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# taz.de -- Münchener Theater über jüdisches Leben: Der Schuh lässt sich ni…
> Dem jüdischen Leben der Nachkriegszeit widmet sich ein Programm der
> Münchener Kammerspiele – an authentischen Orten und mit manch schwieriger
> Verkettung.
Bild: Christine Umpfenbachs materialreiches Dokumentarstück „Zeit ohne Gefü…
„Wohin jetzt?“, lautet der Titel eines Programmschwerpunkts über jüdisches
Leben und Überleben nach 1945 an den Münchner Kammerspielen, den das Haus
am Donnerstag mit [1][Lena Goreliks] Dokumentarstück „Zeit ohne Gefühle“
eröffnete. „Eine Erzählung aus Feldafing über uns alle“, wie es im
Begleittext heißt. Feldafing, gelegen am Starnberger See, ist ein
malerischer Ort, der mit seinem Gebirgspanorama Bewohner des Umlandes nicht
erst heute zur Naherholung einlädt.
Es ist auch ein Ort, der bezeichnend für die deutsche Vergangenheit ist.
Zwischen 1934 und 1945 fand sich in der dort ansässigen Ausbildungsstätte
„Reichsschule“ die künftige NS-Elite ein. Nach dem Krieg verwandelten die
amerikanischen Besatzer die Einrichtung in ein Auffanglager für jüdische
„Displaced Persons“.
„Zeit ohne Gefühle“ widmet sich der Biografie des Holocaustüberlebenden u…
DPs Mordechai Teichner, der Zentralfigur des Abends, flankiert von dessen
noch lebenden Sohn Meir, der für die Premiere aus Israel angereist kam. Für
die Lebensgeschichte Teichners findet Regisseurin [2][Christine Umpfenbach]
zur Form des Dokumentartheaters, einer materialreichen Montage aus
Interviews, Zitaten, Dokumenten, Spielszenen.
Dabei entwickelt sich fortlaufend der Eindruck einer textlastigen
Metaebene, auf der Schauspieler:innen ihre Rollen – in denen sie
abwechselnd als Täter und Opfer agieren – reflektieren sowie den aktuellen
Diskurs zur Erinnerungskultur, zu Antisemitismus und zum Gazakrieg
wiedergeben.
Die Grundthese des Abends: eine saubere Trennung von damals/heute sei nicht
möglich, völkische Kontinuitäten und Ideologie bestünden bis heute.
Anschaulich wird das in einer Szene gemacht, in der ein Schauspieler und
„Reichsschüler“ mit dem Stiefel seiner Naziuniform kämpft – der Schuh l…
sich partout nicht ausziehen. Eingestreute AfD-Zitate von Höcke oder
Gauland – „Vogelschiss“ – wollen den Fortbestand der NS-Ideologie zeige…
Der Rassenhass von einst – verkörpert im Stück von blonden Nazis in
Lederhosen, die Juden drangsalieren – lebt hier und heute im [3][Döp Dö Dö
Dö Döp eines Sylter Clubs] und im Ausländerhass junger Deutscher fort.
## Archivraum und Gegenwartslabor
Das minimalistische Bühnenbild entfaltet sich als offenes Erinnerungsfeld:
eine karge Spielfläche mit Projektionen und verschiebbaren Elementen –
Archivraum und Gegenwartslabor zugleich, passend zum Metatheater. Zur
reinen Projektionsfläche wird dabei aber leider auch der eigentliche
Gegenstand des Stückes.
Aus der erzählerischen Auseinandersetzung mit dem DP-Schicksal der
Hauptfigur und seinem Überleben der Lager Auschwitz-Birkenau, Dachau und
des Außenlagers Mühldorf wird bei Gorelik und Umpfenbach im Nu eine
haltlose Assoziationskette an Schauplätzen und erinnerungspolitischen
Begriffen, die auf direktem Weg von deutschen Vernichtungsstätten ins
heutige Israel und schließlich nach Gaza zu führen scheinen. Von der Schoah
zum vermeintlichen Genozid an den Palästinensern, von 1939 bis 1945 und bis
1948 und zur Nakba.
Gorelik und Umpfenbach wollen den Diskurs über Antisemitismus, Israel und
Gaza performativ einerseits vorführen, „Ja, aber was Israel gerade
anrichtet, das ist …“, verheddern sich andererseits aber selbst in den
Fallstricken der Diskussion, unter anderem dann, wenn sie Meir, den Sohn
des Protagonisten Mordechai für ihre sämtliche Unterscheidungen einebnende
Argumentation mit einem Zitat heranziehen: „Wir sehen, dass auch Israel
sich in letzter Zeit zunehmend nach rechts bewegt. Viele von uns fürchten,
dass wir nicht länger immun sind gegen Faschismus und Rassismus.“
Die textlichen Abstandsgesten und ironischen Brechungen scheinen spätestens
von hier an nur mehr vorgeblich, die Positionierung der Autorinnen
deutlich. Täter- und Opferkategorien verschwimmen im sprachlichen Ungefähr.
Was die Rollenbesetzung angeht, spielen die Akteure ohnehin Täter- und
Opferrollen abwechselnd. So wird das Stück zu einem höchst unkonzentrierten
wie neurotisch anmutenden Debattenabend, der eklatante antisemitische
Erscheinungsformen unserer Zeit jenseits rechtsradikaler Kreise ausblendet.
Dabei wäre eine intellektuell redliche, kritische Auseinandersetzung mit
israelbezogenem Antisemitismus, der seine Verbreitung gleichermaßen in der
deutschen Mehrheitsgesellschaft, migrantischen wie linken Kreisen findet,
besonders am Theater zu begrüßen. Das ist eine vergebene Chance, zumal man
an diesem Abend als Zuschauer viel lieber mehr vom Schicksal Mordechai
Teichners und der Realität anderer jüdischer Überlebender wie ihm erfahren
hätte.
## Spaziergang zum „Palestine Express“
Einen konzentrierten Blick auf diesen Teil der Nachkriegswirklichkeit bot
glücklicherweise am Folgetag der Stadtspaziergang „Jüdisches Leben im
Nachkriegs-Bogenhausen“ der Historikerin Lilly Maier, die es versteht,
sinnvolle Verbindungen vom Gestern ins Heute zu knüpfen. So erfuhren
Besucher, warum Bogenhausen noch heute das vermutlich jüdischste Viertel
Münchens ist, und was es mit dem „Palestine Express“, der heutigen
Trambahnlinie 17 auf sich hat.
Nachkriegsmünchnern war das öffentliche Verkehrsmittel ein Begriff, weil es
mit der Station Möhlstraße ins Zentrum jüdischen Lebens in der Stadt
führte. In dem Villenviertel bündelten sich unter Aufsicht
US-amerikanischer MPs jüdische Hilfs- und Auswanderungsorganisationen wie
u. a. Joint, Hias und Jewish Agency.
Hatten zuvor NS-Parteigrößen wie Heinrich Himmler in der noblen Straße
residiert, wurde die Möhlstraße sowie die sie umgebenden Seitenstraßen im
Nachkriegsmünchen zum quirligen Bezugspunkt vieler DPs, inklusive einer
Synagoge, jüdischer Geschäfte, koscherer Restaurants und einem florierenden
Schwarzmarkt, über den die US-Militärkräfte hinwegsahen und auf dem auch
nichtjüdische Münchner einzukaufen pflegten.
Für Aufruhr sorgte 1949 die „Aktion Möhlstraße“, eine Großrazzia der nun
zuständigen Münchner Polizei, bei der es zu massiven Gewalteinsatz kam. Von
dem Einsatz von 500 Polizisten gegen in der Möhlstraße lebende und
verkehrende Juden nahm die internationale Presse besorgt Notiz. Für
jüdische Proteste sorgte hingegen die Berichterstattung der Süddeutschen,
vor allem aufgrund des Abdrucks eines antisemitischen Leserbriefs. Bilder
des Demobanners auf dem zu lesen stand: „Down with the Süddeutsche Zeitung,
the Stürmer of 1949“ gingen damals um die Welt.
Der „Wohin jetzt?“-Schwerpunkt der Kammerspiele verspricht bis Jahresende
vertiefende Einblicke in das jüdische Nachkriegsleben und -überleben mit
Lesungen, Diskussionen und Kurzfilmabenden. In Zeiten von Boykottaufrufen,
in denen Kulturinstitutionen nicht mehr nur Veranstaltungen mit
Israelbezügen scheuen, sondern längst auch jüdische – man denke an das
soeben im schwedischen Malmö abgesagte jüdische Filmfest –, beileibe keine
Selbstverständlichkeit mehr.
3 Nov 2025
## LINKS
[1] /Lesung-Muenchner-Kammerspiele/!5984753
[2] /Offene-Wunde-am-Muenchner-Volkstheater/!6083108
[3] /Rechtsextreme-Gesaenge-an-der-Nordsee/!6082252
## AUTOREN
Chris Schinke
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