterin die Gewaltvorwürfe beiseite gewischt haben. Davon sind Hartmann
und ihre Anwältin überzeugt. So legen es auch die Dokumente nahe, die
Hartmann mitgebracht hat. Anstatt das Kind vor dem Vater zu schützen, wurde
die Mutter vor Gericht zur gefährlichen Person erklärt. Als eine, die ihren
Sohn manipuliere. Eine, die ihr Kind vom Vater „entfremden“ könnte, die
„bindungsintolerant“ sei. Die Anwältin, die mit Hartmann das Verfahren
bestritten hat, beschreibt es als „Täter-Opfer-Umkehr“. Für Hartmann kam …
einem „Missbrauch nach dem Missbrauch“ gleich.
Die taz hat auf mehreren Wegen versucht, mit dem Exmann von Maria Hartmann
über seine Version der Geschichte zu sprechen. Sie hat ihn mit den
Gewaltvorwürfen konfrontiert. Der Mann hat ein Gespräch abgelehnt. Seine
Sicht soll hier über die Gerichtsunterlagen einfließen. Die zuständige
Richterin und das Jugendamt dürfen sich nicht zu dem laufenden Verfahren
äußern, sie haben Schweigepflicht. Die Argumentation des Gerichts und die
Einschätzung des Jugendamts lassen sich jedoch über die zahlreichen
Beschlüsse nachverfolgen.
## Frauenfeindliche Narrative?
Was Maria Hartmann erlebt hat, beobachten Expert:innen regelmäßig in
Deutschland: Gerichte ignorieren [1][Vorwürfe von häuslicher Gewalt] in
Familienrechtsverfahren. Anwält:innen raten ihren Klientinnen daher,
Gewaltvorfälle in Sorgerechtsverfahren lieber nicht zu erwähnen – weil sie
ihnen im Zweifel negativ ausgelegt werden können.
Einige Beobachter:innen sehen dahinter den Einfluss einer starken, gut
vernetzten Lobby. Andere berichten, dass sich frauenfeindliche Narrative
und Theorien hartnäckig an deutschen Familiengerichten halten.
Die taz hat mit sechs betroffenen Frauen gesprochen, Gerichtsakten von fünf
Fällen ausgewertet, Chat-Nachrichten und Fotos gesichtet, die die häusliche
Gewalt belegen.
Alle Frauen berichten von ähnlichen Erfahrungen wie Hartmann: Sie sagen,
sie hätten Gewalt erlebt, dennoch lebten ihre Kinder inzwischen beim Vater.
Eine Mutter aus Bayern verlor drei Jahre, nachdem ihr Expartner sie
gewürgt, in eine Tür geklemmt und zu Sex gezwungen haben soll, das
Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre beiden Kinder. „Es hat keinen
interessiert, was mein Exmann mir angetan hat“, sagt sie heute.
Auch eine andere Betroffene erzählt, dass ihre Kinder drei Jahre nach der
Trennung plötzlich beim gewalttätigen Vater lebten: „Er hat einen
Freifahrtschein bekommen, seine Gewalt fortzusetzen.“
Eine Mutter aus Tunesien, die zehn Jahre in München lebte, berichtet, sie
habe sich nach wiederholten Übergriffen getrennt. Zwei Jahre später
entschied das Gericht, dass die Kinder beim Vater leben sollen. „Ich habe
das Gefühl, ich habe als Frau mehr Rechte in Tunesien als hier in
Deutschland“, sagt sie.
Keine der Frauen möchte mit ihrem echten Namen in der Zeitung stehen –
viele fürchten Nachteile vor Gericht oder Reaktionen ihrer Expartner. Auch
Maria Hartmann und ihr Sohn heißen anders.
Maria Hartmann hat zuletzt in einem Supermarkt gearbeitet. Wegen Problemen
an ihrer Wirbelsäule und einer chronischen Entzündungskrankheit kann sie
derzeit nicht arbeiten.
Die Beziehung zu ihrem Exmann sei nur im ersten Jahr harmonisch gewesen,
sagt sie. Die beiden waren in ihrer Jugend für eine kurze Zeit ein Paar,
verloren sich aus den Augen, trafen sich 2015 wieder. Einen Monat später
zieht er bei ihr ein, sie hofft damals, mit ihm ein gemeinsames Leben
aufzubauen.
Nach knapp einem Jahr habe er angefangen, sie zu isolieren, mit ihren
Freunden zu streiten, die Kontrolle über ihre Finanzen zu übernehmen. Ein
Jahr später, im Jahr 2017, soll er zum ersten Mal körperlich gewalttätig
geworden sein. In einer Facebook-Nachricht bezeichnet er sie damals als
„Stück Scheiße“ und „Opfer.“ In einer anderen Nachricht schreibt er:
„Votze, votze, votze, ich hass dich immer mehr, ich schwör es dir.“ In
weiteren Nachrichten droht er ihr mit Gewalt. Im Jahr 2019 soll er ihr die
Nase gebrochen haben, ein Arztbrief bestätigt eine „Nasenbeinfraktur“. Alle
Dokumente und Chats liegen der taz vor.
Im Februar 2020 wird sie unerwartet schwanger. Während der Schwangerschaft
schlägt und beleidigt er sie weiter, erzählt Hartmann. Manchmal
entschuldigt er sich und sie verzeiht ihm. In anderen Momenten spielt sie
mit dem Gedanken zu fliehen, weiß aber nicht wie. Zur Polizei geht sie nie,
sie hat Angst, dass man ihr nicht glaubt. Mit ihrer Mutter hat sie damals
nur sporadisch Kontakt, verschweigt auch ihr gegenüber die Gewalt. Die
Mutter ahnte damals jedoch, dass etwas nicht stimmt, sagt sie im Gespräch
mit der taz und erzählt, dass sie den Mann später selbst gewalttätig erlebt
habe.
Schließlich gelingt es Hartmann, ihren Mann zu überreden, dass er in eine
andere Wohnung im gleichen Haus zieht. Er lässt sich darauf ein, kommt
jedoch immer wieder ungefragt in ihre Wohnung. Hartmann sagt, sie habe zu
viel Angst gehabt, um sich zu wehren.
Im März 2022, da ist Leon eineinhalb Jahre alt, lassen sie sich scheiden.
Ein Arzt stellt im gleichen Monat mehrere Hämatome am Körper von Hartmann
fest: am Nasenbein, unterm Auge, an ihrer Schulter. Fotos aus dieser Zeit
zeigen sie mit geschwollener Lippe, blauem Auge und Prellungen am Bein.
Die Eltern einigen sich darauf, Leon weiter gemeinsam zu betreuen, Hartmann
stimmt der Regelung zu. Aus Angst, wie sie sagt, und nur bis zu einem
Vorfall im Januar 2023.
Da soll der Vater allein mit seinem Kind in dessen Kinderzimmer gewesen
sein. Er sei zu Besuch bei Hartmann in der Wohnung gewesen, so erzählt es
die Mutter. Plötzlich habe sie Schreie aus dem Kinderzimmer gehört,
wutentbrannt sei der Vater aus dem Raum gestürmt. Als Hartmann zu ihrem
Sohn eilt, habe er am Ohr geblutet. Sie wollte sofort zum Arzt, doch ihr
Expartner habe ihr das Handy weggenommen und ihr verboten, das Haus zu
verlassen.
Am nächsten Tag, so erzählt es Hartmann, eskalierte ein weiterer Streit.
Ihr Expartner habe sie mehrmals auf den Kopf geschlagen.
In den Gerichtsunterlagen bestreitet der Mann, dass er Hartmann jemals
körperlich angegriffen habe. Er sei lediglich mal laut geworden oder habe
Türen geknallt. Er wirft wiederum Maria Hartmann vor, dass sie Leon
geschlagen habe. „Mein Exmann hat versucht, alle Tatsachen umzudrehen“,
sagt Hartmann.
Sie habe ihr Kind nie geschlagen. Im gesamten Rechtsstreit hat ihr Mann
keine stichhaltigen Belege für seine Behauptungen vorgelegt. Es gibt weder
ärztliche Gutachten noch Aussagen von Psychologinnen oder anderen
Zeug:innen, die darauf hindeuten, dass Hartmann ihrem Kind gegenüber
gewalttätig gewesen sei. In den Schriftsätzen der Anwälte ist lediglich von
Sprachnotizen die Rede, in denen sie zugegeben haben soll, dass sie ihr
Kind geschlagen hat.
Hartmann sagt, ihr Exmann habe sie gezwungen, diese Aufnahmen zu erstellen.
Eine soll nach dem Vorfall im Januar entstanden sein. Als ihr Exmann sie
fragte, ob sie Leon schlage, habe sie aus Angst „ja“ gesagt, damit die
Gewalt aufhört, schildert Hartmann. Ihre Anwältin beantragte, die Aufnahmen
nicht als Beweismittel aufzunehmen. Sie durften dann – zumindest offiziell
– auch nicht im Verfahren verwendet werden. Die Entscheidung könnten sie
aber dennoch beeinflusst haben.
## Verletzungen dokumentiert
Drei Tage nach dem Streit flieht Hartmann mit ihrem Sohn aus der Wohnung.
Ihr erster Weg führt sie zu ihrem Hausarzt, der die Verletzungen
dokumentiert.
In dem Befundbericht vom 31. Januar 2023, der der taz vorliegt, steht: „Bei
der Patientin fanden sich Zeichen von äußerer Gewaltanwendung. Es wurden
Hämatome an der rechten Schläfe sowie ein Taubheitsgefühl des Ohres
festgestellt.“ Auch bei Leon dokumentiert der Arzt „eine Beule an den
Stirnbeinhöckern und eine Risswunde am Ohr“.
Hartmann erstattet Strafanzeige gegen ihren Exmann und zieht für fast acht
Monate in zwei Frauenhäuser.
Nach dem Vorfall Ende Januar stellen Hartmann und ihr Exmann bei Gericht
jeweils einen Antrag auf das alleinige Sorgerecht. Die Mutter beantragt
zudem ein Gewaltschutzverfahren. Anders als bei vielen anderen Betroffenen
von häuslicher Gewalt thematisiert und belegt ihre Anwältin die mutmaßliche
Gewalt von Anfang an.
Wenn sich Eltern trennen und sich nicht darüber einigen können, wer für die
Kinder sorgt, wer sie betreut, kommt es zu einem Verfahren vor dem
Familiengericht. In Fällen von häuslicher Gewalt sind Trennungen besonders
konfliktreich, sie werden deshalb meist vor dem Familiengericht verhandelt.
Das Sorgerecht regelt Erziehung, Betreuung und Versorgung des Kindes. Das
Umgangsrecht regelt, wie oft Eltern mit ihren Kindern Zeit verbringen und
Kontakt haben dürfen.
Häusliche Gewalt ist vor Gericht oft schwer zu beweisen – meist steht
Aussage gegen Aussage. Die Familiengerichte sind nicht für die
strafrechtliche Aufklärung zuständig. Sie ermitteln nicht selbst, befragen
keine Zeug:innen oder prüfen keine Beweise, wie es in einem
Strafverfahren der Fall wäre. Doch sie können Mütter wie Hartmann schützen
– etwa durch Umgangsbeschränkungen oder Kontaktverbote. Außerdem muss das
Gericht prüfen, ob die Gewaltvorwürfe das Kindeswohl beeinträchtigen. Ziel
ist immer eine Lösung, die für das Kind am besten ist.
Leicht sind solche Verfahren nie. Wenn Kinder involviert sind, sind sie
häufig hoch emotional. Kommt dann noch ein Gewaltvorwurf dazu, stehen
Richter:innen oft vor einem Dilemma: Sprechen sie das Kind jenem
Elternteil zu, das mutmaßlich gewalttätig ist? Oder enthalten sie jemandem
sein Kind vor, weil Vorwürfe im Raum stehen, die nicht bewiesen sind?
In den Verfahren werden meist das Jugendamt, Gutachter:innen sowie
sogenannte Verfahrensbeistände hinzugezogen. Sie reden mit den Eltern und
Kindern, um sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Liegen keine
eindeutigen Beweise für die Gewalt vor, kann der Gewaltvorwurf als
Falschbehauptung gewertet werden – als Versuch, den anderen Elternteil zu
diffamieren. Im Extremfall kann das der Betroffenen in den Fragen über das
Sorge- und Umgangsrecht schaden.
Als über Hartmanns Fall entschieden wird, sind die strafrechtlichen
Ermittlungen gegen den Vater noch nicht abgeschlossen. Das Gericht beruft
sich darauf, dass bislang nichts bewiesen sei, so erzählt es ihre Anwältin.
Dennoch trifft das Gericht zunächst immer wieder auch Entscheidungen, die
Maria Hartmann und ihr Kind schützen sollen.
Zum Beispiel verbietet das Gericht dem Exmann Ende März 2023, sich Maria
Hartmann zu nähern. Er verstößt mehrmals dagegen, wie aus den Gerichtsakten
hervorgeht. Laut Hartmann fand er heraus, in welchem Frauenhaus sie sich
aufhielt, tauchte dort mehrmals auf, um sie einzuschüchtern.
Ende März 2023 treffen sich Hartmann und ihr Exmann auch vor Gericht.
Hartmann thematisiert die Gewalt, ihr Exmann behauptet, sie habe ein
Alkohol- und Drogenproblem. Aufgrund der gegenseitigen Beschuldigungen
entzieht das Familiengericht beiden Eltern mit ihrer Zustimmung das
Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Umgangsrecht. Das Kind kommt zur
Mutter, für Fragen der Gesundheitsfürsorge und Kita-Angelegenheiten ist
aber fortan das Jugendamt zuständig.
„Das wurde mir so verkauft, als müsste ich mich so nicht weiter mit meinem
Exmann auseinandersetzen“, sagt Hartmann. Deshalb habe sie sich darauf
eingelassen. Später habe sie das bereut.
Der Vater darf den Sohn in regelmäßigen Abständen sehen, doch das
eskaliert, erzählt Hartmann. Leon habe nicht zum Vater gehen wollen. Nach
den Treffen mit dem Vater habe er nachts geschrien und um sich getreten.
Einmal habe er sich geweigert, auf die Toilette zu gehen. Auf Nachfrage
habe Leon gesagt, dass sein Vater ihm an seinem „Pullermann“ wehtue. Die
Mutter hat dieses Gespräch mit ihrem Sohn aufgenommen, der taz liegt die
Tonaufnahme vor. Das Gericht darf diese Sprachaufnahme nicht verwenden.
Auch die Psychologin des Frauenhauses schreibt, dass Leon anfangs, nach dem
Einzug ins Frauenhaus, angespannt und unsicher gewesen sei. Er habe andere
Mitbewohnerinnen getreten, gehauen und gebissen. Sein Verhalten habe sich
aber in den wenigen Wochen im Frauenhaus verbessert. Aber: „Mit Beginn der
gerichtlich angeordneten Umgänge zum Kindesvater zeigten sich deutliche
Rückschritte in der positiven Entwicklung“, fasst sie in einer
Stellungnahme zusammen.
## 75 Seiten Gutachten
Nach der Toiletten-Episode ruft Hartmann die Kinderärztin an und schildert
die Aussagen von Leon. Die Ärztin bittet das Jugendamt, die Umgänge mit dem
Vater auszusetzen und dieses kommt der Bitte nach. Drei Monate lang sieht
Leon seinen Vater nicht.
Der Vater bestreitet laut der Dokumente immer wieder, dass er gegenüber
seinem Sohn gewalttätig wurde.
Das Gericht gibt schließlich ein Gutachten in Auftrag, das feststellen
soll, ob die beiden Eltern in der Lage sind, ihr Kind zu erziehen. Eine
Gutachterin, eine Psychologin, spricht dafür mit beiden Eltern und
beobachtet sie gemeinsam mit Leon. Sie spricht auch mit Leon allein. Das
75-seitige Dokument wird entscheidend dafür sein, dass das Sorgerecht im
April 2025 dem Vater zugesprochen wird.
Das Gutachten erwähnt die Gewaltvorwürfe, prüft aber nicht, ob sie
plausibel sind oder Auswirkungen auf Mutter und Kind haben könnten.
Stattdessen interpretiert die Gutachterin Hartmanns Angst vor ihrem
Expartner als „paranoide Tendenz“ und bezeichnet sie als stark belastet und
überfordert. Hartmanns Sorge um ihren Sohn nach den Umgängen sieht sie als
Zeichen von mangelnder „Bindungstoleranz“ und „Manipulation“.
Widersprüchliche Aussagen des Kindes – einmal berichtet Leon, der Vater
habe ihn geschlagen, ein anderes Mal verneint er dies – interpretiert die
Gutachterin nicht als Hinweis auf mögliche Angst oder Verunsicherung,
sondern als Beleg für den Einfluss der Mutter, die „eine Ablehnung seines
Vaters“ fördere.
Den Umgang zwischen Vater und Sohn beschreibt die Gutachterin wiederum als
liebevoll und harmonisch. Zwar wird erwähnt, dass er schon mal wegen
Körperverletzung in Haft saß, bewertet wird dies aber nicht weiter.
Der Vater bestreitet die Gewaltvorwürfe stets, er habe lediglich einmal ein
„Loch in den Tisch gekloppt“. Außerdem gibt er Hartmanns angebliches
Drogen- und Alkoholproblem zu Protokoll. Belege dafür nennt das Gutachten
nicht. Dass Hartmann medizinisches Cannabis nur wegen einer chronischen
Erkrankung konsumiert, wird erwähnt, aber nicht weiter thematisiert. Ein
Attest hierfür liegt der taz vor.
Die Gutachterin beschreibt Leon als unsicher im Kontakt, mit einer geringen
Frustrationstoleranz und impulsivem Verhalten. Diese Auffälligkeiten führt
sie auf die Erziehung der Mutter zurück. Hartmann habe „Schwierigkeiten,
die kindlichen Bedürfnisse von den eigenen Ängsten zu trennen“. Als Beleg
wird etwa genannt, dass ihr die Übergabe von Leon an den Vater schwerfalle.
Die vergangenen Jahre haben bei Maria Hartmann Spuren hinterlassen. In
einem Schreiben, das der taz vorliegt, führt ihre Psychologin aus, dass
Hartmann aufgrund der Partnerschaftsgewalt und der intensiven
familiengerichtlichen Auseinandersetzung zeitweise stark von Ängsten
geprägt und antriebslos war. Auch die Gutachterin sieht „Verhaltensweisen
einer traumatisierten“ Persönlichkeit – setzt diese aber nicht mit der
mutmaßlichen Gewalt in Verbindung.
## Keine psychiatrische Diagnose
„Bindungsintolerant“, „manipulativ“, „Entfremdung“ – das sind Beg…
in vielen dieser Verfahren auftauchen. Es sind Schlagworte, die viele
Frauen über sich lesen, bevor sie ihre Kinder verlieren. Sie sind die
Vokabeln einer wissenschaftlich widerlegten Theorie, dem Elterlichen
Entfremdungssyndrom, im Original Parental Alienation Syndrome (PAS).
Entwickelt wurde das Konzept von dem Kinder- und Jugendpsychiater Richard
A. Gardner in den 1980er Jahren. Gardner nahm an, dass Kinder
Missbrauchsvorwürfe erfinden, weil Mütter sie ihnen einredeten. Die Mütter
täten dies in der Absicht, das Kind vom Vater zu „entfremden“.
Gardners Ideen waren schon damals hoch umstritten. Heute ist klar, dass PAS
keine psychiatrische Diagnose ist. In die internationalen Klassifikationen
von Krankheiten, dem offiziellen ICD-11-Kodex der
Weltgesundheitsorganisation wurde PAS nicht als Diagnose aufgenommen.
Das Bundesverfassungsgericht beurteilte die Theorie 2023 als
fachwissenschaftlich widerlegt, auch [2][die Ampel-Regierung distanzierte
sich] von ihr. Und trotzdem halten sich solche Annahmen hartnäckig, sagt
die Familienrechtsanwältin Birte Strack vom Deutschen Juristinnenbund. Sie
können das auch, weil hinter ihnen eine mächtige Lobby steht: d[3][ie
Väterrechtler-Bewegung.] Sie entstand in den 1980er und 1990er Jahren als
Reaktion auf die bis dahin gängige Praxis, das Sorgerecht eher Müttern
zuzusprechen.
Galten die frühen Väterrechtler noch als progressiv und liberal, beobachten
Expert:innen in jüngeren Jahren eine zunehmende Radikalisierung der
Bewegung. Sie sehen eine strategische Nähe mit Rechtsextremen. Politisch
und medial sind ihre Vertreter sehr aktiv, geben Fortbildungen für
Familienrichter:innen und Verfahrensbeistände. Das bestätigt auch
Strack: Ihre Mandant:innen sprächen sie immer wieder auf das
Entfremdungssyndrom an, das ihnen auf den Internetseiten von
Väterrechtsgruppen begegnet. Eine Correctiv-Recherche zeigte 2023, wie
Väterrechtler über gezielte Lobbyarbeit versuchen, Justiz und Politik zu
beeinflussen.
Wolfgang Hammer ist Soziologe und beschäftigt sich seit Jahren mit den
Missständen an deutschen Familiengerichten. Vor drei Jahren löste er mit
einer ersten Studie zu dem Thema eine breite Debatte aus. Seine Arbeit wird
seitdem häufig zitiert, ist aber nicht unumstritten. Kritikerinnen
bemängeln, die Auswahl der Fälle sei nicht repräsentativ und zeichne ein
verzerrtes Bild der Justiz.
Für die Studie wertete Hammer 1.000 familienrechtliche Fälle aus, in denen
Gewalt oder Trennungskonflikte eine Rolle spielten. Er analysierte
Gerichtsbeschlüsse, Gutachten und Akten von Jugendämtern und führte
Gespräche mit Betroffenen, Fachanwält:innen und Mitarbeitenden aus
Behörden.
Sein Befund: Familienrichter:innen treffen Entscheidungen häufig
[4][auf Basis mütterfeindlicher Narrative]. Den Frauen werde vorgeworfen
„bindungsintolerant“ oder „manipulativ“ zu sein. Bindungstoleranz
beschreibt die Fähigkeit, die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil
zu unterstützen. Müttern werde laut Hammer zudem oft unterstellt,
Gewaltvorfälle nur zu erwähnen, um den Kontakt zwischen Vater und Kind zu
verhindern.
Dabei dürfte das eigentlich nicht mehr im großen Stil passieren.
Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention, dem
internationalen Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen,
verpflichtet, von Gewalt betroffene Frauen und Kinder in Familienverfahren
besser zu schützen.
Grevio, der Expert:innenausschuss des Europarats, überwacht die
Umsetzung der Istanbul-Konvention. In einem Bericht von 2022 kritisierte
der Ausschuss, dass die Sicherheit von Frauen und Kindern in Sorgerechts-
und Umgangsentscheidungen in Deutschland nicht ausreichend berücksichtigt
werde. Und die UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte, Reem
Alsalem, bezeichnete den Umgang mit Frauen und Kindern vor
Familiengerichten in zahlreichen Ländern – darunter auch Deutschland – auf
der Sitzung des UN-Menschenrechtsrats im Jahr 2023 offen als
Menschenrechtsverletzung.
Im Sommer 2024 muss Maria Hartmann erneut vor Gericht. Es soll entschieden
werden, was aus dem Gutachten folgt, das Hartmann attestiert, sie sei nicht
in der Lage, ihr Kind zu erziehen. Leon, Hartmanns Sohn, lebt zu diesem
Zeitpunkt noch bei seiner Mutter. Die Entscheidung über seinen Wohnort
liegt jedoch bei einer vom Gericht eingesetzten Erziehungspflegerin. Seit
der Verhandlung im April 2023 hält diese das Aufenthaltsbestimmungsrecht
inne. Das heißt: Sie entscheidet, bei welchem Elternteil Leon wohnen soll.
Hartmann hat versucht, gegen das Gutachten vorzugehen. Auch ihre Anwältin
bemängelt, dass die Gewaltvorwürfe darin nicht geprüft, dass Beweismittel
nicht gewürdigt wurden.
Und trotzdem: Auf Basis des Gutachtens entscheidet die Erziehungspflegerin,
dass Leon künftig beim Vater leben soll. So geht es aus den Gerichtsakten
hervor. Der Aufenthalt bei der Kindesmutter sei laut der
Erziehungspflegerin eine Kindeswohlgefährdung, ist dort zu lesen. „Dieser
Tag hat mich erschüttert“, erinnert sich Hartmann. Ab diesem Zeitpunkt darf
sie Leon nur noch alle zwei Wochen sehen, einmal pro Woche dürfen sie
telefonieren.
Der Vater erhält erst das Aufenthaltsbestimmungsrecht, später auch das
Sorgerecht für seinen Sohn. Das Familiengericht bewertet das Gutachten als
„schlüssig, logisch aufgebaut und nachvollziehbar“, heißt es in dem
Beschluss. Maria Hartmann würde Leon bewusst manipulieren, deshalb müssten
Umgänge begleitet stattfinden. Beim Vater sei keine Kindeswohlgefährdung zu
erkennen, steht dort weiter.
Dass das Familiengericht dem Gutachten folgt, ist nicht ungewöhnlich.
Richter:innen entscheiden in der Regel selten gegen die Einschätzungen
von Sachverständigen, sagt auch Birte Strack. Gleichzeitig weisen viele
Gutachten Mängel auf. Das zeigt schon eine Studie der Fernuniversität Hagen
aus dem Jahr 2014: In einer Stichprobe von 116 Gutachten hatten mehr als
ein Drittel methodische Fehler.
Im Fall von Maria Hartmann wäre es zu einfach, zu behaupten, dass das
Jugendamt und das Familiengericht leichtfertig gehandelt hätten. Sie haben
zunächst verhindert, dass der Vater seinen Sohn sieht. Sie haben ein
Gutachten in Auftrag gegeben, was die Erziehungsfähigkeit der Eltern
untersuchen sollte. Und dennoch entsteht in Hartmanns Fall der Eindruck,
dass die Gewaltvorwürfe am Ende nicht gegen ihren Mann, sondern gegen sie
selbst ausgelegt wurden.
## Gegengutachten eingereicht
Um Fälle wie den von Hartmann zu vermeiden, hatte die Ampelkoalition eine
Reform des Familienrechts geplant. Aufgrund des vorzeitigen Koalitionsendes
kam es aber nie zu einer Abstimmung. Auch die aktuelle Regierung will
häusliche Gewalt in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren stärker
berücksichtigen. Das Vorhaben ist jedoch weniger weitreichend als das der
Ampel: Eine klare Ermittlungspflicht oder Risikoanalyse für die Gerichte
fehlt bislang. „Die Beweislast liegt weiterhin bei den Betroffenen. Solange
sich daran nichts ändert, werden die Opfer den Kürzeren ziehen“, sagt
Hartmanns Anwältin.
Maria Hartmann will weiter für ihren Sohn kämpfen. Sie hat ein
Gegengutachten erstellen lassen, von einer Psychologin. Diese kritisiert
das ursprüngliche Gutachten scharf. Sie beschreibt, dass die Mutter keine
psychischen Störungen habe und sie zur Erziehung ihres Kindes in vollem
Umfang fähig sei. Das Gutachten arbeite zudem mit Begriffen wie
„Kooperationsbereitschaft“ und „Bindungstoleranz“, welche nicht
wissenschaftlich messbar oder diagnostizierbar seien. Deshalb habe es einen
„groben Evaluationsfehler“.
Mittlerweile hat Hartmann das Gegengutachten im Rahmen einer Beschwerde
beim Oberlandesgericht eingereicht. Darin beruft sich ihre Anwältin auch
auf die Istanbul-Konvention. Die Mutter hofft, dass dem Vater so das
Sorgerecht wieder entzogen wird und sie Leon zu sich holen kann.
Ob die Beschwerde Erfolg haben wird, hängt davon ab, ob das Gericht
anerkennt, dass das ursprüngliche Gutachten gravierende methodische Mängel
aufweist und dass die häusliche Gewalt gegen Mutter und Kind ignoriert
wurde.
Die Ermittlungen zu Hartmanns Strafanzeigen gegen ihren Exmann laufen noch
immer. Mit ihrer Anwältin kämpft sie darum, dass die Umgänge mit ihrem Sohn
weiter in einem Familienzentrum stattfinden – und nicht mehr im Wohnhaus
ihres Exmannes. Vom Jugendamt kam bisher keine Reaktion. Maria Hartmann
hätte es auch nicht anders erwartet.
Sie hat das Vertrauen in das System längst verloren.
3 Dec 2025
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