| # taz.de -- Wie Städte Abschottung erzeugen: „Der Glaube, dass wir uns verä… | |
| > Städte gelten als progressiv, doch auch dort gewinnen Rechte Stimmen. | |
| > Zwei Forschende erklären, warum fehlende Zukunftsvisionen eine Gefahr | |
| > sind. | |
| Bild: AfD-Wahlkampf in Berlin: Trotz Großstadt-feindschaft bearbeiten Rechte S… | |
| taz: Herr Mullis, Sie haben einen Vortrag gehalten mit dem Titel „Städte. | |
| Ein progressiver Leuchtturm?“ Es gibt die weitverbreitete Annahme, dass | |
| rechte Landnahme vor den Städten Halt macht. Ist das so? | |
| Daniel Mullis: Wenn man auf die Landkarten blickt, die [1][nach jeder Wahl] | |
| erscheinen, dann kann dieser Eindruck entstehen. Dabei differenzieren | |
| Wahlergebnisse innerhalb von Städten sehr stark. Wir sehen seit 2017 | |
| insbesondere in den peripheren Lagen der [2][Städte] einen starken Zuwachs | |
| für die AfD. Oft sind das Stadtteile, die von Abstiegserfahrungen, sozialer | |
| Exklusion und Entdemokratisierungsprozessen betroffen sind, aber längst | |
| nicht nur: Auch in wohlhabenden Stadtteilen mit einer langen konservativen | |
| Tradition wird die extreme Rechte gewählt. Wenn man genauer hinschaut, | |
| stellt man fest, dass auf allgemeiner Ebene in diesen Stadtteilen die | |
| Dynamiken ähnlich denen sind, die wir in ländlichen Gebieten beobachten. In | |
| Städten wie Cottbus, Dresden, Hanau oder Gelsenkirchen hat die AfD ganz | |
| starke Ergebnisse erzielen können. In NRW beispielsweise waren es die | |
| Städte, in denen die AfD in die Stichwahlen kam. | |
| taz: Wenn nicht Stadt oder Land den Unterschied macht, was wären die | |
| Faktoren, die stärker in den Blick genommen werden sollten? | |
| Mullis: Was hilft, die Entwicklungen zu analysieren, ist der Begriff der | |
| Peripherisierung. Peripherisierung kann räumlich und kollektiv sein, es | |
| kann sich aber auch um einen sehr persönlichen Effekt handeln. Wenn zum | |
| Beispiel weiße Männer das Gefühl haben, dass sie aus der gesellschaftlichen | |
| Zentralität herausgedrängt werden, ist auch das eine Erfahrung der | |
| Peripherisierung. | |
| taz: Wie wird denn im neurechten Diskurs auf Stadt geschaut? | |
| Mullis: Zum einen gibt es noch immer eine sehr starke Großstadtfeindschaft. | |
| Zu diesem Zweck wird immer wieder das Bild der migrantischen Stadt, der | |
| gefährlichen Stadt versucht herzustellen. Auf der anderen Seite sieht man, | |
| dass Städte gleichzeitig Orte sind, die sie gezielt für Demonstrationen | |
| nutzen und stadtpolitisch bearbeiten. Dazu werden Alltagsprobleme wie die | |
| Wohnungsfrage, marode Schulen oder Ausbildungsplatzmangel aufgegriffen. | |
| Immer in Verbindung mit dem Schüren von Rassismus. | |
| taz: Im Vortrag haben Sie gesagt: „Regression ist in vielen Städten zu | |
| einem Grundrauschen geworden.“ Was meinen Sie damit? | |
| Mullis: Dabei geht es um die Regression der politischen Mitte, welche wir | |
| in Frankfurt a. M. und in Leipzig erforscht haben. Wir haben festgestellt, | |
| dass die Erfahrung des demokratischen Verlusts, das Gefühl, nicht mehr | |
| gehört und repräsentiert zu werden, rassistische Ressentiments, aber auch | |
| Abstiegserfahrungen etwas sehr weit Geteiltes sind. Neoliberale | |
| Vergesellschaftungsformen haben Spuren hinterlassen. Das betrifft längst | |
| nicht nur Leute, die die extreme Rechte wählen, es setzt aber einen Prozess | |
| in Gang, bei dem sich die Leute anfangen einzuigeln. Sie verschließen sich | |
| der Gesellschaft und sind nicht mehr offen für Transformationsprozesse. Was | |
| beginnt zu dominieren, ist das Gefühl, etwas bewahren zu müssen. Das | |
| bezeichnen wir als regressiven Moment. Die radikale Rechte geht gezielt auf | |
| dieses Gefühl und gibt vermeintlich einfache Antworten. Dazu vermittelt die | |
| rechtsradikale Ideologie die passende Legitimation für das Gefühl des | |
| Einigelns und Abschließens. Mit der AfD gibt es eine vermeintlich | |
| demokratische Legitimation für dieses Gefühl. | |
| taz: Alexandra Schauer, Sie haben sich angeschaut, wie Menschen in der | |
| Gegenwart Räume beleben. Können Sie an Herrn Mullis Gedanken anknüpfen? | |
| Alexandra Schauer: Städte interessieren mich als Orte gemeinsamen Sprechens | |
| und Handelns, an denen über die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft – | |
| teilweise auch gewaltsam – gestritten wird. Solche Orte haben im letzten | |
| Drittel des 20. Jahrhunderts an Bedeutung verloren. Das sehen wir etwa an | |
| der fortschreitenden Privatisierung des städtischen Raums oder daran, wie | |
| öffentliche Plätze in halböffentliche Konsumsphären verwandelt werden. Auch | |
| ich beobachte das, was Daniel Peripherisierung genannt hat, ich würde aber | |
| noch einen Schritt weiter gehen: Der Glaube, dass wir Gesellschaft zum | |
| Besseren verändern können, geht verloren. Dort, wo die Idee einer besseren | |
| Zukunft für alle an Bedeutung einbüßt, verhärten sich Kämpfe um | |
| Selbstbehauptung. Bewahren, Abschotten, Verteidigen treten in den | |
| Vordergrund. | |
| taz: Was hat die Veränderung von Raum und Öffentlichkeit mit der | |
| sogenannten Moderne zu tun? | |
| Schauer: Städte, an denen sehr unterschiedliche Klassen und Schichten | |
| aufeinandertreffen, werden erst in der Moderne zum Zentrum des | |
| gesellschaftlichen Lebens. Gleichzeitig entsteht mit der Zunahme | |
| gesellschaftlicher Austauschbeziehungen die Idee eines globalen Raums. Neu | |
| ist zudem das Tempo, mit dem sich das städtische Leben vollzieht. Im Zuge | |
| dieser Beschleunigung etabliert sich die Vorstellung einer offenen Zukunft, | |
| die durch den Menschen gestaltet werden kann. Die philosophischen | |
| Strömungen der Moderne haben dafür den Begriff des „menschengemachten | |
| Fortschritts“ geprägt. Und die Öffentlichkeit soll der Ort dieser | |
| politischen Zukunftsgestaltung sein. | |
| taz: Was bedeutet der Begriff Gegenmoderne in diesem Zusammenhang? | |
| Schauer: Mit dem Begriff soll angedeutet werden, dass das kulturelle | |
| Projekt der Moderne zunehmend als Ganzes infrage gestellt wird. Und das | |
| gilt nicht nur für rechte Gegenmobilisierung, sondern zum Teil auch für | |
| linke, etwa wenn angesichts des Klimawandels der Begriff des Fortschritts | |
| verabschiedet wird. | |
| taz: Was können wir dagegen tun? | |
| Mullis: Wir müssen uns vom Glauben verabschieden, das sei ein zeitlich | |
| begrenztes Phänomen. Wir leben in Zeiten mit fundamentalsten | |
| Herausforderungen. Die können beängstigend sein und regressive Muster | |
| befördern. Genau deshalb wäre es so zentral, gemeinsam als Gesellschaft an | |
| konkreten Zukunftsvorstellungen zu arbeiten. Daran scheitern gerade die | |
| politischen Parteien in Deutschland. Es braucht eine Vision, wo die | |
| Gesellschaft 2030, 2040 und 2050 sein kann. Das Versprechen der CDU, dass | |
| wir weiterhin in Einfamilienhäusern leben, Verbrennermotor fahren und | |
| unseren Wohlstand so halten können, wird kollabieren. Das Kartenhaus dieser | |
| falschen Versprechen wird zusammenbrechen, wer davon profitieren wird, ist | |
| zum aktuellen Stand die radikale Rechte. Aber nicht, weil sie so gut | |
| argumentieren würde, sondern weil wir als Gesellschaft ihr das Terrain | |
| überlassen. Es muss dringend ein Entwurf her, wie das gute Leben für alle | |
| aussehen kann. | |
| Schauer: In Berlin gab es eine große Zustimmung für die Kampagne zur | |
| Vergesellschaftung von Wohnraum, wobei selbst unter [3][CDU-Wählern] die | |
| Zustimmung zwischen 30 und 40 Prozent lag. Umgesetzt wurde dies nicht, | |
| vielmehr wurde auch die Mietpreisbremse rückgängig gemacht. Zugleich wäre | |
| dem Rückbau von Infrastruktur in ländlichen und deindustrialisierten | |
| Regionen entgegenzuarbeiten. Durch die Beseitigung seiner materiellen | |
| Triebkräfte würde einerseits dem Gefühl des Abgehängtseins entgegengetreten | |
| und es würden Orte für gesellschaftliche Begegnungen und | |
| Aushandlungsprozesse geschaffen. | |
| 5 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Clemens Böckmann | |
| Carolin Haentjes | |
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