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# taz.de -- Zwischen Euphorie und Dystopie: Es gibt keine künstliche Intellige…
> Die KI-Debatte pendelt zwischen Heilsversprechen und der Sorge vor
> Kontrollverlust. Sie offenbart viel über Ängste und Sehnsüchte unserer
> Gesellschaft.
Es ist gerade zwei Jahrzehnte her, da verblüffte das US-Prognosegenie Ray
Kurzweil mit einer für die damaligen Verhältnisse waghalsigen These: In
„The singularity is near“, verkündete er, bis spätestens 2045 werde der
große „Showdown“ stattfinden – ein gesellschaftlicher Wendepunkt, an dem
eine synthetisch erzeugte Intelligenz milliardenfach klüger sein würde als
ihre biologischen Schöpfer.
Für Kurzweil war das keine New-Age-Spinnerei, sondern schlicht Ergebnis
exponentiellen Wachstums von Rechenleistung, Nanotechnologie und Robotik.
„Wir werden uns mit nichtbiologischer Intelligenz vermischen“, sagte er
damals dem Spiegel.
Inzwischen dünkt einem, dass dieser mathematische Futurismus womöglich
früher eintrifft, als ihn selbst die tollkühnsten Utopisten erwarteten.
Kurzweils Vorhersagen zur Weiterentwicklung der KI haben sich überraschend
schnell bewahrheitet. In „The Singularity is Nearer“ (2024), dem Sequel der
Tech-Bibel von 2005, erklärt der „Director of Engineering“ von Google,
warum seine Vorhersagen längst keine Zukunftsmusik mehr sind. Seit den
großen Sprachmodellen ab GPT-4 befänden wir uns längst im „Endspurt“ in …
Singularität: Smartphones, LLMs, Genetik – das seien für ihn überfällige
Wegmarken der Verschmelzung von Mensch und Maschine.
Dass diese „Singularität“ im Valley längst als gängige Praxis gilt und
einen realen geistespolitischen Nährboden liefert, zeigt sich nicht nur an
Kurzweils Büchern: Bereits 2008 gründete er mit Peter Diamandis im Nasa
Ames Research Park, nahe der Alphabet-Zentrale „Googleplex“, die
„Singularity University“, einen gewaltigen Campus aus Glas, Stahl und
Beton, der von Weitem wie ein gestrandetes Spaceship aus einem
Christopher-Nolan-Film wirkt. Die von der Tech-Industrie gesponserte
Bildungsstätte verleiht keine akademischen Abschlüsse, bietet aber
Führungskräfteseminare mit einwöchigen Kursen für 15.900 Dollar an.
Auf dieser Kathedrale des kalifornischen Transhumanismus baut nun die
[1][internationale Geldaristokratie ihren Technikaltar] – und zelebriert
die Weltenrettung. Sie steht sinnbildlich für das Grundmuster des
überhitzten KI-Diskurses. In diesem Kulturkampf spiegeln sich weniger der
technologische Fortschritt als vielmehr unsere kollektiven Sehnsüchte und
Urängste. Wer die Debatte um KI verstehen will, muss in diese Scheinwelt
zwischen institutionalisierten Erlösungsfantasien und Technohysterie
eintauchen.
## Schizophren anmutende Narrative
Seit geraumer Zeit geistert die Idee einer „Menschheit 2.0“ – jenseits von
Sterblichkeit, Schmerz und geistiger Begrenztheit – umher, viele aus der
Gründerriege des [2][US-Tech-Imperialismus benutzen sie als Glaubensdogma].
Der frühere Google-Chef Eric Schmidt etwa lässt keine Gelegenheit
verstreichen, um zu betonen, dass KI „underhyped“ sei: Er hält das künfti…
Leben mit KI für genauso selbstverständlich wie das menschliche Dasein
selbst.
Parallel dazu preisen die Big-Tech-Bosse ihre KI-Produkte als Alleskönner,
nur um im gleichen Atemzug vor deren Risiken zu warnen. Sam Altman (OpenAI)
spricht von Seelenheil und beschwört im nächsten Satz den Untergang der
Schöpfung. Tim Cook (Apple) inszeniert „Apple Intelligence“ als digitale
Erlösung, warnt jedoch vor einem globalen Datenschutz-Desaster.
Mark Zuckerberg (Meta) lässt seine neuesten KI-Sprachmodelle auf die
Menschheit los, nur um sie anderntags als trojanische Pferde zu
brandmarken. Und Mustafa Suleyman (Microsoft) hat mit „The Coming Wave“
einen Branchenbestseller verfasst, der sich liest wie das Drehbuch einer
postapokalyptischen Netflix-Serie – eine Erde bevölkert von Menschen, die
sich wie willenlose Zombies dem übermächtigen KI-Kult unterwerfen.
Diese schizophren anmutenden Narrative sind längst zum einträglichen
Geschäftsmodell geworden: Die KI-Industrie verkauft Angst und Erlösung im
Doppelpack und verwandelt den Countdown zur eigenen Gottwerdung in ein
Spektakel globaler Selbstvermarktung. Dazwischen bleibt kaum Raum für
Nüchternheit, nämlich dort, wo unsere Fähigkeit zur Selbstbehauptung im
digitalen Zeitalter verläuft: entlang der Grauzone zwischen Euphorie und
Dystopie.
Spätestens hier lohnt der Blick auf die eigene Handlungsfähigkeit, auf ein
Konzept, das ich KI-Resilienz nenne: eine Haltung, die weder in
Technikgläubigkeit noch in Zukunftsangst gipfelt. Sie beschreibt die
Fähigkeit, inmitten digitaler Umbrüche handlungsfähig, kritisch und
menschlich zu bleiben.
Wir erleben eine Epoche, in der sich gesellschaftliche Macht, ökonomische
Interessen und existenzielle Sinnsuche aufs Merkwürdigste überlagern. KI
ist aber nicht allmächtige Technologie, sondern vielmehr Projektionsfläche
– für die einen mit der Hoffnung auf Unsterblichkeit verbunden, für die
anderen mit der Furcht vor dem Ende unserer Existenz. In dieser emotional
aufgeladenen Gemengelage verschwimmt, was real ist, mit dem, was wir zu
glauben hoffen oder zu fürchten gelernt haben. Damit wir ins Handeln
kommen, sollten wir uns schleunigst aus dieser Schockstarre befreien.
## Das Imperium der KI
Das sind keine unbilligen Wünsche. Vieles, was die Schattenseiten des
KI-Zeitalters betrifft, spielt sich in den USA ab, in jenem Land, das
technologische Heilslehren so routiniert abspult wie Fast Food. So kämpft
die New York Times, einst Flaggschiff des Liberalismus, heute an vorderster
Front gegen die Vereinnahmung durch KI. Ende 2023 verklagte sie OpenAI
wegen Urheberrechtsverletzungen – ein symbolträchtiger Versuch, ihren
Journalismus gegen die Ausbeutung durch maschinelles Lernen zu verteidigen.
Dieser noch andauernde Rechtsstreit ist Beweis dafür, wo die Grenze
zwischen öffentlicher Hysterie und politischer Einflussnahme verläuft: KI
wirkt wie ein Brandbeschleuniger in einer ohnehin überhitzten
Medienökologie, in der Macht und Meinung, Kontrolle und Anarchie zum
toxischen Amalgam werden. Generative KI, so hat es der [3][Medienforscher
Martin Andree] formuliert, sei „nur die letzte Stufe einer in sich
konsistenten Entwicklung, die durch unsere massive Fehlregulierung des
digitalen Raums überhaupt erst möglich wurde – und die nun die Grundpfeiler
von Journalismus und Demokratie infrage stellt“.
Was auf dem Spiel steht, ist also nicht weniger als die Resilienz unserer
Demokratie. Während in Washington die freiheitliche Presse im Gerichtssaal
verhandelt wird, entlarvt Karen Hao, Ex-Journalistin des Wall Street
Journal, das wahre Machtzentrum im Silicon Valley: die KI-Industrie selbst.
In ihrem Buch „Empire of AI“ rechnet sie schonungslos mit den
Big-Tech-Eliten ab: KI, so Hao, sei weder künstlich noch intelligent,
sondern ein „imperiales Projekt“, vorangetrieben von einer kleinen,
einflussreichen Clique. Sie beschreibt bis ins Detail, wie OpenAI und
andere KI-Player Ressourcen und Daten ausbeuten, Content-Moderation in den
Globalen Süden auslagern und mit Serverfarmen gewaltige ökologische
Verwerfungen verursachen.
## Resilienz journalistischer Arbeit
Doch fangen wir im Kleinen an: Immer mehr Menschen fragen ChatGPT, statt
verlässliche journalistische Quellen zu konsultieren. Es sieht so aus, als
würden wir in wenigen Jahren eine digitale Gesellschaft erleben, die sich
grundlegend von der heutigen unterscheidet. Aber was bedeutet das für
Redaktionen und Medien? Dass es umso wichtiger ist, journalistische
Qualitätsarbeit sichtbarer, resilienter zu machen – damit sie nicht
verschwindet. Denn aus der opaken Funktionsweise von KI erwachsen Folgen,
die unsere demokratischen Grundfesten erschüttern.
Dabei entstehen auch neue Abhängigkeiten, mentale wie professionelle.
Generative KI schafft kognitive Bequemlichkeitszonen, in denen das mühsame
Geschäft der Recherche und Reflexion zunehmend ausgelagert wird. Zwischen
Mensch und Maschine entsteht ein paradoxes Vertrauensverhältnis: Weil die
Systeme schnell, höflich und scheinbar neutral reagieren, [4][entwickeln
wir emotionale Bindungen, die im Moment technischer Fehler in Frustration
oder Hilflosigkeit umschlagen.]
Die Logik der Plattformen verschiebt sich von Eyeball-Attention zu
emotionaler Vereinnahmung. Das Wettrennen um Engagement ist längst ein
„Wettrennen um Intimität“ (Technologie-Ethiker Tristan Harris), bei dem der
eigentliche Gegner nicht mehr andere Medien sind, sondern unser Schlaf, der
Zweifel, die menschlichen Freunde. „KI-Freundinnen“ und sogar „KI-Liebe“
sind inzwischen so real wie „KI-Therapeuten“ – und gefährlich: Sie trös…
verstärken aber auch Einsamkeit und Suizidalität. KI ahmt parasoziale
Beziehungen so gut nach, dass Vertrauen zum knappen Gut digitaler
Selbstbespiegelung wird.
Hinzu kommt die Wahrheitstäuschung: Was aus der Black Box KI stammt,
erscheint glaubwürdig, weil es den Anschein von Objektivität wahrt.
Wahrheit wird so zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, die sich als Gewissheit
tarnt. Und je häufiger wir die Maschine befragen, desto stärker tritt die
Kulturtechnik des Zweifelns in den Hintergrund: das Prüfen, Abwägen,
Kontextualisieren. „Medienkompetenz“, dereinst als pädagogische Maßnahme
gegen Medienmanipulation ersonnen, wird ihre Grundlage entzogen.
## Die öffentliche Sprengkraft der KI-Systeme
Der Konflikt um das Für und Wider von KI ist also kein Exotenthema von
Techno-Nerds. Sondern Projektionsraum für Ängste, Sehnsüchte und
Hoffnungen. Die Sprengkraft der KI liegt nicht in den düsteren Visionen der
„Tech-Bros“, sondern darin, dass die KI schleichend in unsere Mediennutzung
einsickert.
Während Kurzweil, Altman und Co den übermenschlichen Cyborg propagieren,
sieht die Realität in deutschen Medienhäusern, auf die es jetzt ankäme,
vergleichsweise bieder aus: Wer bekommt Zugang zur KI? Wer darf
experimentieren, mit welchen Daten? Utopien zerbröseln schnell an
Sicherheitsprotokollen, Betriebsratsvereinbarungen, unübersichtlichen
Regelwerken. In manchen Redaktionen werden Prompts wie Geheimrezepte
gehütet, als ginge es um Betriebsgeheimnisse; anderswo sperrt man die Tools
gleich ganz weg, aus Angst vor Datenlecks oder Urheberrechtsverstößen.
So entstehen Informationsasymmetrien im Inneren der Organisationen. Während
das Management die goldene Zukunft beschwört, stolpern die unteren Etagen
durch halbgare Experimente – desorientiert, ängstlich vor dem Verlust des
eigenen Jobs.
Und draußen, im Netz, da verschiebt sich das Machtgefüge aufs Tragischste.
Mit dem Aufstieg der sogenannten „Google Zero“-Suche, bei der Antworten
direkt aus den KI-Systemen generiert werden, ohne dass jemand mehr auf die
Originalquelle klickt, droht der weitverbreitete Linkjournalismus zu
kollabieren. Wenn die Maschine den Umweg über den Journalismus erspart,
verlieren Medien nicht nur Reichweite – sondern auch ihre ökonomische
Grundlage.
Wer also von „Superintelligenz“ träumt, verwechselt technologische
Beschleunigung mit einer Projektion tiefsitzender Urängste und Sehnsüchte
in eine Maschine, die weder Bewusstsein hat noch Gefühle kennt. Man könnte
sagen: Es gibt eigentlich keine „künstliche Intelligenz“, solange sie auf
statistischer Wahrscheinlichkeit, menschlicher Kreativität, Daten und
Energie beruht. KI ist nur ein Werkzeug, das unsere gesellschaftlichen
Stärken und Schwächen schamlos ausnutzt.
## Journalismus first, KI second
Im Journalismus zeigt sich das mit tragischer Klarheit. Die Branche,
ohnehin angeschlagen durch ökonomische Schieflage, Vertrauensverluste und
den permanenten Strukturwandel, reagiert auf KI wie auf jede neue Welle:
mit Misstrauen, halben Experimenten, ohne klare Strategie. Doch was im
ersten Moment wie Vorsicht wirkt, könnte sich als demokratietheoretischer
Bumerang erweisen. Denn wenn Redaktionen nicht offensiv markieren, wer die
Verantwortung trägt, und welche Grenzen gezogen werden, wird das Feld den
Plattformen und Konzernen überlassen – und damit jenen Kräften, die in
unserer Mediennutzung ausschließlich Dollarzeichen sehen.
KI-Resilienz heißt daher keinesfalls, möglichst viele Tools bedienen zu
können, sondern die Kompetenz des Zweifelns zu stärken: Was zeigt mir die
Maschine, und was verschweigt sie? Wo endet Statistik, wo beginnt
Interpretation? Wer den kritischen Umgang mit KI einübt, verteidigt nicht
nur journalistische Standards, sondern stärkt auch digitale Souveränität.
Für eine „Responsible AI“ sollten wir nicht einen neuen Relotius-Skandal
unter KI-Vorzeichen abwarten. Wir müssen jetzt rote Linien formulieren nach
dem Motto: Journalismus first, KI second.
Gibt es ein Leben nach der KI? Ja aber nur, wenn wir uns von der Illusion
lösen, KI sei eine Naturgewalt. Denn die durch sie erzeugten
Assoziationstsunamis spiegeln politische Interessen und Kapitalströme. Das
Leben nach der KI beginnt dort, wo wir sie als das begreifen, was sie ist
und was nicht: weder Heilsversprechen noch Weltuntergang, sondern ein
Kampfplatz um Deutungshoheit, Öffentlichkeit und Demokratie. Dorthin gehört
die KI-Debatte – dorthin sollten wir sie jetzt führen.
22 Oct 2025
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## AUTOREN
Stephan Weichert
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Alexander Dobrindt
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