| # taz.de -- Nazi-Verbrechen in Thessaloniki: Stadt aus Grabsteinen | |
| > Die Nazis haben den jüdischen Friedhof von Thessaloniki zerstört. Bis | |
| > heute sind die Grabsteine überall in der Stadt verstreut. Ein Fotograf | |
| > dokumentierte die Orte. | |
| Bild: Auch an der Kirche Hagios Nikolaos Orfanos aus dem 14. Jahrhundert wird e… | |
| Die Bedeutung der Stadt für das Judentum kennt Martin Barzilai gut. Der | |
| Fotograf weiß, dass die nordgriechische Hafenstadt einst als „Jerusalem des | |
| Balkans“ galt: Thessaloniki. Die Stadt, aus der Barzilais Vorfahren | |
| stammen, stellte ab Mitte des 19. Jahrhunderts unangefochten das | |
| kosmopolitischste und multikulturellste Zentrum des Osmanischen Reiches | |
| dar. Ökonomisch wie kulturell spielten die Juden dabei eine herausragende | |
| Rolle. | |
| Juden, die einst auf der Iberischen Halbinsel gelebt hatten, die Sepharden, | |
| waren ab 1492 aus Spanien und ab 1496 aus Portugal vertrieben worden. Ein | |
| Teil von ihnen siedelte sich i[1][n Thessaloniki an, eine Großstadt], die | |
| damals zum Osmanischen Reich gehörte. Im Jahr 1902 machten Juden mit rund | |
| 62.000 Personen knapp die Hälfte der Stadtbevölkerung aus. | |
| All das änderte sich schlagartig, als am 6. April 1941 Truppen der | |
| deutschen Wehrmacht Hellas angriffen und rasch auch in Thessaloniki | |
| einmarschierten. Etwa 50.000 [2][Juden lebten zu diesem Zeitpunkt in der | |
| Stadt]. Sie bildeten vor dem deutschen Überfall die mit Abstand größte der | |
| 39 aktiven jüdischen Gemeinden in Griechenland. | |
| Die Nazis gingen skrupellos gegen sie vor. Das traf auch die Vorfahren von | |
| Martin Barzilai. Im Juli 1942 befahlen [3][die Deutschen] 9.000 männlichen | |
| Juden griechischer Staatsangehörigkeit, sich auf dem zentralen „Platz der | |
| Freiheit“ in Listen für Zwangsarbeit einzutragen. Am 6. Dezember 1942 wurde | |
| der alte jüdische Friedhof, der größte jüdische Friedhof in ganz Europa, | |
| mit geschätzt über 300.000 Gräbern, im Herzen von Thessaloniki vollständig | |
| zerstört und eingeebnet. Das weitläufige Gelände wurde in einen großen | |
| Steinbruch umgewandelt, das Material für verschiedene Bauzwecke verwendet. | |
| Grabsteine, Grabeinlassungen und Grabplatten von unschätzbarem Wert wurden | |
| entfernt. | |
| ## Vom jüdischen Leben ist kaum etwas übrig geblieben | |
| Deportationen im großen Stil folgten. Von März bis August 1943 deportierten | |
| die deutschen Besatzer mehr als 45.000 Juden aus Thessaloniki mit dem Zug | |
| in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Nahezu alle Deportierten kamen | |
| in den Gaskammern ums Leben. Der brutalen Verfolgung entkamen nur wenige | |
| Juden: etwa 300 mit spanischer Staatsangehörigkeit erreichten Spanien, | |
| andere flohen nach Palästina, rund 500 flohen in die nahe gelegenen Berge, | |
| um sich dem linken Widerstand gegen die Wehrmacht anzuschließen. Doch die | |
| blühende jüdische Gemeinde wurde von 1941 bis 1943 nahezu völlig | |
| ausgelöscht. Heute leben nur noch etwa eintausend Juden in der Stadt. | |
| Die Nachkommen der wenigen, die überlebten, sind heute in der Welt | |
| verstreut. So auch die des 54-jährigen Martin Barzilai, der in Uruguays | |
| Hauptstadt Montevideo geboren wurde und heute in Paris wohnt. Seine | |
| Verbindung zu Thessaloniki geht auf seinen Großvater Leon Barzilai zurück, | |
| der dort 1907 zur Welt kam. Als der 17 Jahre alt war, also 1924, ist er mit | |
| seinen Eltern nach Paris gezogen, erzählt Barzilai im Gespräch mit der taz. | |
| Von den Familienmitgliedern, die in Thessaloniki zurückblieben, habe fast | |
| keiner die Gräueltaten der Nazis überlebt. Einer der Ermordeten war der | |
| Fotograf Mamoute Menahem. Das war ein Onkel von Leon Barzilai. Martin | |
| Barzilai fand ein Foto des Verwandten im Familienarchiv seines Opas. Darauf | |
| zu sehen ist ein Selbstporträt von Mamoute Menahemam, wie er 1926 am Grab | |
| seiner Schwester Doudoune auf dem jüdischen Friedhof in Thessaloniki sitzt. | |
| Da habe Barzilai sofort Neugier gepackt. Damals war er noch ein Teenager, | |
| und von da an hatte er den Wunsch, das Grab seiner Vorfahrin zu finden. Er | |
| erfuhr bald: Der Friedhof existiert nicht mehr. „Schon mein Großvater Leon | |
| sagte stets: ‚Es gibt nichts mehr in Thessaloniki.‘“ | |
| ## Barzilai wollte seine Wurzeln finden | |
| Doch das stimmt nicht ganz. Martin Barzilai reiste 2018 erstmals und ab | |
| dann immer wieder in die Heimatstadt seiner Vorfahren. „Ich wollte meine | |
| Wurzeln finden und sehen, was aus den Gräbern geworden ist.“ Um den | |
| Holocaust sei es ihm damals gar nicht gegangen. Er wurde fündig. Mauern, | |
| Bauten, orthodoxe Kirchen und auch das Areal des „Weißen Turms“ (Λευκ�… | |
| Πύργος) – das Wahrzeichen der Stadt: Überall in der Stadt fand Barzilai | |
| Fragmente jüdischer Gräber. | |
| In der orthodoxen Kirche des heiligen Dimitrios wurden Marmorplatten mit | |
| jüdischen Inschriften verbaut, die die damaligen Verantwortlichen im | |
| Oktober 1943 „für den Wiederaufbau der Kirche“ angefordert hatten. | |
| Das Königliche Theater pflasterte man 1943 mit „etwa 250 Quadratmetern | |
| quadratischer Platten mit den Maßen 0,50 × 0,50 cm aus Marmor der | |
| ehemaligen jüdischen Friedhöfe“, wie es in der Bekanntmachung der Gemeinde | |
| heißt. Vom berüchtigten deutschen Offizier Max Merten, der die | |
| Kennzeichnung, Ghettoisierung und den Vermögenseinzug der Juden befahl, | |
| wird berichtet, dass er „mit seinen Stiefeln auf diesen (jüdischen | |
| Marmor-Grabplatten) herumgetanzt“ sei und gesagt haben soll, „er höre das | |
| Knacken der Knochen der Juden“. | |
| Dass die Fragmente des Friedhofs über die Stadt verteilt sind, hat Barzilai | |
| von einem ehemaligen Geschäftsmann und gebürtigen Thessaloniker Jacky | |
| Benmayor erfahren. Er ist einer der wenigen in der Stadt, der „Ladino“ | |
| (לאדינו) lesen kann. Das ist Judäo-Spanisch, die romanische Sprache der | |
| Sepharden mit hebräischen Buchstaben. Ebenso hilfreich bei der Suche war | |
| der Apotheker Iosif Vahena. Er habe im Alter von acht Jahren beim Spielen | |
| mit seiner Schwester nahe einer orthodoxen Kirche im Stadtteil Panorama | |
| einen jüdischen Grabstein entdeckt. | |
| Barzilais gewonnene Erkenntnisse flossen 2023 in das Buch „Cimetière | |
| fantôme: Thessalonique“ („Geisterfriedhof: Thessaloniki“) ein. Darin | |
| präsentiert er 64 Farbfotos, ein Tagebuch und Interviews. Erstmals hat | |
| Martin Barzilai auf einer Stadtkarte die 20 Orte in Thessaloniki markiert, | |
| an denen sich heute noch Friedhofsfragmente finden. Und die Historikerinnen | |
| Kateřina Králová und Annette Becker haben für das Buch die Geschichte des | |
| alten jüdischen Friedhofs von Thessaloniki beleuchtet. | |
| Bei seiner Suche sei er „nüchtern professionell“ vorgegangen – trotz der | |
| religiösen und familiären Nähe, betont Barzilai gegenüber der taz. Eine | |
| Entdeckung hat ihn dann doch schockiert: Die 1943 gegründete Medizinische | |
| Fakultät der Aristoteles-Universität, deren Campus auf dem Gelände des | |
| jüdischen Friedhofs errichtet wurde, verwendete Grabplatten als | |
| Seziertische. Außerdem baute sie „drei Betonbecken, in die sie Leichen aus | |
| dem jüdischen Friedhof legte, damit die Studenten daran üben konnten“, so | |
| der Fotograf. | |
| ## Deutschland fördert Holocaust-Museum | |
| Dass der damalige Bürgermeister der Stadt, der inzwischen verstorbene | |
| Jannis Boutaris, 2014 bei der Einweihungsfeier des Denkmals für den | |
| zerstörten jüdischen Friedhof auf dem Gelände der Universität erklärte, | |
| dass die Stadt „sich für dieses ungerechte und schuldhafte Schweigen“ | |
| schäme, findet Barzilai angemessen. Boutaris sei ein „kultivierter Mensch“ | |
| gewesen. Dass Deutschland den Bau eines Holocaust-Museums in Thessaloniki | |
| mit zehn Millionen Euro teilfinanziert, trage dazu bei, Wunden zu heilen, | |
| meint Barzilai. | |
| Er wisse, dass die Liste der Orte mit Resten des alten jüdischen Friedhofs | |
| nicht komplett sei, sagt er. Er würde gerne abermals nach Thessaloniki | |
| reisen, um sie zu ergänzen. Martin Barzilais Botschaft mit Blick auf seine | |
| Funde lautet: „Menschen kann man nicht auslöschen.“ | |
| 9 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ferry Batzoglou | |
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