| # taz.de -- Russischunterricht in Aserbaidschan: Die Angst vor der fünften Kol… | |
| > Etwa 10 Prozent der Schüler*innen lernen in Aserbaidschans Schulen auf | |
| > Russisch. Viele im Land kritisieren das, auch aus politischen Gründen. | |
| Bild: Sorge vor dem „russischen Sektor“: Schulkinder in Aserbaidschans Haup… | |
| Lange galten die russisch-aserbaidschanischen Beziehungen als stabil und | |
| partnerschaftlich. Damit war es schlagartig vorbei, als Ende Juni [1][zwei | |
| Aserbaidschaner in der russischen Stadt Jekaterinburg getötet wurden]. Es | |
| folgten heftige Proteste in Aserbaidschan. In dem Zusammenhang wurde auch | |
| darüber diskutiert, russischsprachige Bildungseinrichtungen zu schließen. | |
| Wieder einmal. | |
| Endlich, freuten sich diejenigen, die meinten, dies hätte bereits nach dem | |
| endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 geschehen müssen. Aber sie | |
| hatten sich zu früh gefreut. Anfang Juli dementierte das aserbaidschanische | |
| Ministerium für Wissenschaft und Bildung alle Behauptungen, das Ende der | |
| russischsprachigen Schulen sei nah. | |
| Nach offiziellen Angaben werden in den staatlichen allgemeinbildenden | |
| Schulen Aserbaidschans derzeit bis zu 160.000 Kinder auf Russisch | |
| unterrichtet. Das sind etwa 10 Prozent. Dabei ist Aserbaidschanisch die | |
| Amtssprache. Russisch wird zwar fast überall gebraucht und fungiert als | |
| zweite Sprache im Land, hat aber keinen offiziellen Status. | |
| Die meisten Schulen, die Russischunterricht anbieten, sind tatsächlich | |
| zweisprachig und unterrichten auch auf Aserbaidschanisch. Der Großteil von | |
| ihnen befindet sich in der Hauptstadt Baku. Wobei nur ein kleiner Teil der | |
| Schüler*innen dort russischsprachig aufgewachsen ist oder aus | |
| gemischtsprachigen Familien stammt. Die meisten haben aserbaidschanische | |
| Eltern, die selbst nicht unbedingt Russisch sprechen. | |
| ## Lebenslang „russischer Sektor“ | |
| Die russischsprachigen Schulklassen in Aserbaidschan werden „der russische | |
| Sektor“ genannt. Dazu zählen auch die Schüler*innen und | |
| Absolvent*innen dieser Klassen, und sie bleiben es ihr Leben lang. | |
| In Baku lebt nicht nur fast die Hälfte der Menschen des Landes. Hier ist | |
| auch die überwiegende Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung | |
| konzentriert. Schon lange gibt es eine sprachliche Trennung: Menschen im | |
| russischen und im aserbaidschanischen „Sektor“ betrachten einander oft als | |
| Fremde. Bis heute ähneln persönliche Begegnungen zwischen den „Sektoren“ | |
| vorsichtigen Kontaktaufnahmen zweier verschiedener Zivilisationen. | |
| Die [2][aserbaidschanische Regierung] schweigt sich zwar aus zu der Frage, | |
| warum am russischsprachigen Unterricht festgehalten wird. Dafür kursieren | |
| in der Öffentlichkeit zwei Vermutungen. Erstens, heißt es, sind [3][der | |
| autoritär regierende Präsident des Landes, Ilham Aliyev], und seine gesamte | |
| Familie ursprünglich russischsprachig. Die älteste Tochter des Präsidenten, | |
| Leyla Aliyeva, wurde wiederholt dafür kritisiert, dass sie Gedichte auf | |
| Russisch statt auf Aserbaidschanisch verfasst. Eine persönliche Neigung von | |
| ganz oben also. | |
| Zweitens glauben viele, dass der russischsprachige Unterricht eine Art | |
| Zugeständnis an Russland und ein Loyalitätsbeweis der Regierung ist. | |
| Russland versteht und schätzt diese Geste. So dankte der russische | |
| Präsident Wladimir Putin im August 2024 während eines Besuchs in Baku den | |
| aserbaidschanischen Behörden ausdrücklich dafür, der Entwicklung der | |
| russischen Sprache „Aufmerksamkeit zu widmen“. | |
| ## Unter Generalverdacht | |
| Gegner*innen der russischsprachigen Bildung in Aserbaidschan | |
| kritisieren, dass der Unterricht in einer Fremdsprache staatlich | |
| alimentiert wird. Egal ob Spanisch, Chinesisch oder eben Russisch: Eltern, | |
| die darauf Wert legten, sollten ihre Kinder gefälligst auf Privatschulen | |
| schicken und selbst dafür aufkommen, heißt es. | |
| Außerdem unterstellen die Gegner*innen den Absolvent*innen | |
| russischsprachiger Schulen, prorussisch eingestellt zu sein. Sie würden | |
| sofort auf die Seite Russlands wechseln, sollte die russische Regierung | |
| beschließen, Aserbaidschan anzugreifen. Eine Art „fünfte Kolonne“ also. | |
| Nicht zuletzt der Vorwand Russlands für den Einmarsch in die Ukraine, die | |
| russischsprachige Bevölkerung schützen zu wollen, befeuerte solche | |
| Vorteile. | |
| Unterdessen ist die Nachfrage nach russischsprachigem Unterricht derart | |
| stark gewachsen, dass sie inzwischen sogar das Angebot übersteigt. In den | |
| vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der Schüler*innen im | |
| „russischen Sektor“ um das Anderthalbfache erhöht. | |
| Warum das so ist? Ein Stereotyp aus der Sowjetzeit besagt, dass die Bildung | |
| dort besser sei. Zudem begreifen es viele Eltern als Chance, dass ihr Kind | |
| dort kostenlos eine Fremdsprache lernen kann. Tatsächlich sind | |
| Russischkenntnisse oft notwendige Voraussetzung für eine Anstellung, etwa | |
| in Dienstleistungsberufen. Wer Russisch beherrscht, ist auf dem | |
| Arbeitsmarkt „wettbewerbsfähiger“. Noch besser ist Englisch. Aber das zu | |
| erlernen, kostet eben. | |
| ## Nachfrage übersteigt Angebot | |
| Zur Kehrseite gehört, dass Kinder aus rein aserbaidschanischsprachigen | |
| Familien an den betroffenen Schulen ernsthafte Lernschwierigkeiten haben. | |
| Das Bildungsministerium hat deshalb zwar beschlossen, die Sprachkenntnisse | |
| für den russischsprachigen Unterricht vor dem Schulstart zu prüfen. Aber | |
| auch das hat das Problem offenkundig nicht gelöst. | |
| „Meine Tochter hat 40 Kinder in ihrer Klasse“, klagt etwa Fidan Huseynova | |
| aus Baku. Sie hatte ihr Kind im „russischen Sektor“ angemeldet, ohne die | |
| Folgen zu bedenken, wie sie betont. „Warum reden wir von qualitativ | |
| hochwertiger Bildung, wenn die Lehrer nicht genügend Zeit haben, sich jedem | |
| einzelnen Schüler zu widmen?“ Nicht zuletzt der | |
| Aserbaidschanisch-Unterricht sei mangelhaft. Ihre Tochter beherrsche die | |
| Sprache ihre Familie daher nicht einmal fließend, sagt Huseynova. | |
| Kamil Yusufov, Geschichtslehrer in Baku, bestätigt, dass fehlende | |
| Aserbaidschanisch-Kenntnisse ein weitverbreitetes Problem sind. Dass das | |
| Bildungsministerium zuletzt anordnete, das Fach Geschichte im „russischen | |
| Sektor“ ausschließlich auf Aserbaidschanisch unterrichten zu lassen, hält | |
| er trotzdem für eine Katastrophe. Der Geschichtsunterricht werde zur Qual | |
| für Schüler*innen und Lehrer*innen. „Anstatt den Stoff zu erklären, | |
| verbringe ich die Hälfte der Stunde damit, den Inhalt des Lehrbuchs zu | |
| übersetzen“, sagt Yusufov. „Es ist erschreckend und absurd.“ | |
| Nicht alle Absolvent*innen des russischen Zweigs bestehen die | |
| verpflichtende Aserbaidschanisch-Prüfung am Ende ihrer Schulzeit. Wer | |
| durchfällt, darf sich ein Jahr lang nicht an aserbaidschanischen | |
| Universitäten bewerben – eine nachgerade verrückte Situation. | |
| ## Ambivalentes Verhältnis zu Russland | |
| Wie in anderen postsowjetischen Ländern ist auch das Verhältnis der | |
| Aserbaidschaner*innen zu Russland insgesamt ambivalent. Für viele ist | |
| der große Nachbar eine Kolonialmacht, der dazu noch das verfeindete | |
| Armenien im ersten [4][Bergkarabach-Krieg] unterstützt hat. Gleichzeitig | |
| wandern Hunderttausende Aserbaidschaner*innen nach Russland aus, um | |
| dort zu arbeiten und ihre Familien in der Heimat zu versorgen, und das zum | |
| Teil sehr erfolgreich. Unabhängig davon existiert die russische Sprache | |
| aber für viele, vor allem unpolitische Aserbaidschaner*innen losgelöst | |
| vom russischen Staat. | |
| Klar ist: Trotz der vielen Probleme lässt sich der „russische Sektor“ nicht | |
| einfach schließen. Expert*innen sagen, dann würde das Bildungssystem | |
| zusammenbrechen. Wenn überhaupt, dann bräuchte es einen schrittweisen | |
| Übergang, durch langsame Reduzierung der russischsprachigen und eine | |
| entsprechende Erhöhung aserbaidschanischsprachiger Klassen. Man sollte | |
| keine neuen Schüler*innen beim „russischen Sektor“ aufnehmen, aber den | |
| dort bereits lernenden Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ihre | |
| Ausbildung zu beenden. | |
| „Schließt endlich den russischen Sektor“, fordert dagegen Geschichtslehrer | |
| Kamil Yusufov. Für ihn stehen nicht die politischen Argumente im | |
| Vordergrund, sondern die Bildung. Das Bildungsministerium ignoriere die | |
| großen Probleme in russischsprachigen Klassen schlichtweg. Da sei es | |
| besser, den ganzen Sektor dichtzumachen. | |
| Dass die aktuelle Regierung seiner Forderung nachkommt, darf bezweifelt | |
| werden. Nicht einmal auf dem vorläufigen Höhepunkt der Spannungen zwischen | |
| Aserbaidschan und Russland im Sommer gab es Pläne für Klassenschließungen. | |
| Alle offiziellen Stellungnahmen zu diesem Thema beschränken sich darauf, | |
| entsprechende Gerüchte in sozialen Netzwerken und Medien zu dementieren. | |
| Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
| 26 Nov 2025 | |
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