| # taz.de -- Ungewollt schwanger: Im Aufwachraum | |
| > Unsere Autorin entscheidet sich für eine Abtreibung. Was ein einfacher | |
| > Eingriff sein könnte, ist ein politisches und gesellschaftliches | |
| > Minenfeld. | |
| Bild: Positiv! Wie geht die Gesellschaft mit Frauen um, für die das keine posi… | |
| Auf dem Weg zur Absaugung des Embryos, der in mir heranwächst, höre ich | |
| „Scenes From an Italian Restaurant“ von Billy Joel. Mit der Leichtigkeit | |
| des Songs versuche ich gegen das, was in mir vorgeht, anzukämpfen. Es ist | |
| ein erster sonniger Frühlingstag, lächelnde und über das Wetter erleichtert | |
| wirkende Gesichter ziehen an meinem Busfenster vorbei. Die Lichtreflexionen | |
| an den Gebäuden sind so hell, dass sie zusammen mit Billy Joel meine Sinne | |
| betäuben. Die dunkle Schwere, die ich in mir spüre, ist trotzdem stärker | |
| als alles andere. Ich fühle mich wie ein wandelnder Widerspruch, wie eine | |
| Gleichzeitigkeit von Leben und Sterben. | |
| Ich bin in der achten Woche schwanger und werde es schon in ungefähr zwei | |
| Stunden nicht mehr sein. Die letzten Tage sind wie in einem Nebel | |
| vergangen. Ich war nicht darauf vorbereitet, schwanger zu sein. Und der | |
| Druck, der plötzlich auf mir lastete, hat mich an vielem zweifeln lassen: | |
| an den feministischen Errungenschaften in unserer Gesellschaft, am | |
| Gesundheitssystem, an meiner eigenen Identität. | |
| Bevor das alles passierte, hielt ich mich für weitgehend gleichberechtigt. | |
| Priorität in meinem Leben hatten meine Ausbildung und mein Beruf. Nach | |
| meinem Erststudium und ein paar Jahren Berufstätigkeit hatte ich | |
| Schwierigkeiten, mich finanziell über Wasser zu halten. Also habe ich mich | |
| vor Kurzem, mit Dreißig, noch mal für eine berufliche Umorientierung | |
| entschieden und studiere jetzt im Zweitstudium Medizin. | |
| Das war eine Überwindung, weil man sich als ältere Studentin oft fehl am | |
| Platz fühlt und rechtfertigen muss. Aber vor allem war es finanziell | |
| gewagt: Ich habe einen Studienkredit aufgenommen und trotz Nebenjob muss | |
| ich sehr aufs Geld achten. Familienplanung hatte da bisher keinen Platz. | |
| Hinzu kommt, dass ich nie in einer langen Beziehung war. Also ließ ich es | |
| mir offen: Wenn es sich ergeben würde, eine Familie zu gründen, fände ich | |
| es schön, wenn nicht, dann hat es wohl nicht sein sollen. | |
| Der Embryo wurde von einem Mann gezeugt, mit dem ich nur ein kurzes | |
| Verhältnis hatte. Er hat nach wenigen Treffen den Kontakt zu mir | |
| abgebrochen mit der Begründung, mein Verhalten würde ihn an seine | |
| Exfreundin erinnern und triggern. Es ist also keine Liebesgeschichte. Es | |
| ist eine, die ich bereue. | |
| Wenige Wochen nach meiner Affäre bleibt meine Periode aus und ich spüre, | |
| dass etwas anders ist als sonst. Ich ignoriere es, solange es geht. Ich | |
| wohne gerade für vier Wochen bei meinen Eltern, weil ich für mein Studium | |
| ein unbezahltes Praktikum in meiner Heimatstadt mache und mir keine eigene | |
| Unterkunft leisten kann. Ich schiebe meine Abgeschlagenheit auf die neuen | |
| Eindrücke und die langen Arbeitszeiten. Aber irgendwann kommt Übelkeit | |
| dazu. Ich kann es nicht länger leugnen. | |
| Als ich den Schwangerschaftstest mache, sitze ich auf dem Fußboden des | |
| Badezimmers, in dem ich mir als Kind die Zähne geputzt habe. Ich versuche | |
| mich in Entspannungstechniken, aber der Test lässt mir keine Zeit: Er zeigt | |
| sofort ein positives Ergebnis an. Sechste bis siebte Schwangerschaftswoche. | |
| Auf einer Website gebe ich den Zeitpunkt meiner letzten Periode ein und | |
| neben dem ungefähren Zeitpunkt der Empfängnis wird mir plötzlich, ohne dass | |
| ich es will, auch ein Geburtstermin angezeigt. | |
| Ich bekomme riesengroße Angst. Angst davor, es jemandem sagen zu müssen. | |
| Angst davor, verurteilt zu werden, weil ich in keiner festen Beziehung bin. | |
| Angst davor, eine Entscheidung zu treffen, die ich bereuen könnte. Und | |
| Angst, weil ich nicht weiß, ob ich dem Mann, der den Embryo gezeugt hat, | |
| davon erzählen soll. Er hat gesagt, dass er keine Kinder will, weil er | |
| ungebunden leben möchte. Ich befürchte deshalb, dass er die Vaterschaft | |
| bestreiten und mir unterstellen wird, dass ich zeitgleich noch mit anderen | |
| Männern geschlafen hätte. | |
| ## Mit den Konsequenzen allein | |
| Es scheint verrückt. Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, die die sexuelle | |
| Freiheit von Frauen zelebriert: Musikvideos mit sexy Tänzerinnen, Filme, in | |
| denen eine hübsche Frau verführt. Ich war in Berliner Klubs und auf | |
| sexpositiven Partys. Aber jetzt wirkt das alles wie die hämische Fratze des | |
| Patriarchats auf mich. Denn Sex ist eben nicht nur ein spaßiges Spiel, Sex | |
| ist auch ein Risiko. | |
| Meine Wut richtet sich aber auch gegen mich selbst. Weil ich die | |
| „Rausziehmethode“ mitgemacht habe, obwohl ich wusste, dass sie nicht sicher | |
| ist. Wie etwa jede zehnte Frau im gebärfähigen Alter leide ich [1][am | |
| PCO-Syndrom], einer Hormonstörung, die es erschweren kann, schwanger zu | |
| werden. Also war ich leichtsinnig genug, zu glauben, dass schon nichts | |
| passieren würde. Ja: ziemlich dumm. Aber für diese Selbsterkenntnis ist es | |
| zu spät. Ich war unvorsichtig und muss jetzt die Konsequenzen tragen. Und | |
| zwar allein. | |
| Denn egal, ob ich mit dem Mann darüber spreche oder nicht: Der Embryo ist | |
| in meinem Körper. Ich bin es, die zum Arzt gehen muss. Ich bin es, die eine | |
| Abtreibung organisieren muss – mit allen Folgen. Denn sobald ich mich nach | |
| dem ersten Schock wieder gesammelt habe, ist mir klar, [2][dass ich | |
| abtreiben will]. Vielleicht will ich irgendwann ein Kind, aber sicher nicht | |
| von diesem Mann und nicht in meiner jetzigen Lebenssituation. | |
| Trotzdem fühlt sich ein Teil von mir moralisch verpflichtet, den Mann zu | |
| informieren. Nicht, weil ich ihn in die Entscheidung miteinbeziehen will, | |
| ob ich abtreibe oder nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass er grundsätzlich | |
| über die Situation informiert werden sollte, weil er ja beteiligt war. Also | |
| rufe ich ihn an. Ich ziehe mich dafür in mein ehemaliges Kinderzimmer | |
| zurück, laufe eine gefühlte Ewigkeit im Raum auf und ab, bis ich mich | |
| endlich traue. | |
| Mit jedem Tuten wächst meine Anspannung – aber er geht nicht ran. Ich lege | |
| auf und merke, wie eine Last von mir abfällt. Dann verfalle ich in | |
| Schockstarre. Stundenlang sitze ich auf dem Bett und fixiere die Wand, in | |
| meinem Kopf ein einziges Rauschen. Später versucht der Mann, mich | |
| zurückzurufen, aber ich bewege mich nicht vom Fleck. Heute bin ich froh | |
| darüber, dass unsere Anrufe ins Leere gelaufen sind. Die Unterhaltung hätte | |
| nichts geändert. | |
| Mit einer ungewollten Schwangerschaft bewegt man sich auf geächtetem | |
| Terrain. Erst voriges Jahr bezeichnete [3][Friedrich Merz es als | |
| skandalös,] dass Olaf Scholz als Bundeskanzler einen Gesetzesvorschlag | |
| unterstützte, der den Schwangerschaftsabbruch entkriminalisieren wollte. | |
| Dabei ist die Debatte ein uralter Hut, sie dreht sich seit Jahrzehnten im | |
| Kreis. | |
| Historisch hatte erst die Kirche Einfluss auf den Fötus, später auch der | |
| Staat. Das bedeutet, dass immer Männer über den weiblichen Körper verfügt | |
| haben. Wie unvereinbar feminine Sexualität und Selbstbestimmung von den – | |
| oft männlichen –Abtreibungsgegnern dargestellt werden, beklagte schon die | |
| amerikanische Kulturjournalistin Ellen Willis 1979 in ihrem Essay „Abortion | |
| – Is A Woman a Person?“. Damals argumentierten die Abtreibungsgegner damit, | |
| Frauen müssten eben auf Sex verzichten, wenn sie selbstbestimmt leben | |
| wollten. | |
| Das vergleicht Willis treffend mit dem berühmten Zitat der französischen | |
| Königin Marie-Antoinette, die über ihr hungerleidendes Volk gesagt haben | |
| soll: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.“ | |
| Männern geht eine Schwangerschaftserfahrung genauso ab wie damals den | |
| Aristokraten die Armut. Dennoch glauben viele, es besser zu wissen. [4][Die | |
| falsche Überheblichkeit vieler Abtreibungsfeinde] ist ein zentrales | |
| Problem: Sie schafft eine moralische Zweiklassengesellschaft zwischen | |
| Frauen und Männern. Heute, 46 Jahre, eine weitere Feminismuswelle und eine | |
| Me-too-Bewegung später, sind wir immer noch am gleichen Punkt. | |
| ## Eigene Menschlichkeit verteidigen | |
| Dabei ist das Thema Abtreibung ein Minenfeld, in dem man sich kaum | |
| aufzuhalten traut. [5][Viele Begriffe sind politisch aufgeladen.] Das fängt | |
| schon bei der Bezeichnung dessen an, was abgetrieben wird. Laut | |
| Vertreter*innen der sogenannten Pro-Life-Bewegung, die in den 1970er | |
| Jahren in den USA entstand, handelt es sich bei dem entstehenden | |
| Schwangerschaftsgewebe schon um ein „ungeborenes Kind“. Diese Übertreibung | |
| ist Framing und soll Gefühle wecken. | |
| Ein Teil der gegnerischen Aktivist*innen, die für das Recht auf | |
| Schwangerschaftsabbrüche kämpfen, spricht dagegen von einem „Zellhaufen“ | |
| statt von einem Embryo, so als wollten sie auf keinen Fall Gefühle | |
| aufkommen lassen. Der erhitzte Umgang mit solchen Reizwörtern erschwert den | |
| Blick auf das Wesentliche. Für mich ist es kein Widerspruch, zu | |
| akzeptieren, dass es ein Embryo war, den ich abgetrieben habe, und | |
| gleichzeitig für die reproduktiven Selbstbestimmungsrechte von Frauen und | |
| die Legalisierung von Abtreibung zu sein. | |
| Es genügt ein Blick in die USA, wo [6][teilweise rigorose | |
| Abtreibungsgesetze gelten] und die Trump-Regierung weiter gegen | |
| Schwangerschaftsabbrüche vorgeht. Im Februar [7][wurde etwa eine New Yorker | |
| Ärztin verklagt, weil sie Patientinnen in Texas und Louisiana | |
| Abtreibungsmedikamente verschrieben und zugeschickt haben soll]. Texas | |
| verhängte eine Geldstrafe von 100.000 Dollar gegen die Ärztin – und | |
| Louisiana forderte ihre Auslieferung, die von der New Yorker Gouverneurin | |
| jedoch blockiert wurde. | |
| 2024 landete die Schriftstellerin Jessica Valenti mit ihrem Buch „Abortion“ | |
| einen Bestseller. Es ist eine wütende Kampfansage an die rückschrittliche | |
| Abtreibungspolitik in den USA. Das Buch handelt von den Geschichten vieler | |
| betroffener Frauen. Am Anfang schreibt Valenti, dass sie es demütigend | |
| findet, mit ihren Schilderungen die Menschlichkeit verteidigen zu müssen. | |
| Und um nicht weniger geht es. Denn allein durch Sex mit einem Mann kann | |
| eine Frau ihre ganze Lebensgrundlage verlieren, während der Mann | |
| unbescholten weiterlebt – das ist in vielen Ländern Realität. Zudem werden | |
| Frauen oft moralisch verurteilt, ohne den Kontext mitzudenken. Doch der | |
| Kontext spielt eine riesige Rolle, erst recht in einer Situation, die auf | |
| so komplizierte Weise menschliche Grundrechte mit der traditionellen | |
| Ungleichverteilung von Macht verwebt. | |
| Ich denke an meinen speziellen Kontext: ein Mann, der mir gleich beim | |
| ersten Treffen gesagt hat, dass ich mich seinem ausgeprägten Sexdrive | |
| anpassen müsse, wenn ich länger für ihn interessant bleiben wolle. Ein | |
| Zeugungsakt, der deshalb zwar nicht gegen meinen Willen, aber auch nicht | |
| mit meiner Lust vonstatten gegangen ist. Klar: Ich hätte das alles nicht | |
| mitmachen müssen. Ich hätte auch Nein sagen können. Aber Nein sagen zu | |
| einem Mann entspricht nicht dem, [8][was ich über meine ganze Kindheit und | |
| Jugend gelernt habe] und immer noch in mir trage. | |
| Besonders prägend war ein Ereignis mit meinem ersten Freund. Ich war 16, er | |
| 20. Eines Morgens in seinem WG-Zimmer weckte er mich mit | |
| Annäherungsversuchen. Ich war noch im Halbschlaf und reagierte nicht | |
| richtig, also fluchte er leise und ging ins Bad. Ich hörte, wie er sich | |
| dort selbst befriedigte. Als er rauskam, war er seltsam distanziert und | |
| frustriert. Seitdem hat sich mir eingeprägt, dass Sex vor allem heißt: | |
| verfügbar sein. Denn sonst verärgere ich jemanden. Auch in den nächsten | |
| Jahren verlangten die Männer oft Sex, wenn ich einfach nur neben jemandem | |
| einschlafen oder aufwachen wollte. | |
| Wenn ich andeutete, dass ich nicht mehr will, wurde mir oft halbironisch | |
| entgegnet, dass man wegen möglicher Penisschmerzen nie mittendrin aufhören | |
| dürfe. Den Kommentar fand ich nie witzig, wohl deshalb, weil er eben doch | |
| immer ernst gemeint war. Es wurde zu einem Motiv, das sich durch mein Leben | |
| zog: Manchmal hatte ich Sex, weil ich es wollte. Aber meistens hatte ich | |
| Sex, weil jemand anderes es wollte. Immerhin: Durch die ungewollte | |
| Schwangerschaft ist mir bewusst geworden, wie falsch das ist. | |
| Für den Ausnahmezustand, in dem ich mich befinde, gibt es einen | |
| medizinischen Fachbegriff: „Konfliktgravidität“ oder auch | |
| „Konfliktschwangerschaft“ genannt. Ich frage mich, welcher Konflikt damit | |
| gemeint ist. Der zwischen mir und dem Vater oder der zwischen mir und dem | |
| Embryo? Der zwischen mir und meinem leeren Geldbeutel oder der zwischen mir | |
| und meiner Zukunft? Letztlich ist die Antwort egal. Mit allen Konflikten | |
| bin ich erst mal eins: alleine. | |
| In den Tagen nach dem positiven Test traue ich mich nicht, mit | |
| irgendjemandem darüber zu reden. Weder mit meiner besten Freundin, noch mit | |
| meinen Eltern. Obwohl ich mit denen sonst fast jede Entscheidung in meinem | |
| Leben bespreche. Ich schaffe es nicht, weil ich mir wegen der Umstände, | |
| unter denen die Schwangerschaft zustande gekommen ist, so naiv vorkomme. | |
| Deshalb denke ich anfangs, es sei das Beste, die Abtreibung heimlich zu | |
| machen. | |
| Ich versuche angestrengt, mir nichts anmerken zu lassen. Auf der Arbeit | |
| schleiche ich vor die Tür, um einen Termin für die | |
| Schwangerschaftskonfliktberatung zu vereinbaren. [9][Die ist gesetzlich | |
| vorgeschrieben], wenn man einen Abbruch vornehmen lassen will. Während ich | |
| bei der Beratungsstelle anrufe, beginne ich zu zittern. Es ist das erste | |
| Mal, dass ich die Worte laut ausspreche: „Ich bin schwanger.“ Als ich | |
| auflege, sinke ich auf dem Treppenabsatz zusammen. Ich beginne, im Internet | |
| nach Kliniken und Praxen zu suchen. In meiner mittelgroßen bayerischen | |
| Heimatstadt scheint aber niemand Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. | |
| Ich fühle mich hilflos. Erst von der Sozialpädagogin, die mit mir das | |
| Beratungsgespräch macht, erfahre ich, dass die Kliniken der Stadt diese Art | |
| von Operation nicht anbieten. Sie erzählt mir, dass es nur zwei | |
| niedergelassene Frauenärztinnen gebe, die jeden Donnerstag wöchentlich | |
| abwechselnd für die ganze Stadt und den umliegenden Landkreis Abtreibungen | |
| durchführen würden. | |
| Alleine in der Stadt leben knapp 69.000 Frauen. Erst später erfahre ich, | |
| dass die [10][Bundesärztekammer eine Liste mit Ärzt*innen führt, die | |
| Abtreibungen anbieten]. Die Aufnahme in diese Liste [11][ist allerdings | |
| freiwillig]. Wenn man meine Heimatstadt eingibt, findet sich dort nur | |
| gähnende Leere. | |
| Die Unterversorgung hat einen Grund: Nach § 218 des Strafgesetzbuchs ist | |
| der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland grundsätzlich rechtswidrig, wird | |
| aber unter bestimmten Voraussetzungen nicht bestraft. Trotzdem kann es für | |
| Ärzt*innen rufschädigend sein, Abtreibungen durchzuführen. Sie riskieren | |
| Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen. | |
| Selbsternannte „Lebensschützer“ belagern Praxen, Kliniken und | |
| Beratungsstellen, um Schwangere daran zu hindern, eine Abtreibung | |
| vorzunehmen. Immerhin: Seit 2024 gibt es in Deutschland ein Gesetz, das | |
| diese „[12][Gehsteigbelästigung]“ in einem Radius von hundert Metern zu den | |
| Einrichtungen verbietet. Zu den Voraussetzungen für die Straffreiheit einer | |
| Abtreibung gehört neben der Schwangerschaftskonfliktberatung eine | |
| dreitägige Bedenkzeit. | |
| Das ist entwürdigend: Als wäre eine erwachsene Frau nicht auch ohne beides | |
| in der Lage, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Insgesamt geht es | |
| mit dieser widersprüchlichen Gesetzeslage ungewollt Schwangeren hier | |
| dennoch besser als in vielen anderen Ländern. | |
| ## Kein ärztliches Vorgespräch | |
| Die Sozialpädagogin ist zwar nett und verständnisvoll, aber sie fragt mich | |
| über Dinge aus, die allein meine Angelegenheit sind, wie mein Sexleben und | |
| mein Kontostand. Ich erkläre ihr, dass ich wegen meines aufwendigen | |
| Bildungswegs derzeit kein Kind in mein Leben integrieren kann. Trotzdem | |
| entwirft sie Zukunftsszenarien für mich als Mutter und zählt auf, welche | |
| Gelder ich als Alleinerziehende beantragen könnte. | |
| Als ich am nächsten Tag in einer der zwei gynäkologischen Praxen anrufe, | |
| rät mir eine Mitarbeiterin, mich schnell zu entscheiden, denn die Termine | |
| für den operativen Schwangerschaftsabbruch gingen weg wie geschnitten Brot. | |
| Ein Vorgespräch sei nicht möglich. Es gäbe noch die Möglichkeit des | |
| medikamentösen Abbruchs, aber zu den Methoden könne man mich nicht beraten. | |
| Also recherchiere ich im Internet. Obwohl ich selbst Medizin studiere, sind | |
| mir nicht alle Details und Risiken der Methoden klar. | |
| Am Ende entscheide ich mich für die operative Abtreibung, die meist mittels | |
| Vakuumaspiration gemacht wird. Dabei wird unter lokaler Betäubung oder | |
| Kurznarkose das Schwangerschaftsgewebe aus der Gebärmutter abgesaugt. In | |
| manchen Fällen wird es zusätzlich ausgeschabt. Ich mache einen OP-Termin in | |
| der nächsten Woche aus. | |
| Eine andere Sorge ist die Finanzierung. Die OP kostet 523 Euro, plus 19 | |
| Euro für die Nachsorge. Ich frage bei meiner Krankenkasse nach, in welchen | |
| Fällen sie die Übernahme bewilligt: Erstens, wenn es sich um eine | |
| Vergewaltigung handelt oder die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr ist. | |
| Trifft nicht auf mich zu. Zweitens, wenn eine Schwangere die finanziellen | |
| Mittel nicht aufbringen kann. Okay, das müsste zutreffen. Allerdings muss | |
| man den Antrag sehr schnell stellen, rückwirkend ist er nicht möglich. | |
| Fuck. Nur noch drei Werktage bis zum OP-Termin. Mir rennt die Zeit davon. | |
| Meine Angst, dass die Kostenübernahme durch die Krankenkasse aus | |
| irgendwelchen Gründen nicht klappen könnte, ist so groß, dass ich jetzt | |
| doch meine Eltern einweihe. Nie in meinem Leben habe ich mich so geschämt, | |
| wie in dem Moment, als ich ins Arbeitszimmer meines Vaters trete und ihm | |
| sage, dass ich ungewollt schwanger bin. Mit über Dreißig. Ich habe Glück: | |
| Meine Eltern reagieren verständnisvoll und bieten mir an, im Notfall die | |
| Kosten zu übernehmen. Aber wie geht es Frauen, die diese familiäre | |
| Unterstützung nicht haben? Zwei Tage später habe ich den Termin bei der | |
| Krankenkasse. Ich bringe meine Kontoauszüge der letzten drei Monate mit. | |
| Große Erleichterung: Mein Antrag wird genehmigt. | |
| Unterdessen ist es für mich immer schwieriger geworden, zu arbeiten. Ich | |
| leide unter so starker Übelkeit, dass ich mich mehrfach täglich übergeben | |
| muss. Sobald ich etwas esse, würgt es mein Körper sofort wieder hoch. Ich | |
| fühle mich schrecklich und bekomme bald Ekelgefühle vor mir selbst: Es ist, | |
| als ob in mir ein Alien heranwachsen würde. Als würde mich der Mann, der | |
| den Kontakt zu mir abgebrochen hat, mit dieser Schwangerschaft endgültig | |
| demütigen. | |
| Ich fühle mich schuldig, weil ich solche negativen Gedanken habe. Aber vor | |
| allem schäme ich mich unermesslich. Eine ähnliche Erfahrung hat die Autorin | |
| Anika Landsteiner gemacht, wie sie in ihrem 2024 erschienenen Buch | |
| berichtet. In „Sorry not sorry“ beschreibt sie ihre eigene ungewollte | |
| Schwangerschaft als „das größte Schamgefühl“, das sie je erlebt hat. Sie | |
| habe sich nicht getraut, dem beteiligten Mann von ihrer Schwangerschaft zu | |
| erzählen, „weil es sich so anfühlte, als würde ich ihn in etwas reinziehen, | |
| was meinen Körper betrifft, ihm jedoch die Zukunft verbaut. Ich fühlte mich | |
| als Überbringerin schlechter Nachrichten.“ | |
| Kein Wunder: Schuld- und Schamgefühle von Frauen sind kulturhistorisch in | |
| unserer Gesellschaft verankert. Von Eva als Urheberin der Erbsünde über | |
| böse Stiefmütter in Märchen bis zu Hexenverbrennungen: Für explizit | |
| weibliche Schuldfiguren gibt es viele Beispiele. | |
| Die Scham galt früher sogar als weibliche Tugend, denn die Frau sollte ja | |
| auf keinen Fall selbst kühn und sexy sein, um als unschuldige Jungfrau | |
| erobert zu werden. Ich war deshalb schon immer in einer emotionalen | |
| Zwickmühle. Weil ich christlich erzogen wurde, war mein Idealbild von mir | |
| als Frau mit Keuschheit verknüpft. Aber dieses Bild kollidierte mit meiner | |
| Lebensrealität. | |
| So war die Scham mein ständiger Begleiter, etwa wenn ich in meinen | |
| Zwanzigern nach einem Tinder-Date mit jemandem im Bett landete. Wie | |
| unnötig, denke ich heute. In Bezug auf meine ungewollte Schwangerschaft ist | |
| zwar kein Stolz angebracht. Aber dass es mir so schlecht geht, während der | |
| beteiligte Mann Urlaubsfotos vom Strand in Spanien postet, erscheint mir | |
| unverhältnismäßig. | |
| Diese Schieflage wird durch die gegenwartsfremde Kirche und Politik | |
| strukturell aufrechterhalten. Und auch die weibliche Selbstaufopferung, auf | |
| die auch Anika Landsteiner sich bezieht, hat Tradition. Am schlimmsten ist, | |
| dass sie nie aufhört: Erst opfert man sich für Männer auf, später für die | |
| Kinder. | |
| Erst am Tag der OP lerne ich die Ärztin kennen, die meine Abtreibung | |
| vornehmen wird. Während ich im Wartezimmer sitze, betrachte ich die | |
| ausgelegten Prospekte. Fast alle haben Mutterschaft zum Thema oder wie man | |
| den Wunsch, schwanger zu werden, umsetzen kann. Überall wird | |
| Schwangerschaft als etwas Wunderbares angepriesen, das man anstreben sollte | |
| und über das man sich zu freuen hat. | |
| ## Ärzt*innen unter Druck | |
| Nicht ein einziger Prospekt bezieht sich auf die Situation, in der ich | |
| gerade bin. Auch dafür finde ich später einen möglichen rechtlichen Grund: | |
| Zwar wurde 2022 der § 219a StGB, das Werbeverbot für | |
| Schwangerschaftsabbrüche, aufgehoben. Allerdings verbietet das | |
| Heilmittelwerbegesetz eine irreführende oder kommerzialisierende Werbung. | |
| Es könnte ja eine Frau auf die Idee kommen, abzubrechen, weil die Werbung | |
| für Abtreibung so ansprechend ist, oder? | |
| Als ich ins Zimmer der Ärztin trete, steht sie neben ihrem Schreibtisch, | |
| als sei sie auf dem Sprung. „Hallo, sind Sie sich sicher?“, fragt sie | |
| gestresst. Ich sage: „Ja.“ Wir machen schnell eine Ultraschalluntersuchung | |
| und schon bin ich wieder draußen. | |
| Meine Ärztin ist wie ihre Kolleg*innen in einer misslichen Lage: Sie | |
| muss sich nach einem strengen, teils absurden Abrechnungssystem richten, | |
| das ihr die menschliche Zuwendung erschwert oder unmöglich macht. Darüber | |
| hinaus verlangt es Ärzt*innen auch in Deutschland viel Durchhaltevermögen | |
| ab, wenn sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen wollen. | |
| Das zeigt auch der Fall von [13][Joachim Volz]. Der Gynäkologieprofessor | |
| hat im Sommer gegen das neue Abtreibungsverbot seines Arbeitgebers, des | |
| Christlichen Klinikums Lippstadt, geklagt. Die Klage wurde abgewiesen, doch | |
| Volz hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Zudem hat er eine Petition | |
| gestartet, die inzwischen mehr als 290.000 Menschen unterschrieben haben. | |
| Gynäkolog*innen wie Alicia Baier kritisieren die rudimentäre | |
| Ausbildung im Medizinstudium. Mit ihrem gerade erschienenen Buch „Das | |
| Patriarchat im Uterus“ und dem Verein Doctors for Choice setzt sie sich | |
| zusammen mit anderen Abtreibungsbefürworter*innen für eine bessere | |
| Versorgungslage ein. Zu diesem Zweck bietet der Verein unter anderem | |
| [14][Papaya-Workshops] an, in denen Studierende die grundlegenden | |
| Kenntnisse eines chirurgischen Abbruchs an einer Papaya lernen. | |
| In einem ambulanten OP-Zentrum im sechsten Stock eines Hochhauses warte ich | |
| auf meine Abtreibung. Die Menschen neben mir scheinen alle aus anderen | |
| Gründen hier zu sein. Die meisten haben sichtbare Verletzungen wie einen | |
| gebrochenen Arm oder eine Wunde am Kopf, und viele sind Männer. Auf dem | |
| Schild an der Wand sind auch die gynäkologischen Leistungen aufgereiht. | |
| Aber die, die ich gleich in Anspruch nehme, steht nicht drauf. Ich komme | |
| mir kriminell vor. Wenig später sitze ich im OP-Hemdchen in der Schleuse | |
| zum Operationssaal und starre auf die Uhr an der Wand, während der | |
| Sekundenzeiger sich um die eigene Achse schleppt. Dann werde ich abgeholt. | |
| Als ich nach der Abtreibung wieder zu mir komme, liege ich in einer | |
| Blutlache. Man hat mir eine schlabbrige Onesize-Netzunterhose mit einer | |
| dicken Einlage übergezogen. Die OP-Schwester bringt mir Cola und Kekse wie | |
| einem Kind. Hinter dem Fenster des Aufwachraums erstreckt sich endlos | |
| weißer Himmel. Ich schaue hinaus und endlich kann ich wieder weinen. Es | |
| sind Tränen der Trauer und Wut, aber vor allem sind es Tränen der | |
| Erleichterung. | |
| Wenn man den Argumenten der Abtreibungsgegner*innen glaubt, müsste es | |
| mir nach der Abtreibung schlecht gegangen sein. Dabei ist das sogenannte | |
| Post-Abortion-Syndrom ein Märchen, das auf die „Lebensschützer“ zurückge… | |
| Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen etwas anderes: Die Mehrzahl der | |
| Frauen ist zufrieden mit ihrem Abbruch und nur bei wenigen Frauen, die | |
| meist schon psychische Vorerkrankungen haben, kommt es zu Folgen wie | |
| Depressionen oder Schlafstörungen. | |
| Einige Monate später steht der geschätzte Geburtstermin an. Wenn ich auf | |
| der Straße eine hochschwangere Frau sehe, denke ich: So schwanger wäre ich | |
| jetzt auch, wenn ich nicht hätte abtreiben können. Und jedes Mal bin ich | |
| unendlich erleichtert und dankbar, dass ich es konnte. Die Abtreibung war | |
| für mich alternativlos. | |
| Im Klartext: Es war nicht die Abtreibung, die mich seelisch belastete, es | |
| waren die Umstände. Meine Sozialisierung, die es mir nicht leicht macht, | |
| Männern Grenzen zu setzen. Eine Gesellschaft, die verantwortungsloses | |
| Handeln bei Männern unter den Teppich kehrt, während sie Frauen für | |
| dasselbe Handeln bestraft. Gesetze, die Frauen als geistig unreife oder | |
| bösartige Wesen darstellen, denen keine vernünftige Entscheidung zuzutrauen | |
| ist. Ein Gesundheitssystem, das Frauen in einer Notsituation zwar auf | |
| umständliche Weise Hilfe leistet, aber die Rahmenbedingungen für einen | |
| würdevollen Umgang mit einem Thema, das uns alle betrifft, verwehrt. Und | |
| aktuell eine Regierung, die es für „skandalös“ hält, an diesen Umständen | |
| etwas zu ändern. | |
| Ich hatte das Glück, meine „Konfliktgravidität“ gut zu überstehen. Aber … | |
| mache mir Sorgen um alle Frauen, die in Zukunft eine haben werden. | |
| *Mina Billner ist ein Pseudonym, um die Autorin zu schützen. Ihr wirklicher | |
| Name ist der Redaktion bekannt. | |
| 8 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Krankheit-PCOS/!6100504 | |
| [2] /Schwerpunkt-Abtreibung/!t5008434 | |
| [3] https://www.tagesschau.de/inland/schwangerschaftsabbruch-legalisierung-unio… | |
| [4] /Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!6111325 | |
| [5] /Kommentar-Feminismus-und-Paragraf-218/!5568621 | |
| [6] /Abtreibungsrechte-in-den-USA/!6042762 | |
| [7] https://www.aerzteblatt.de/news/hilfe-beim-schwangerschaftsabbruch-new-york… | |
| [8] /Juristin-erklaert-Ja-heisst-Ja-Reglung-Sollte-Deutschland-Norwegen-und-Fra… | |
| [9] /Schwangerschaftskonfliktberatung/!5487492 | |
| [10] https://liste.bundesaerztekammer.de/suche | |
| [11] https://www.bundesaerztekammer.de/themen/aerzte/schwangerschaftsabbruch | |
| [12] /Gesetz-gegen-Abtreibungsgegner/!6019176 | |
| [13] /Reproduktive-Rechte/!6114298 | |
| [14] https://www.zdfheute.de/panorama/schwangerschaftsabbruch-medizinstudium-ab… | |
| ## AUTOREN | |
| Mina Billner | |
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