| # taz.de -- Erzählband „Auf dünnem Eis“: Von den Problemen, einen Mensche… | |
| > Der Autor Peter Stamm nähert sich sonderbaren Figuren auf sachte Weise. | |
| > In seinem neuen Erzählband „Der Lauf der Dinge“ bricht er aus diesem | |
| > Verfahren aus. | |
| Bild: Peter Stamm: die „Ahnung von einem Ausweg“ treibt treibt alle seine F… | |
| Der Titel scheint an Peter Stamms ersten triumphalen Erzählungsband | |
| „Blitzeis“ aus dem Jahr 1999 anzuknüpfen. Auch wenn er inzwischen acht | |
| Romane geschrieben hat, gewinnt man den Eindruck, dass die kleine Form ihm | |
| mehr liegt als das Erzählen mit langem Atem. | |
| So oder so, seinem Tonfall und vielen seiner Themen bleibt Peter Stamm in | |
| seinem neuen Erzählungsband meist treu. Die Menschen, die er aufs Eis | |
| schickt, sind einsam und zweifelnd. Sie flirten damit, aus ihrem Leben | |
| auszubrechen wie aus einem Hochsicherheitstrakt. | |
| Viele von ihnen befinden sich auf der Flucht vor der eigenen Existenz, oft | |
| fliehen sie, um sich selbst treu zu bleiben. Im neuen Band sprechen die | |
| Figuren überwiegend in Ich-Form, und Stamm begleitet ihr Tun und Denken im | |
| Präsens. So fühlt man sich ihnen unglaublich nah und alles, was ihnen | |
| geschieht, geschieht quasi in Jetztzeit. | |
| ## Der Schmerz zu leben | |
| Gleich zwei Geschichten heißen: „Auf dünnem Eis“. Bei der darin | |
| schwankenden Frauenfigur handelt es sich um eine erfolglose kinderlose | |
| Schauspielerin, die den Schmerz darüber kennt, am Leben zu sein, wie es an | |
| einer Stelle heißt. In einer Art Rollenspiel nennt sich die Frau Anna | |
| Meisterhans, das klingt ein bisschen nach einer Durchschnittsfrau, und | |
| womöglich ist diese Anna ein Musterbeispiel für ein grundlos eintöniges | |
| Leben mit vorzeitigem Ende. | |
| Im zweiten Teil der Geschichte hintergeht sie ihren Mann, trifft sich mit | |
| einem anderen, wobei die beiden schön verkrampfte Hotelbar-Konversationen | |
| zwischen Annäherung und Abstoßung performen oder sich auf zwei nahe | |
| beieinanderstehenden Bänken Kurznachrichten auf ihre Telefone schicken. | |
| Situationen größtmöglicher Tristesse. Solcherart menschliches Elend in | |
| wenigen Worten zu umschreiben, dafür ist Peter Stamm bekannt. Von der | |
| „Ahnung von einem Ausweg“ ist in diesem Zusammenhang im neuen Band einmal | |
| die Rede. Diese Ahnung treibt alle Figuren Peter Stamms um. Besagte Frau | |
| wird später sagen „Ich brauche einen Menschen. Es ist immer der gleiche | |
| Dreck.“ | |
| ## Worte wie vorsichtige Schritte | |
| Kein Alleinstellungsmerkmal innerhalb der Erzählwelt dieses Autors. Seinen | |
| sonderbaren Figuren nähert er sich stets auf sachte Weise, die titelgebende | |
| Wendung vom „ganz dünnen Eis“ bezieht sich bei ihm auch aufs eigene | |
| Erzählverfahren. Hier setzt einer Worte wie vorsichtige Schritte. Dabei | |
| bricht Peter Stamm diesmal überraschend oft mit den eigenen Konventionen, | |
| erzählt etwa in „Unglaublich und emotional und fantastisch“ unterkühlt vom | |
| Überschwang einer Castingshow nach Art von „Voice of Germany“. | |
| Emotionslos berichtet ein personaler Erzähler, was es dort zu hören und zu | |
| sehen gibt, sodass das Brutale und Bescheuerte dieser Formate grell zu Tage | |
| tritt. Insgesamt aber wirkt diese Erzählung wie ein Ausrutscher. Dass eine | |
| der Kandidatinnen „I Dreamed a Dream“ aus dem Musical „Les Misérables“ | |
| singt, ist dabei kein Zufall, beschwört der Song doch Zuversicht und | |
| Hoffnung und ein Leben, das sich zu leben lohnt. | |
| Gerade im Zweifel darüber übertrumpfen sich die Figuren in den neun | |
| Erzählungen des Bandes. Ihre Sehnsucht führt sie oft aus ihrem alten Leben | |
| hinaus, in einem Falle sogar ins Weltall, auch wenn sich der Mars nur im | |
| Keller des Hauses befindet. Eine Frau schließt sich einer Friedenstruppe im | |
| Kosovo an, obwohl sie schon weiß, dass das Ankommen eine Enttäuschung | |
| bleibt. | |
| ## Privatutopie trifft auf verschrobene Wirklichkeit | |
| Diese Geschichte enttäuscht auch ein bisschen, weil sie nach einem | |
| vielversprechenden ersten Satz („Das Gewicht meiner Pistole hat mir immer | |
| Sicherheit gegeben, geladen ist sie fast ein Kilo schwer.“) wie eine | |
| altbackene Emanzipationsgeschichte tönt. Das fängt damit an, dass die Frau | |
| sich fragt, ob sie in dem neuen knielangen Abendkleid nicht „zu nuttig“ | |
| aussehe und endet bei gängigen Bildern wie dem von sich kosenden Händen als | |
| kleinen spielenden Tieren. Auch hier trifft die Privatutopie einer Person | |
| knirschend auf eine verschrobene Wirklichkeit. | |
| Aufbruchstimmung eint die sehr unterschiedlich gelungenen und beschaffenen | |
| Erzählungen. In ihren besten Momenten erhellt ihre Endzeitstimmung die | |
| Verzweiflung unserer Tage. | |
| 8 Nov 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Shirin Sojitrawalla | |
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