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# taz.de -- Debatte über Abschiebungen nach Syrien: Offene Rechnungen
> In Syrien herrscht bis in staatliche Truppen hinein Selbstjustiz. Viele
> Gruppen wollen Rache. Sicher ist das Land nicht.
Bild: Verwüstete Schule in Jobar, einem Stadtteil von Damaskus
Jobar/Yamouk/Idlib taz | Abu Mohamad lenkt in Jobar sein altes gelbes Taxi
über Staub und Steinbrocken. Die syrische Armee unter Assad hätte erst die
Stadt bombardiert und dann ausgeraubt, erzählt der Taxifahrer. Kabel,
Kloschüsseln, selbst die Fliesen – alles auf Märkten verkauft. Dass er je
zurück in sein Haus kann, glaubt Abu Mohamad nicht.
Im Schatten unter einem Hausgerüst liegt Abu Fahed, den Schal ins Gesicht
gezogen. Der Friedhofswärter wacht über die Toten – Hunderte hat er hier
begraben, unter ihnen auch seinen Vater und seinen Sohn. Dann zeigt er
stolz ein Selfie mit Annalena Baerbock. Nach ihrem Besuch in Jobar im März
zählte die ehemalige Außenministerin eine Reihe an Bedingungen für einen
sicheren Neuanfang auf: politische Teilhabe, Rechte und Schutz aller
ethnischer oder religiöser Gruppen. „Wenn Racheakte ausbleiben. Wenn
Extremismus und radikale Gruppen keinen Platz haben.“
Davon ist Syrien weit entfernt. Das sieht auch Baerbocks Nachfolger. In
Harasta, einem zerstörten Vorort von Damaskus, sagte Johann Wadephul
kürzlich: „Hier können wirklich kaum Menschen richtig würdig leben.“
Daraufhin entbrannte Streit innerhalb der CDU, Kanzler Friedrich Merz
widersprach. Es gäbe „keinerlei Gründe mehr für Asyl in Deutschland“,
deswegen könne abgeschoben werden. Wadephul wurde zurechtgewiesen, [1][der
Druck stieg]. Letztendlich ruderte der Außenminister am Dienstag zurück: Er
stehe zu den vereinbarten Positionen zur „Rückführung“ nach Syrien –
zunächst sollen demnach Straftäter und sogenannte „Gefährder“ abgeschoben
werden.
„Ich bin zu Hause, aber auf den Straßen ist es nicht sicher“, erzählte
Sanaa Al Saadi aus Suweida der taz Mitte Juli am Telefon. Die Kinderärztin
beschrieb, wie bewaffnete Kämpfer der staatlichen Truppen einmarschierten.
„Es gibt Kämpfe, draußen höre ich Schüsse. Es passieren viele Verbrechen
gegen Bürger*innen.“ Bei den Massakern wurden über 1.600 Menschen getötet.
## Außergerichtliche Tötungen, Brutalität der neuen Armee
Die Hoffnung auf gesellschaftlichen Frieden ist geschwunden. In Syrien sind
viele Rechnungen offen, Selbstjustiz herrscht bis hin in die staatlichen
Truppen. Die mehrheitlich alawitische Küste profitierte davon, dass
Ex-Machthaber Baschar al-Assad Alawit ist, die Gebiete blieben von seinen
Bomben verschont. Nach dem Regimewechsel fielen bewaffnete Männer, darunter
auch Truppen der Übergangsregierung, an der Küste ein. Ganze Familien
wurden willkürlich erschossen, Videos zeigen [2][außergerichtliche
Tötungen]. Auch in kurdischen Gebieten fürchten die Menschen die Brutalität
der neuen nationalen Armee.
Ob Menschen zurückkehren, hängt von der Gegend ab. Sicher ist aber, dass
Syrien nicht sicher ist.
„Die Überreste des Assad-Regimes, Leute, die Rache wollen, sind sehr
brutal, furchterregend und tödlich“, sagt Huda Khaity. Sie war 2018 aus
Ghouta vor den Giftgasangriffen des Assad-Regimes geflohen. Seit 2013
leitet sie ein Frauenzentrum, zunächst unter Belagerung in Ghouta und nach
ihrer eigenen Vertreibung später in Idlib. Einmal besuchte sie ihr früheres
Zuhause.
„Ich fand mein Haus zerstört, die Bäume im Garten gefällt. Der Verlust
geliebter Menschen wird real und beginnt, neue Wunden aufzureißen.“ Es
brauche psychologische Unterstützung und gesellschaftliche Aufarbeitung für
Frieden in Syrien, so Khaity. „Wir müssen Kriminelle zur Rechenschaft
ziehen und die Opfer entschädigen.“
## Ausländische Investoren profitierten
Die neue Regierung hat sich mühsam das Vertrauen westlicher Politiker
erarbeitet, Sanktionen wurden aufgehoben. Vom wirtschaftlichen Aufschwung
profitiert allerdings nur eine kleine Elite um die neuen Machthabenden –
und ausländische Investoren.
Während der Wiederaufbau in Jobar stockt, kehrt in Yarmouk langsam das
Leben zurück. Vor einer apokalyptisch anmutenden Szenerie steht ein
halbwegs intaktes, orangefarbenes Haus. Nur eine Wohnung ist bewohnt, ein
Mann schaut vom Balkon hinunter auf das Trümmerfeld gegenüber, raucht eine
Zigarette. Ein Ladenbesitzer erzählt, dass er eine kleine Solaranlage
gekauft hat – für Licht, Kühlschränke und Kühltruhe. „Von der Regierung
bekommen wir nichts, kein Strom, kein Wasser, keine Müllabfuhr.“
Nach ihrem Besuch in Jobar zog Baerbock übrigens weiter: zum verlassenen
Gebäude der deutschen Botschaft in Damaskus. Feierlich nahm sie [3][vom
Hausmeister den Schlüssel entgegen]. Doch auch ein halbes Jahr nach der
verkündeten Eröffnung ist selbst das Gebäude der Botschaft noch nicht
bereit für eine Rückkehr.
8 Nov 2025
## LINKS
[1] /Debatte-ueber-Abschiebungen-in-der-Union/!6127237
[2] /Syrien-nach-dem-Sturz-von-Assad/!6074900
[3] /Deutsche-Vertretung-in-Syrien/!6073538
## AUTOREN
Julia Neumann
## TAGS
Syrischer Bürgerkrieg
Baschar al-Assad
CDU/CSU
Friedrich Merz
GNS
Abschiebung
Johann Wadephul
Schwerpunkt Syrien
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