| # taz.de -- Album und Ausstellung Chicks On Speed: Widersprüche, Songs und Yog… | |
| > „HEARTopia“. Chicks on Speed veröffentlichen eine Werkschau und ein neues | |
| > Album. Zudem startet eine große Retrospektive in der Münchner „Villa | |
| > Stuck“. | |
| Bild: Kunstschrecks waren sie immer schon: Alex Murray-Leslie und Melissa Logan | |
| Die Welt von Pop, Konsum und Fun ist eine glatte geworden. Eine | |
| retinadisplayglatte. Diese Analyse ist nicht besonders neu – der Philosoph | |
| Byung Chul-Han postulierte schon 2015 den magischen Dreiklang iPhone – Jeff | |
| Koons – Brazilian Waxing, doch ist die These in den letzten Jahren | |
| besonders wahr geworden. | |
| Jeden Tag ein bisschen mehr. Angeheizt von der selbstauferlegten | |
| permanenten Performanz der sozialen Medien, ihren alles regierenden | |
| Algorithmen, von digitalen Filtern, sehr analogen Fillern und natürlich der | |
| künstlichen Intelligenz, die in jeden Millimeter unseres Alltagslebens | |
| sickert, verwandelt sich die Welt: Unsere Innenstädte, Wohnungen und | |
| Kulturprodukte werden mit jedem Tag ein bisschen unaufhaltsamer zu slicken, | |
| sinnentleerten mood boards. Deren austauschbare Storys ziehen wir uns | |
| passiv rein, ohne uns daran zu stoßen oder es überhaupt groß zu bemerken. | |
| Wie auch? Alles so schön makellos hier. | |
| „Welcome to IBEOBICS! This is a mind body exercise routine, inspired by | |
| Jane Fondas aerobics and German holist neurobiology“, säuselt es sinnlich | |
| direkt in den Schädel, voll hinten rein in den auditorischen Kortex, klickt | |
| man digital auf play, um das neueste Album der | |
| Elektro-Punk-Kunst-Stresserinnen von Chicks on Speed, „HEARandNOWtopia“ zu | |
| hören. | |
| ## Training des Körpers | |
| Die Stimme kribbelt unterm Schädel. 11:31 Minuten lang führt sie eine | |
| Sportübung durch, irgendwo zwischen Yoga und den Anweisungen | |
| automatisierter Videoanrufe, um die Identität der eigenen Person | |
| authentifizieren zu lassen. Das Ganze dient zum Training des Körpers, für | |
| eine „consumption of good ideas“, den Konsum von Konzepten und guten Ideen. | |
| Es folgt „Synthesize“, die treibende Single-Auskopplung des Albums als | |
| erster „richtiger“ Track, über dessen [1][peitschend-ratterndem | |
| Giorgio-Moroder-Beat] sich süffisant der Sprechgesang von Alex | |
| Murray-Leslie und [2][Melissa Logan] senkt: „We look hot / We stay so clean | |
| / Out in an electric car / Urban gardening / Step by step / Circular | |
| aesthetics / Step by step / Degrowth insurance / Step by step / ast fashion | |
| out of fashion“. Der Ton ist gesetzt. | |
| ## Keine Nostalgie, nirgends | |
| Zwar hat das 1997 in München gegründete Kunst-Musik-Kollektiv nun nicht nur | |
| sein neues Album beim Label Grönland veröffentlicht, sondern gleichzeitig | |
| auch die fünfteilige Anthologie „HEARtopia“, eine 33 Songs umfassende | |
| musikalische Retrospektive. Doch schnell ist klar: Die mittlerweile seit | |
| fast 30 Jahren bestehende „Band“ ist weder nostalgisch, noch hat sie den | |
| Anschluss verloren. | |
| Das neue Werk, das auf den fünf Alben teils mit untergemischt ist und sich | |
| dergestalt sofort selbst kanonisiert, schließt musikalisch nahtlos an | |
| bummernde Chicks-Traditionen an. Der Sound kickt, während inhaltlich mit | |
| abgesägter Spielzeugschrotflinte der Zeitgeist gejagt wird: „What a view“. | |
| Parallel zur großen Veröffentlichung eröffnet nun auch noch die frisch | |
| renovierte Villa Stuck in München, – ursprüngliches Wohnhaus des | |
| Jugendstil-Künstlers Franz von Stuck –, nach mehrjähriger Schließung mit | |
| einer Retrospektive des künstlerischen Werkkörpers der Gruppe. | |
| ## Die Subkultur aufwecken | |
| Das passt, sind doch auch Chicks on Speed Töchter der Stadt: Gegründet an | |
| der Münchner Akademie der Künste von der Australierin Alex Murray-Leslie, | |
| der US-Amerikanerin Melissa Logan und der Münchnerin Kiki Moorse, mischten | |
| Chicks on Speed erst die Kunsthochschule auf und weckten Ende der 1990er | |
| die angeschläferte, Münchner Subkulturszene auf. | |
| Das Werk von Murray-Leslie und Logan – Fashion Stylistin (und | |
| Technoproduzentin) Kiki Moorse stieg 2007 aus – widersetzte sich den | |
| klassischen künstlerischen Kategorien. Es mäanderte zwischen Performance, | |
| Design, Mode, Musik, bildender Kunst, Happening, Prosalesung, politischer | |
| Aktion und Theater. | |
| Schnell folgten Konzerte und Aktionen auf der ganzen Welt, vom Pariser | |
| Centre Pompidou, über das MoMAK in Kyoto bis ins New Yorker MoMA. Über die | |
| Jahre kollaborierte die Gruppe mit unzähligen Musiker:innen, | |
| Künstler:innen und Aktivist:innen, darunter: DJ Hell, Peaches, DMX Krew, | |
| Julian Assange, Kreidler und viele weitere. Chicks on Speed blieben dabei | |
| stets messerscharf in ihren Analysen, ästhetisch schrill, unangepasst, | |
| knallig, überpointiert, ja irgendwie drüber. | |
| ## Schritt für Schritt gar nicht glatt | |
| „Camp sieht alles in Anführungszeichen. Es ist keine Leuchte, sondern eine | |
| ‚Leuchte‘; keine Frau, sondern eine ‚Frau‘.“ Schriebt Susan Sontag in… | |
| Aufsatz „Notes on Camp“. Und so haben sich Chicks on Speed nach mehreren | |
| stillen Jahren direkt aus der Vergangenheit in unsere schöne neue „Zukunft“ | |
| gebeamt, um unseren „Lifestyle“, unsere „Politiken“ und unsere „Kultu… | |
| so richtig unter die Lupe zu nehmen – step by step und irgendwie gar nicht | |
| glatt. | |
| Am eingängisten erlebt man das beim linearen digitalen Hören des neuen | |
| Albums. Während die größten Popmomente der Chicks in ihrer Vergangenheit | |
| aus dreisten Coverversionen [3][wie „Kaltes Klares Wasser“ (Malaria)], | |
| „Wordy Rappinghood“ (Tom Tom Club) und die EP „chix 52“ voller | |
| Neuinterpretationen von Songs der US-New-Wave-Pioniere The B-52s bestanden, | |
| verlassen sich Murray-Leslie und Logan bei „HEARandNOWtopia“ auf ihren | |
| eigenen Kosmos. Und nichts und niemand ist darin sicher. | |
| „I am a vegetable / I am cheewy, tasty but seedy too /Take away your pork | |
| chops /Your chicken thigs and ground roast / So smooth.“ Heißt es da ach so | |
| korrekt und liebevoll hauchend im Feverray-reminiszierenden Song „MEAT & | |
| drag“ während im elektronisch-humpernden „Tactically No One is Illegal“ … | |
| jazzigen Einschüben der Provokation durch Frauen (jedes „feminine“ wird | |
| durch ein hintergründiges Chorecho mit „Savage“ beantwortet) und Queers | |
| nachgegangen wird: „What ist the provocation? LBTQ rights?“ | |
| ## An den Nerven zerren | |
| Auch wenn das Hirn irgendwann das genaue Zuhören aufgibt – zu sehr zerren | |
| die Chicks mit ihren eklektischen Beats an den überreizten Nervenenden – | |
| tauchen immer wieder Versatzstücke der Lyrics an die Oberfläche des | |
| Bewusstseins. „Content ID – find me / Feed my song to you / Feed / Sweet / | |
| Delicious / Crunchy / Cookies/Find me / Let’s accept them all“, heißt es da | |
| im zuckenden Track „Cookies“. | |
| Dessen hyperboles Video ziert auch erwartbar die Startseite der | |
| COS-Webpage, während zwischen der vielstimmigen Ungenauigkeit digital | |
| geglitchter Chöre und musikalisch experimenteller Unsicherheiten in | |
| „Discountercounter“ nur die Wörter „Upcycled food“ es ins Hirn schaffe… | |
| Hingegen heißt es beim Track „Avatar“: „Deported / Actually convienent / | |
| The living room / The bathroom / The kitchen / what a view / Marry me | |
| /Rearrange the stars to sell out“ – oder so ähnlich. Überhaupt geht es vi… | |
| ums Einverleiben und Verschlingen. Ums Hungern, Kämpfen, [4][Dazugehören | |
| und Überleben] – um die schlichte Existenz. | |
| ## Wenn der Stärkere alles schluckt | |
| Wenig verwunderlich in einer Welt, in der das rechte Recht des Stärkeren | |
| alles verschluckt, was sich nicht durch Ozempic unsichtbar gespritzt hat. | |
| Schon in früheren Tracks wie den Chicks-Klassikern „We don’t Play Guitars�… | |
| und „Eurotrashgirl“ positionierte sich die „Band“ politisch, ohne sich … | |
| trotz stilistisch eingesetzter Ironie – überheblich, nicht dazugehörig oder | |
| messianisch zu geben. | |
| Egal wie sehr das System kritisiert wurde, sogar im eurotrancigen „Art | |
| Rules“ (2009), in dem sie gemeinsam mit Turner-Preisträger Douglas Gordon | |
| mit dem Kunstmarkt ins Gericht gingen: „Expensive glorified / wallpaper / | |
| Brush it up / Rip it down / Arts the rule / Cash the tool“ war klar, dass | |
| sich die Chicks über den Widerspruch ihrer eigenen Existenz bewusst sind. | |
| „Wenn etwas einfach nur schlecht ist (und nicht camp), liegt das oft daran, | |
| dass es in seinen Ambitionen zu mittelmäßig ist“, führt Sontag in ihrem | |
| Essay weiter aus. Ein neues Album, eine musikalische und eine künstlerische | |
| Retrospektive und ein paar fiese, nervige Kerben und Sprünge in der | |
| verspiegelten Teflonwelt des postdigitalen Elektrotrashpop später wird | |
| klar: Unambitioniert waren Chicks on Speed nie. Ganz im Gegenteil. | |
| 23 Oct 2025 | |
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