| # taz.de -- Nachruf auf Micha Brumlik: Ein Linker mit präzisen, tiefenscharfen… | |
| > Wie nur wenige verstand Micha Brumlik es, Tagespolitisches mit | |
| > theoretischen Reflexionen zu verbinden. Zum Tod des jüdisch-deutschen | |
| > Intellektuellen. | |
| Bild: Seine wahre Heimat war die jüdische, aufklärerische Geistesgeschichte: … | |
| In einem [1][seiner späten Texte für die taz], veröffentlicht Weihnachten | |
| 2021, betrieb Micha Brumlik Bibelexegese mit aufklärischem Impuls. Dass die | |
| Jesusgeschichte von Flucht und Vertreibung handelt, ist bekannt. Aber sie | |
| beerbt, so Brumliks Hinweis, die rund 3.000 Jahre alten alttestamentlichen | |
| Narrative von Abraham und Moses, die „von Missbrauch und Ausbeutung der | |
| Flüchtlinge erzählen“. | |
| Als Kronzeugen tauchen in diesem kurzen Text nicht zufällig [2][Hannah | |
| Arendt] und der Soziologe [3][Georg Simmel], beide jüdischer Abstammung, | |
| auf. Für Brumlik, selbst jüdischer Deutscher, war das Gefühl des Fremdseins | |
| existenziell. Daraus leitete er die Überzeugung ab, dass das Judentum der | |
| Aufklärung und dem Universalismus verpflichtet sei. „Unser heutiges Europa | |
| sollte ein Kontinent der Ankunft, der Gastfreundschaft für die Fremden | |
| werden“, schloss er seinen wenig besinnlichen Weihnachtstext. | |
| Brumlik, 1947 in der Schweiz als Sohn von Hitler vertriebener jüdischer | |
| Deutscher geboren, war ein 68er und undogmatischer Linker in Frankfurt. | |
| Anders als [4][Joschka Fischer] blieb er allerdings immun gegen die | |
| [5][Verlockungen der Militanz]. Universell gebildet, beherrschte er die | |
| Religionswissenschaft ebenso souverän wie die Kritische Theorie und den | |
| Marxismus. Er gehörte zur Post-68er-Szene, unterstützte das Sozialistische | |
| Büro und saß für die Grünen im Frankfurter Stadtparlament. Ein linker | |
| Bürger – doch mit einem weiteren Horizont als die erst linksradikale, | |
| später grüne Szene. | |
| Ein Fixpunkt war das wechselvolle Verhältnis zu Israel. 1967, mit 19 | |
| Jahren, ging er nach Israel, kehrte jedoch nach dem Sechstagekrieg und der | |
| Besetzung des Westjordanlands als Antizionist zurück. Texte für das | |
| Frankfurter [6][Sponti-Stadtmagazin Pflasterstrand] versah er auch mal mit | |
| dem Slogan „Solidarität mit der PLO“. In den 1980er Jahren änderte er sei… | |
| Haltung, auch wegen antisemitischer Untertöne im Antizionismus des | |
| deutschen Linksradikalismus. | |
| Unterschwelligen Antisemitismus erlebte er selbst, bei einer Demo im | |
| Frankfurter Häuserkampf in den 70er Jahren, die sich auch gegen jüdische | |
| Kaufleute richtete. Damals legte ein späterer Linkspartei- (und heute | |
| Ex-)Genosse tröstend den Arm um seinen Hals und sagte: [7][„Ach, Micha, du | |
| bist doch ganz anders als die ganzen anderen Juden.“] | |
| ## Die Verwandlung der Grünen kommentierte er spöttisch | |
| 1991, als der Irak Scud-Raketen auf Israel abfeuerte, lehnte die damals | |
| noch pazifistische Grünen-Spitze die Lieferung von Anti-Scud-Raketen an | |
| Israel ab. Brumlik trat aus Protest gegen die wenig geschichtsbewusste | |
| Haltung der Partei aus. | |
| Er blieb, anders als manche Weggefährten, in Gerechtigkeitsfragen immer ein | |
| Linker. Die Verwandlung der Grünen von einer aufrührerischen linken | |
| Organisation in eine brave liberale Staatspartei kommentierte er mit Spott. | |
| Allerdings ohne jene säuerliche Bitterkeit, mit der manche Enttäuschte den | |
| Weg der Grünen in die Mitte bedachten. | |
| Brumlik, von Berufs wegen Professor für Erziehungswissenschaften, kam dem | |
| nahe, was [8][Antonio Gramsci] einen organischen Intellektuellen genannt | |
| hatte – allerdings ohne die marxistische Fortschrittsteleologie. Sein | |
| Aktionsradius reichte weit über das Universitäre hinaus. Er engagierte sich | |
| in Frankfurt dafür, die jüdische Tradition zu bewahren und Reste des | |
| Ghettos am Börneplatz nicht unter Neubauten verschwinden zu lassen. 2000 | |
| wurde er in Frankfurt Direktor des [9][Fritz-Bauer-Instituts], das ein | |
| Thinktank für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wurde. | |
| Vor allem verstand Brumlik es wie wenig andere, tagespolitische | |
| Intervention mit scharfsinnigen theoretischen Reflexionen zu verbinden. Er | |
| prüfte sie stets an den Prinzipien der Aufklärung und der jüdischen | |
| Denktradition. | |
| ## Früh kritisierte er Netanjahus Israel | |
| Universalismus war für ihn unverhandelbar. Früh sah er die problematische | |
| Entwicklung Israels unter Netanjahu, der 2014 Israel zum „Staat des | |
| jüdischen Volkes“ erklärte. Brumlik erkannte er darin die Verwandlung des | |
| zionistischen Staates in eine Ethnokratie, in der die ethnische | |
| Diskriminierung letztlich das demokratische Grundprinzip der Gleichheit | |
| zerstört. | |
| Die bohrende Frage lautet, ob Israel definiert als jüdischer Staat eine | |
| Demokratie bleiben kann. Dieser Prozess, so Brumliks Prognose, würde die | |
| jüdische Diaspora von Israel entfremden. | |
| Brumlik warnte auch vor einer Verengung des Meinungskorridors in | |
| Deutschland in Sachen Israel. In dem [10][Anti-BDS-Beschluss des | |
| Bundestages 2019] erkannte er, der präzise, tiefenscharfe Analysen auch mal | |
| mit ad hoc einleuchtenden Buzz-Worten zu plausibilisieren verstand, einen | |
| heraufdämmernden „McCarthyismus“– eine deutsche Variante jener | |
| berüchtigten, antiliberalen Hetzjagd auf Kommunisten in den USA der 50er | |
| Jahre. | |
| 2021 war er Mitverfasser der „Jerusalem Declaration on Antisemitism“, die | |
| anders als die gängige Definition der IHRA (International Holocaust | |
| Remembrence Association), den Antisemitismus-Begriff vor | |
| Instrumentalisierungen durch die israelische Regierung schützen sollte. | |
| ## Publizistisches Gespür für das, was sich anbahnt | |
| Das Wort Vordenker ist wahrscheinlich zu Recht in Vergessenheit geraten. | |
| Allzu oft schmückt es Trendintellektuelle, die vor allem die Klaviatur der | |
| Aufmerksamkeitsökonomie beherrschen. Wohl verstanden bezeichnet das Wort | |
| die Fähigkeit, etwas zu begreifen und auf den Begriff zu bringen, was | |
| andere erst dunkel ahnen. Brumlik verband das publizistische Gespür für | |
| das, was sich anbahnt, mit enzyklopädischer Kenntnis intellektueller | |
| Traditionslinien von der Tora bis zu Adorno. | |
| Mit Israel verband ihn kritische Solidarität. Er war ein deutscher Linker, | |
| ein jüdischer Deutscher und ein Bürger Frankfurts. Doch seine wahre Heimat | |
| war die jüdische, aufklärerische Geistesgeschichte. | |
| Micha Brumlik ist am Dienstag mit 78 Jahren nach langer Krankheit | |
| gestorben. | |
| 11 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Fluechtlinge-in-der-Weihnachtsgeschichte/!5821266 | |
| [2] /Stueck-ueber-das-Leben-der-Philosophin/!6124709 | |
| [3] /Die-Religion-des-Westens/!1133268/ | |
| [4] /!vn6017440/ | |
| [5] /Stern-ueber-Fischers-Vergangenheit/!5070044 | |
| [6] /Stadtmagazin-Journal-Frankfurt/!5179014 | |
| [7] https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/820533_Brumlik_Antisemitismus_… | |
| [8] /Buch-ueber-Antonio-Gramsci/!5794267 | |
| [9] /25-Jahre-Fritz-Bauer-Institut/!5654860 | |
| [10] /Kommentar-BDS-Votum-im-Bundestag/!5596313 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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