# taz.de -- Texte der Autorin Nino Haratischwili: Als der Westen lieber Olympis… | |
> Die Autorin Nino Haratischwili beschreibt, was schiefgelaufen ist | |
> zwischen Ost und West. Der Band „Europa, wach auf!“ versammelt Texte und | |
> Reden von ihr. | |
Bild: Die Autorin Nino Haratischwili, fotografiert am 14. Oktober 2021 in Stock… | |
Wach auf, wir haben Krieg!“– Mit diesen Worten wird Nino Haratischwili am | |
8. August 2008 von ihrem sechsjährigen Neffen geweckt, ehe er sich wieder | |
seinem Spielzeugauto widmet. Haratischwili verbringt ihren Sommerurlaub in | |
Tbilissi, in ihrem Heimatland Georgien. | |
Den Rest der Familie findet die aus dem Schlaf gerissene Autorin im | |
Wohnzimmer vor, aus dem Fernseher ertönen Worte wie „Mobilmachung“, | |
„Ausnahmezustand“, „Ossetien“ – und „Krieg“. Russland greift Geor… | |
beginnt eine Militäroffensive in Südossetien und Abchasien, während in | |
Peking festlich die Olympischen Spiele eröffnet werden. Der Westen guckt | |
Olympia. Für Georgien interessieren sich wenige in diesen Sommertagen. | |
Nino Haratischwili, die seit 2003 in Deutschland lebt und seit Langem auch | |
auf Deutsch schreibt, war damals noch keine bekannte Autorin. Heute ist sie | |
eine berühmte Schriftstellerin, Dramatikerin und Regisseurin. Für ihr | |
Mammutwerk „Das achte Leben (Für Brilka)“ über Georgien im 20. Jahrhundert | |
wurde sie gefeiert. | |
Nun erscheint ein Sammelband mit Texten und Reden, in denen sie mit | |
präziser Sprache und brillanter Metaphorik auf den Punkt bringt, [1][was | |
schiefgelaufen ist zwischen Ost und West nach dem Ende der Sowjetunion]. | |
„Europa, wach auf!“, heißt der Band, benannt nach einem Essay, den sie 2024 | |
in der FAZ veröffentlichte. Für sie selbst brachte spätestens der Morgen | |
des 8. August 2008 das böse Erwachen. | |
Europa hätte längst aufwachen können, während des Zweiten | |
Tschetschenienkriegs, im Georgienkrieg oder im März 2014 nach der Annexion | |
der Krim. Doch Europa schlafwandelte auf den Abgrund zu. Noch bis heute, | |
schreibt Haratischwili, redeten Europäer über oder mit Putin, als spräche | |
er die Sprache der regelbasierten Ordnung, als sei politischer Anstand eine | |
Kategorie für ihn. | |
„Während du dich noch an gutbürgerlichen Tischmanieren mit Silberbesteck | |
abarbeitest, isst dein großer, dein unersättlicher Nachbar längst mit den | |
Händen, schmatzt dabei, das Fett und das Blut rinnt ihm das Kinn hinunter, | |
er isst und isst und das Paradoxe dabei: Sein Hunger wird immer größer, je | |
mehr er isst, desto mehr will er haben“, schreibt sie. In den insgesamt 15 | |
Texten, zwischen 2013 und 2025 verfasst, gelingt ihr eine solch treffende | |
Bildsprache sehr oft. | |
## Wer fürchtet sich vor der Kunst? | |
Die Sprache der Diktaturen und der Gewalt ist ein wiederkehrendes Thema. | |
Von da aus ist es nicht weit zur russischen Propaganda und ihren | |
Trollfabriken: „Um die ‚Wahrheit‘ zu steuern, muss man die Sprache | |
beherrschen, sie bändigen. Die Beherrschung, die Zähmung der Sprache ist | |
die Voraussetzung für das Fälschen der Geschichte“, schreibt sie in dem | |
Text „Wer fürchtet sich vor der Kunst?“. | |
Darin spielt sie nicht nur auf die russische Fake-News-Fließbandproduktion | |
und die brutale Repression an, deren sich Russland bedient. Sie blickt auf | |
die Kunst, die zum Feindbild für die Diktatur wird. Sie habe die Aufgabe, | |
ein Spiegelmedium der Gesellschaft zu sein, daher müsse der Tyrann bestrebt | |
sein, „sie zu beherrschen und zu kontrollieren“. | |
Im Krieg versagt die Sprache. In ihrer Antrittsrede zum Amt der | |
Stadtschreiberin von Bergen nimmt Haratischwili Bezug [2][auf ihre | |
ukrainische Kollegin Tanja Maljartschuk]. Diese hatte sich in Zeiten der | |
russischen Aggression als „gebrochene Autorin, eine ehemalige Autorin, eine | |
Autorin, die die Sprache verloren hat,“ bezeichnet. Wozu schreiben, wozu | |
Kunst in dunklen Zeiten, fragt sich auch Haratischwili. Sie kommt zum | |
Ergebnis, dass eines Tages das Erzählen wieder möglich sein muss. Die | |
Geschichten und die Literatur ermöglichten Empathie, die so dringend | |
vonnöten sei. | |
Die Analogien, die Metaphorik, die Volten, die Stringenz, all das überzeugt | |
an den Texten Nino Haratischwilis. Was sie von Anna Seghers gelernt hat | |
(„Abgeschlossen ist, was erzählt wird“) oder wie sie vom Spielfilm „Quo | |
Vadis, Aida?“ und vom Massaker in Srebrenica eine Linie zieht zum Umgang | |
mit Putin heute, ist einleuchtend. | |
Man kann die 42-Jährige hier als große Essayistin entdecken; allein den | |
titelgebenden Text und die abschließende Erzählung „Das letzte Fest“ (in | |
der sie beschreibt, wie der Krieg eine Gesellschaft im Alltag verändert) | |
sollte gelesen haben, wer das Verhältnis von Russland zum Rest der Welt | |
verstehen will. | |
3 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Podium-ueber-Demokratie-in-Osteuropa/!6098512 | |
[2] /Neue-Kolumne-Eastsplaining/!6065572 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
## TAGS | |
Georgien | |
Literatur | |
Wladimir Putin | |
Maxim Gorki Theater | |
Georgien | |
Deutsches Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Podium über Demokratie in Osteuropa: Freiheit statt Ordnung | |
Ein hochkarätiges Podium an Schriftsteller:innen diskutierte in Berlin | |
über Demokratie in Osteuropa. Und über die „große Tradition des | |
Widerstands“. | |
Autorin Nino Haratischwili über Georgien: „Wir dürfen nicht müde werden“ | |
Vor der Wahl in Georgien bittet Schriftstellerin Nino Haratischwili Europa, | |
die Opposition zu unterstützen. Die Abkehr von Russland hat ihren Preis. | |
Penthesilia von Nino Haratischwili: Plädoyer für Tod und Unentschieden | |
Autorin und Regisseurin Nino Haratischwili zeigt am Deutschen Theater | |
Berlin eine Penthesilea zwischen Liebe und Krieg – auf Deutsch und | |
Georgisch. |