| # taz.de -- Duisburger Filmwoche: Unsichtbares Personal und würdiges Sterben | |
| > Die Filmwoche in Duisburg zeigt Dokumentarfilme über Freiräume auch unter | |
| > widrigen Umständen und begleitet das Team einer Berliner Palliativklinik. | |
| Bild: Begegnungen, die man in den USA fast schon nicht mehr erwartet hätte: �… | |
| In der Kleinstadt Lumpkin [1][in Georgia, tief im Südosten der USA], steht | |
| Kellie in einem T-Shirt mit dem Schriftzug „Hunde – weil Menschen nerven“ | |
| im A&K Hardware Store. Kellie, freundlich, queer und nicht auf den Mund | |
| gefallen, schimpft mit einem Lieferanten, der den Mais wieder zu spät | |
| liefert, und diskutiert mit ihrer Teenager-Aushilfe, als die sich vor ihren | |
| Hausaufgaben drückt. Kellies Laden ist ein Treffpunkt in Lumpkin und der | |
| Versuch, Infrastruktur in der schrumpfenden Stadt zu erhalten. Die Regel, | |
| im Laden nicht über Politik zu diskutieren, sorgt zwischen Werkzeug und | |
| Tresen für Begegnungen, die man in den USA der Gegenwart fast schon nicht | |
| mehr erwartet hätte. In seiner Konzentration auf Kellies Laden wirkt | |
| „Holler for Service“ von Kathrin Seward und Ole Elfenkaemper stellenweise | |
| wie ein utopisches Kammerspiel. | |
| Er ist einer der zwei Filme, die in diesem Jahr gleichberechtigt auf der | |
| 49. Duisburger Filmwoche, die am Sonntag zu Ende ging, mit dem | |
| Arte-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurden. Auch in diesem Jahr war die | |
| Filmwoche eine Rückschau auf den diesjährigen deutschsprachigen | |
| Dokumentarfilm. Im Hintergrund der Diskussionen über die vielfältigen | |
| Begegnungen mit Wirklichkeit, vermittelt durch die ganze Bandbreite | |
| dokumentarischer Formen, stand in diesem Jahr unter anderem die Stichwahl | |
| um das Amt des Bürgermeisters: zwischen Amtsinhaber Sören Link von der SPD | |
| und einem Herausforderer von der AfD. | |
| Im zweiten mit dem Arte-Dokumentarfilmpreis ausgezeichneten Film folgt | |
| Danila Lipatov der Geschichte seiner Familie. Sie war in den 1990er Jahren | |
| vor dem Bürgerkrieg [2][in Tadschikistan] geflohen und ist zurückgekehrt in | |
| dessen Hauptstadt Dushanbe. Vor Ort wirft Lipativ den Film, den er | |
| vorhatte, aber über den Haufen. Oder wie es einer der Menschen, die er in | |
| „Elbows in Shatters“ zeigt, formuliert: „Du hattest einen Film im Kopf und | |
| machst jetzt einen anderen. Und auch der wird von Dir handeln und Dein Film | |
| sein.“ Eine Reihe von Alltagsszenen von verschiedenen Freiräumen zu sehen, | |
| die sich Menschen in der Hauptstadt des autoritären Landes geschaffen haben | |
| – in künstlerischen Praktiken und beim Baden im Fluss. | |
| ## Eine beinahe utopische Medizin | |
| Beide Preisträgerfilme zeugen in sehr unterschiedlicher filmischer Form von | |
| der Notwendigkeit von Freiräumen und der Kreativität, mit der sie auch | |
| unter widrigen Umständen gesucht und gefunden werden. Während Kathrin | |
| Seward und Ole Elfenkaemper diese in der Begegnung mit Kellie und ihrem | |
| Laden finden, trägt bei Lipatov die Beobachtung der Menschen, auf die der | |
| Regisseur in Dushanbe gestoßen ist, den Film. In ruhigen, weiten | |
| Einstellungen öffnet Lipatov auch filmisch den Raum, den seine | |
| Protagonist_innen bevölkern. | |
| Der 3sat-Dokumentarfilmpreis ging an Philipp Dörings Dokumentarfilm | |
| „Palliativstation“, der im Februar im [3][Forum der Berlinale] Premiere | |
| hatte. Döring begleitet darin gut vier Stunden lang das Team der | |
| Palliativstation des Berliner Sankt-Franziskus-Krankenhauses. Er folgt | |
| überwiegend dem Oberarzt und seinem Team durch die Zimmer der Station und | |
| zu Gesprächen mit Angehörigen. | |
| In einer Mischung aus Institutions- und Gruppenporträt wird der palliative | |
| Ansatz deutlich, mit dem die Station ihre Patient_innen begleitet und ihnen | |
| hilft, bis zuletzt ein selbstbestimmtes, würdiges Leben zu führen. | |
| Palliativstation“ zeigt – innerhalb des deutschen Kliniksystems, das auch | |
| hier den Pfleger_innen viel aufbürdet – eine beinahe utopische, unbeirrbar | |
| dem Menschen zugewandte Medizin, die den Patient_innen jedoch erst | |
| zugestanden wird, wenn sie unheilbar erkrankt sind. | |
| Auch wenn Dokumentarfilme in der Regel mit weniger Geld und Aufwand | |
| entstehen als Spielfilmprojekte, gehen auch ihnen oft Jahre der | |
| Vorbereitung voraus. Umso interessanter war es zu sehen, dass im | |
| diesjährigen Jahrgang der Filmwoche auf der Leinwand viele der großen | |
| Themen der Zeit zusammenkamen: der Umgang mit autoritären Umgebungen und | |
| ein würdiges Sterben. | |
| ## Nachbereitung statt Streitlust | |
| Auch in diesem Jahr wurde jede Vorführung auf der Filmwoche begleitet von | |
| einer ausführlichen Diskussion direkt im Anschluss. Die Streitlust, die | |
| diese Diskussionen in den ersten Jahrzehnten des Festivals berühmt machten, | |
| ist aber wohl endgültig verflogen. Umso wichtiger ist der Gruppenprozess | |
| der Nachbereitung: Da jeweils nur ein Film läuft, haben zumindest | |
| theoretisch alle dieselben Filme gesehen. Im Laufe des Festivals verdichten | |
| sich in den Pausen, vor den Türen des Kinos und im Laufe abendlicher | |
| Diskussionen in Kleingruppen Seheindrücke, die abwägen, Qualitäten und | |
| Schwächen herausschälen. | |
| In diesen Diskussionen traten in diesem Jahr auffällig die ruhigen, | |
| beobachtenden Filme hervor, über die es letztes Jahr noch hieß, sie würden | |
| verschwinden. Ein besonderes Augenmerk erhielt im Rahmenprogramm die Musik | |
| im Dokumentarfilm. Vielleicht gibt es nächstes Jahr zum 50. Geburtstag der | |
| Filmwoche ja eine Auswahl an Filmen mit prominenter Musik. | |
| 10 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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