| # taz.de -- Die Kunst der Woche: Sich einfach mal dem Camp hingeben | |
| > Bei Capitain Petzel bringt Matthew Lutz-Kinoy die Räume zum Tanzen. Bei | |
| > Stations am Kotti machen Kathrin Wojtowicz & Anna Holtz die Architektur | |
| > porös. | |
| Bild: Matthew Lutz-Kinoy: „Bolero Bordello“, Installationsansicht bei Capit… | |
| Der New Yorker Künstler Matthew Lutz-Kinoy übergibt einfach dem Raum die | |
| Performance. Seine Ausstellung „Bolero Bordello“ ist Kulisse, Bühne und | |
| Zuschauerraum zugleich. Transparente Stoffbahnen hängen von den meterhohen | |
| Decken des gläsernen, ostmodernen Pavillonbaus an der Karl Marx-Allee der | |
| Galerie [1][Capitain Petzel.] | |
| Sie sind bemalt mit breiten Schlieren und Rundungen. Überall tauchen die | |
| Silhouetten tanzender Körper auf, sie sind auf dem Musselin-Stoff zu sehen, | |
| oder ihre sich bäugenden, krümmenden, zum Sprung ansetzenden Gestalten | |
| schimmern von den vielen Leinwänden in der Galerie durch ihn hindurch, | |
| schmiegen sich in den Augenwinkel, stehen manchmal direkt vor einem. | |
| Lutz-Kinoys Kunst ist eine Art sanfter Ekklektizismus: Seine ausgestellten | |
| Malereien zeigen pastellfarbene Anleihen an den Rokoko, haben die | |
| großgestischen Pinselstriche des Informel und die androgynen Tanzenden | |
| wirken wie aus der Zeit des frühen Expressionismus auf seine Bilder | |
| gekommen. | |
| Deren Figuren und Bewegungen hat Lutz-Kinoy dem berühmten Ballet Russe | |
| nachempfunden, dem Avantgarde-Ballettensemble, gegründet von dem russischen | |
| Impresario Sergei Djagilew. Aufsehenerregend muss 1910 seine Uraufführung | |
| von Igor Strawinskys „Feuervogel“ im Pariser Théatre National de l’Opéra | |
| gewesen sein. Eine Figurine, die der russisch-französische Bühnenbildner | |
| Léon Bakst zu dieser Aufführung angefertigt hatte, ähnelt Lutz-Kinoys | |
| scherenschnittartigen Körpern und den runden Gesichtern. | |
| Und in diese sinnliche Zusammenkunft der Künste setzt der 1984 geborene | |
| Lutz-Kinoy noch riesige Rosen. Auf Lampions, die von der Decke hängen, und | |
| auf seine großformatigen Leinwände. Überzogene, theatrale, rote Rosen. | |
| Manch eine seiner runden, abstrakten Formen auf den Gemälden wirkt dann wie | |
| ein rosiger Popo oder ein üppiger Schenkel, der sich an die Blütenknospe | |
| schmiegt. Ganz viel Camp schwingt also durch diesen Raum. Man darf sich ihm | |
| hingeben und davon bespielen lassen. | |
| ## In die Architektur eingeschrieben | |
| Wie sich der Raum sozial wandeln kann und sich dies in die Architektur | |
| einschreibt, davon handelt die trocken mit „Areal“ betitelte Ausstellung | |
| von Kathrin Wojtowicz und Anna Holtz bei [2][Stations im Neuem Kreuzberger | |
| Zentrum] (NKZ) am Kottbusser Tor. In jenem mächtigen, 1974 | |
| fertiggestellten, halbkreisförmigen Gebäuderiegel, Produkt des Westberliner | |
| Stadtsanierungswahns, für dessen 367 Wohnungen auf 12 Etagen derart viel | |
| Stahlbeton verbaut wurde, dass er praktisch unsanierbar ist. | |
| Anna Holtz tapezierte Kopien einer Akte zum NKZ aus dem Stadtarchiv an die | |
| Wände des Ausstellungsraums. Vom Unmut der Mieter:innen in den | |
| Sozialwohnungen des schnell heruntergekommenen Baus liest man dort, wie | |
| sich eine Initiative der eigentlich migrantisch geprägten Bewohnerschaft | |
| 1977 nur an „rein deutsche Mieter“ richtete. „Ich habe generell nichts | |
| gegen Ausländer, aber es sind zu viele Türken hier“, wird jemand in der | |
| Akte zitiert. | |
| Quasi als innenarchitektonisches Gegenstück zu solch xenophober | |
| Geschlossenheit tauschte die in Berlin lebende Holtz einige der | |
| charakteristischen 1970er-Jahre-Deckenpaneele mit denjenigen aus dem Café | |
| Kotti nebenan aus. Zu den hellen White-Cube-Exemplaren des | |
| Ausstellungsraums gesellen sich nun die nikotinvergilbten der Kneipe. Sie | |
| sind von den Café-Kotti-Gästen gestaltet worden: Eine kitschige | |
| Stadtsilhouette, psychedelische Kritzeleien, eine Lady in SM-Lederkluft, | |
| was den Leuten halt beim Bier in den Sinn kommt. | |
| Im Zuge behutsamen Stadterneuerung im Kreuzberg der 1980er-Jahre wurde das | |
| öffentlich vielfach kritisierte NKZ wieder umgewandelt. Man nahm ihm seine | |
| Riegelhaftigkeit und öffnete es mit Passagen zu den umliegenden Straßen. | |
| Öffnen, dafür braucht man Türen. Nach dieser einfachen Formel ließ die in | |
| Wien lebende Kathrin Wojtowicz Fotoaufnahmen von Türen und Toren auf | |
| Spiegeln drucken. Auf den matt reflektierenden Spiegelflächen zeichnet die | |
| körnige Druckfarbe mal Aufzugtüren, Rollläden oder die Nahaufnahme einer | |
| Türklinke des Borkenhauses auf der Pfaueninsel ab. Eine skurille | |
| Aneinanderreihung ist das, ganz clean mit kleinen Metallkettchen an die | |
| sauberen Wände gehängt. Obwohl: Sauber, seltsam, anders, dreckig, solche | |
| Kategorien gilt es hier auch einfach mal zu missachten. | |
| 12 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.capitainpetzel.de/ | |
| [2] https://stations.zone/about/ | |
| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
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