| # taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Den Moment der Rückkehr ins Leben festhalten“ | |
| > Die Menschen im Gazastreifen freuen sich über die Waffenruhe. Doch was | |
| > werden sie bei Rückkehr in ihren Heimatregionen vorfinden? | |
| Bild: Der Fernseher im Zeltcamp der Autorin, darauf läuft der Golf-Sender Al-A… | |
| Als ich am Freitagmorgen aufwache, greife ich als Erstes nach meinem Handy. | |
| Ich scrolle schnell durch die vielen Schlagzeilen. Bis ich endlich die | |
| Nachricht finde, auf die ich gewartet hatte: [1][Der Waffenstillstand in | |
| Gaza hat begonnen.] | |
| An diesem Freitagmorgen ist alles anders. Es ist ein Morgen voller Hoffnung | |
| und neuem Leben. Es ist, als ob die Sonne selbst nach langer Abwesenheit | |
| mit einem Lächeln über uns aufgehen wollte. | |
| Ich sperre mein Handy und lege es beiseite. Ich atme tief ein. Zum ersten | |
| Mal seit langer Zeit fühle ich wieder Erleichterung. Als hätte dieser | |
| Morgen all den Schmerz weggenommen, der mein Herz während der vergangenen | |
| beiden Jahre bedrückt hatte. | |
| Allmählich wachen alle in unserem Camp auf. Die Atmosphäre ist von Frieden | |
| und Ruhe erfüllt. Die Menschen beginnen, sich gegenseitig zu gratulieren | |
| und lächel sich an, wie ich es seit Monaten nicht mehr gesehen habe. Wir | |
| machen einige Gruppenfotos, als wollten wir den Moment der Rückkehr ins | |
| Leben festhalten. Als bräuchten wir eine Bestätigung, [2][dass wir trotz | |
| allem, was wir durchgemacht hatten, noch da sind.] | |
| ## Bei unseren Zelt-Nachbarn läuft der Fernseher | |
| Seit dem Morgen laufen auf dem Fernseher im Zelt unserer Nachbarn | |
| ununterbrochen Nachrichten über den Waffenstillstand. Die Neugierde | |
| überkommt mich. Seit zwei Jahren – [3][mit Ausnahme der Pressekonferenz, | |
| bei der US-Präsident Donald Trump den Waffenruhe-Deal verkündete] – habe | |
| ich keinen funktionierenden Fernseher mehr gesehen. | |
| Doch Zeit zum Fernsehen bleibt mir nicht: Einige meiner Onkel und ihre | |
| Kinder – wir hatten stets versucht, als Familie zusammen zu bleiben – laden | |
| sich Taschen mit Wasser und Lebensmitteln auf den Rücken. Sie machen sich | |
| auf den Weg [4][zum Netzarim-Checkpoint], in der Hoffnung, in den Norden | |
| Gazas zurückkehren zu können – zu ihren Häusern und Straßen, die sie vor | |
| Monaten verlassen hatten. | |
| Auf den Straßen herrscht reges Treiben. Lastwägen voller lächelnder und | |
| winkender und rufender Menschen fahren an uns Menschen vorbei. Nach Norden, | |
| nach Norden. | |
| Das Chaos auf den Straßen ist dieses Mal nicht voll von Angst, sondern von | |
| Freude, Glück und einem ersten Gefühl der Sicherheit nach langer | |
| Ungewissheit. Zum ersten Mal seit Monaten habe ich das Gefühl, dass der | |
| Krieg tatsächlich vorbei ist – wenn auch vielleicht nur vorübergehend. Und | |
| dass das Leben langsam wieder seinen gewohnten Gang nimmt. | |
| ## Zurückkehren und vor dem Nichts stehen | |
| Aber hinter der Freude verbirgt sich auch Schmerz: Viele der Rückkehrer | |
| sind schockiert von dem, was sie vorfinden. Die Häuser, die sie seit ihrer | |
| Kindheit kannten, sind nicht mehr dieselben. Einige sind vollständig | |
| verschwunden. | |
| Ich kenne diesen Schock nur zu gut, denn ich habe ihn im Februar erlebt, | |
| als ich in meine Stadt Beit Lahia zurückkehrte und feststellte, dass sie | |
| fast vollständig ausgelöscht war. Ich wusste nicht mehr, wie ich zu meinem | |
| Haus kommen sollte. Die Straßen, die ich seit meiner Kindheit auswendig | |
| kannte, waren verschwunden. Und alles, was ich früher gesehen und berührt | |
| hatte, war nur noch eine Erinnerung. | |
| Als ich endlich an den Ort unseres Zuhauses zurückkehrte, stellte ich fest, | |
| dass das Haus nicht mehr existierte. Mein Zimmer und mein Bett waren | |
| verschwunden, meine Nachbarn waren weg. Und sogar der schöne, alte | |
| Mandelbaum, den ich mein ganzes Leben lang geliebt hatte, war nicht mehr | |
| da. Ich fühlte damals eine tiefe Leere, eine Mischung aus Traurigkeit und | |
| Wut, aber auch die Entschlossenheit, weiterzumachen. | |
| An diesem Wochenende sind einer meiner Onkel und dessen Sohn nach Beit | |
| Lahia zurückgekehrt – trotz wiederholter Warnungen vor der Gefahr. Die Lage | |
| dort – ganz im Norden, nahe der Rückzugslinie des israelischen Militärs – | |
| ist immer noch instabil. | |
| ## Wie wird es sein, zurückzukehren – ohne meinen Vater? | |
| Ich bin noch im Süden des Gazastreifens. Und denke an das Grab meines | |
| Vaters. Ich möchte wissen, ob es noch da ist. Ich rufe meinen Cousin an, | |
| der auf dem Weg nach Beit Lahia ist, und frage ihn, ob er es aufsuchen | |
| könne. Er sagt: Noch könne man sich dem Friedhof nicht nähern, die | |
| Sicherheitslage sei zu instabil. | |
| Ich sitze da und denke über meine eigene Rückkehr nach Beit Lahia nach: Wie | |
| würde es sein – ohne meinen Vater? Die Stadt, die er so sehr liebte. Als | |
| mein Vater im Februar mit uns dorthin zurückkehrte, war er glücklich, er | |
| tanzte und sang trotz der Zerstörung. Er schwor, sie nie wieder zu | |
| verlassen. Er hielt sein Versprechen. Doch dann [5][starb er bei einem | |
| israelischen Angriff.] Sein Blut nährt nun das Land, und die Erde hält | |
| seinen Körper in ewigem Schlaf. | |
| Der Krieg mag noch nicht ganz vorbei sein. Doch momentan haben die | |
| Bombardierungen aufgehört. Das allein reicht schon aus, um ein wenig | |
| aufatmen zu können. Und wieder hoffen zu können, dass morgen alles besser | |
| sein wird. Dass Frieden möglich ist. Dass er kommen wird. | |
| Seham Tantesh, 24, aus Beit Lahia, ist die Cousine unserer Reporterin Malak | |
| Tantesh und mittlerweile selbst Journalistin. Sie wurde insgesamt | |
| mindestens neunmal vertrieben; im Frühling 2025 wurde ihr Vater bei einem | |
| Luftangriff getötet. | |
| Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in | |
| den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen | |
| wir Stimmen von vor Ort ein. | |
| Aus dem Englischen: Lisa Schneider | |
| 12 Oct 2025 | |
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