| # taz.de -- Die Kunst der Woche: Bäume sind die großen Alchemisten unserer We… | |
| > In der Zitadelle Spandau ist eine Retrospektive von Vera Mercer zu sehen. | |
| > Im Haus am Kleistpark geht's in Fotos von Loredana Nemes um „Haut und | |
| > Holz“. | |
| Bild: Vera Mercer, The Crab, 2009 | |
| Die Natur ist das Thema von Vera Mercer, deren große Retrospektive derzeit | |
| in der Zitadelle Spandau zu sehen ist. Richtig besehen heißt es allerdings | |
| Nature morte. Die 1936 in Berlin geborene Fotografin wollte ursprünglich | |
| Gärtnerin werden. Tatsächlich wurde sie Tänzerin und lernte am | |
| Landestheater Darmstadt den ebenfalls dort tanzenden Daniel Spoerri kennen, | |
| den sie 1958 heiratete. Ein Jahr später zog das Paar nach Paris, wo es in | |
| der Kunstszene Fuß fasste. Als Spoerri damals seiner Frau eine Kamera | |
| schenkte, war ihr weiterer künstlerischer Werdegang entschieden. Zunächst | |
| knipste sie einfach die Freunde wie Jean Tinguely, Samuel Beckett, Marcel | |
| Duchamp, und darunter ein ganz bezaubernd aussehender junger Gerard | |
| Depardieu, wie im [1][Zentrum für Aktuelle Kunst] (ZAK) zu sehen. | |
| Nach der Scheidung von Spoerri beginnt sie in den Pariser Hallen eine große | |
| Serie zu fotografieren, in deren Zentrum die Schlachter standen. Schon da | |
| war zu sehen, was ihre spätere Fotografie auszeichnen sollte: Ihr | |
| einzigartiges Gespür für die Verbindung von Grausamkeit und Opulenz, die | |
| sie in hochästhetischen Aufnahmen feiert. | |
| In Paris fotografierte sie bald darauf die Menschen im Restaurant beim | |
| Essen. Was natürlich viel interessanter ist als die Bilder, die Menschen | |
| heute von ihrem Essen machen. Noch fotografiert sie Schwarzweiß und ihre | |
| Bilder erinnern an Brassais Nachtaufnahmen in Pariser Bars und Restaurants | |
| aus den 1930er Jahren. | |
| 1970 heiratet sie Mark Mercer, einen Geschäftsmann, mit dem sie in Omaha, | |
| Nebraska, alte Gebäude renoviert. In sie ziehen dann Galerien, kleine | |
| Theater und Buchhandlungen ein, vor allem aber von ihnen selbst betriebene | |
| Cafés und Restaurants. Essen, seine Materialien, seine Zubereitung und | |
| seine Präsentation, bleiben also ihr Thema – auf das sie sich ab den 1990er | |
| Jahren vollkommen einschießt, möchte man sagen. | |
| ## Großartige Stillleben | |
| Denn nun arrangiert sie die zum Verzehr bestimmten Tiere, Fische, Pilze, | |
| Gemüse und Früchte zusammen mit dem Tafelsilber, den Gläsern und Karaffen, | |
| dem Blumenschmuck und dem weißen Tischtuch zu großartigen Stillleben. Ihr | |
| „Old wild turkey head“ (2011) entspricht ganz der durch niederländische | |
| Jagdstillleben oder die flämischen Küchenstücke des 17. Jahrhunderts | |
| geprägten Erwartung an Schönheit und Tod in der Nature morte. Die tote Haut | |
| schillert im riesigen Farbformat und die prachtvollen Truthahnfedern | |
| glänzen besonders effektvoll. | |
| Doch immer unverblümter – bei aller beibehaltenen Blumenpracht der | |
| Arrangements – zeigt sie die Gewalttätigkeit unseres Handelns: Sie zeigt | |
| das tote Tier gehäutet, ausgeweidet und zerstückelt. So die schneeweißen | |
| „Calf’s Feet“ (2012), die sie gegen eine schmuddelige Wand gelehnt hat – | |
| streng in einer Reihe mit Silberbesteck, einer niedergerannten Kerze und | |
| einer schneeweißen Fenchelknolle. | |
| Was Mercers Stillleben deutlich in unserer Zeit verankert, ist der | |
| Surrealismus, der die Bilder in anmutigen, dabei aber grotesken | |
| Zusammenstellungen prägt. Dazu sind die Arrangements zuletzt eher | |
| zweidimensional aufgebaut, die Dinge sind also aneinander gereiht, anstatt | |
| sie in Neo-Barock-Pracht üppig in die Tiefe anzuordnen. Tatsächlich | |
| entwickelt Vera Mercer bei aller Verneigung vor den klassischen Stillleben | |
| ihren ganz eigenen Stil von Schönheit, in dem nichts beschönigt wird. | |
| Bis 11. Januar, Zentrum für Aktuelle Kunst, Berlin-Spandau, Zitadelle, Am | |
| Juliusturm 64, Fr.-Mi. 10–17 Uhr, Do. 13–20 Uhr | |
| Die Bäume von Loredana Nemes muss man gesehen haben. Welche Schönheiten! | |
| Welch grandiose Aufnahmen. Wann passiert es schon, dass man sich ganz und | |
| gar in das Motiv vertieft und dabei das Bild doch nicht aus den Augen | |
| verliert? | |
| Das Bild von der besonderen Anmut der Bäume im Frühling, von den schlanken | |
| Stämmen im lichten Schleier der ersten zarten Blätter. Wenn Loredana Nemes | |
| die Bäume später im Jahr fotografiert, fällt auf, wie sehr ihr volles Laub | |
| das Bild zu einem Spiel von Licht und Schatten macht. Die nackten Stämme | |
| dann im Herbst und Winter treten den Betrachter:innen dann wie eine | |
| abstrakte Wand vertikaler Linien entgegen. | |
| In den Schwarzweiß-Aufnahmen zeigt sich eine große Hingabe und Geduld, die | |
| richtigen Bäume am richtigen Ort zu finden, um sie dann im richtigen Licht | |
| festzuhalten. Im [2][Haus am Kleistpark], wo Loredana Nemes unter dem Titel | |
| „Haut und Holz“ vier Fotozyklen aus den letzten sechs Jahren zeigt, | |
| beherrscht der Zyklus „Graubaum und Himmelmeer“ (2019–23) die große | |
| Ausstellungshalle. Man glaubt, die Bäume vom Spaziergang an der Havel und | |
| am Wannsee zu kennen. | |
| Tatsächlich hat Nemes sie auf der Insel Rügen in Mecklenburg-Vorpommern | |
| entdeckt. Sie stehen nahe am Ufer und das Wasser im Hintergrund erscheint | |
| oft nur als helle Fläche, manchmal mit einem kaum merklichen Horizont. In | |
| einem Licht, als wären sie von großen Scheinwerfern angestrahlt, ragen | |
| davor die Buchen empor. Man sieht sie in der Erde wurzeln, ihre Kronen | |
| allerdings sind nicht im Bild. Die Scheinwerfer können aber nur als ein | |
| einziger sein: die Sonne. Aber wie sie die Szenerie beleuchtet, ist schwer | |
| erklärlich, unmerklich fast und dann doch so dramatisch. | |
| ## In strahlendes silbriges Licht getaucht | |
| Zwischen die Bäume sind einzelne Aufnahmen vom Meer gehängt. Manchmal | |
| schwebt eine Wolke über dem dunklen Wasser, das ein anderes Mal in | |
| strahlendes silbriges Licht getaucht ist, und dann wieder erscheint es als | |
| eine schwarze Fläche unter einem wolkenlosen, undefinierbaren Himmel. | |
| Man denkt an Hiroshi Sugimotos „Seascapes“, während die Baumstämme an die | |
| neusachliche Natur von Albert Renger-Patzsch erinnern. Selbstverständlich | |
| sind auch die anderen Werkgruppen zu Sizilien, zur Liebe und „White“ mit | |
| den schneebedeckten Tannen in den Alpen großartig und verdienen eine eigene | |
| Würdigung. | |
| In den Bäumen aber scheint ein besonderes Wissen auf. Wir sind ihre | |
| Geschöpfe, als atmende Tiere. Denn die Bäume sind die großen Alchemisten | |
| unserer Welt. Mithilfe von Sonnenlicht gewinnen sie nährenden Zucker aus | |
| Wasser und Kohlenstoff, wobei Sauerstoff abfällt. Wir atmen ihn ein wenig | |
| bewusster im Haus am Kleistpark. | |
| Bis 14. Dezember, [3][Haus am Kleistpark], Berlin-Schöneberg, Grunewaldstr. | |
| 6–7, Di.–So. 11–18 Uhr; Künstlergespräch mit Ulrich Domröse am 19. | |
| November, 19 Uhr | |
| 4 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.zitadelle-berlin.de/zentrum-fuer-aktuelle-kunst/ | |
| [2] https://www.hausamkleistpark.de/ | |
| [3] https://www.hausamkleistpark.de/exhibitions/loredana-nemes/ | |
| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
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