| # taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Papa, ist der Krieg vorbei?“ | |
| > Unser Autor kann endlich wieder durchatmen, da nun die Waffenruhe im | |
| > Gazastreifen begonnen hat. Seine Tochter freut sich auf die kleinen | |
| > Dinge: Süßigkeiten, Eier, Fleisch. | |
| Bild: Der Krieg ist erst mal vorbei – doch die schwierige humanitäre Lage ni… | |
| Die Nacht macht uns keine Angst mehr. Sie erstickt uns nicht mehr und | |
| versetzt uns nicht mehr in Schrecken. Die Tage sind warm und wieder voller | |
| Leben geworden. Ich komme gerade zurück nach Hause und habe Süßigkeiten für | |
| meine kleine Tochter mitgebracht. Es ist genau der Typ, den sie mag. „Wenn | |
| du zurückkommst, Papa, [1][bring mir etwas Süßes und Leckeres mit]“, hatte | |
| sie gesagt. Monatelang konnte ich das nicht tun. Jetzt kann ich es – sogar | |
| mehrmals am Tag. | |
| Jetzt kann ich schlafen und über die Zukunft nachdenken. Ich erinnere mich, | |
| wie ich früher Anrufe von meinen Freunden im Ausland ignoriert habe – ich | |
| wusste einfach nicht, was ich ihnen sagen sollte. Wir stellten uns vor, wir | |
| wären ein schwarzer Punkt auf einem weißen Plakat, und versuchten, uns so | |
| klein wie möglich zu machen, um dem Radiergummi zu entkommen – um nicht für | |
| immer zu verschwinden. Es war ein Kampf ums Überleben. | |
| Aber jetzt rufe ich meine Freunde jeden Tag an. Wir sprechen über Träume, | |
| Reisen und eine Zukunft, die noch vor wenigen Tagen nicht zu existieren | |
| schien. Ich erinnere mich, dass ich einem Freund erzählt habe, dass ich, | |
| als wir vertrieben wurden, die Vorhänge aus unserem Haus mitgenommen habe. | |
| Als der Waffenstillstand verkündet wurde und ich nach Hause zurückkehrte, | |
| war es dunkel in unserem Haus. Ich beschloss, die Vorhänge erstmal nicht | |
| wieder aufzuhängen. [2][Mein Freund] brach in Gelächter aus. | |
| ## Die Nacht, in der der Deal kam | |
| Ich erinnere mich an die Nacht, in der [3][die Zusage für den | |
| Waffenruhe-Deal] kam: Es war ein Uhr nach Mitternacht.Ich saß auf der | |
| Treppe des Gebäudes, in dem wir untergekommen waren, als mein Bruder fragt: | |
| „Glaubst du, dass sie es diesmal wirklich tun werden?“ Ich sah ihn an und | |
| antwortete: „Ich hoffe es. In unseren Herzen ist kein Platz mehr für eine | |
| weitere Enttäuschung.“ | |
| Stundenlang verfolgten wir damals die Nachrichten online. Die Stufen | |
| fühlten sich kalt unter uns an. Plötzlich brach die Internetverbindung ab. | |
| Doch dann durchbrachen plötzlich aus dem Nichts Rufe und Jubel die Kälte | |
| der Nacht. | |
| Wir hatten gedacht, wir wären die Einzigen, die in dieser Nacht wach waren. | |
| Doch ganz Gaza wachte mit uns. Wir konnten trotz der Neuigkeiten nicht | |
| einschlafen – unsere Gedanken wollten sich nicht beruhigen. Also gingen wir | |
| hinunter in die Wohnung der Familie im Erdgeschoss, versammelten uns, | |
| umarmten uns, tauschten Worte und Gefühle aus. Ich fragte mich: Würden wir | |
| nun nach Hause zurückkehren können? | |
| ## „Papa, ist der Krieg vorbei?“ | |
| Eine lange Stille erfüllte den Raum, bis der Morgen kam.Meine Frau und | |
| meine Tochter Elin waren wach und kamen schließlich die Treppe hinunter. | |
| Elin rannte auf mich zu, warf ihre Arme um meinen Hals und fragte: „Papa, | |
| ist der Krieg vorbei?“Ich lächelte und sagte: „Ja, mein Schatz, er ist | |
| vorbei.“ | |
| Sie schrie vor Freude: „Dann kannst du mir jetzt alles kaufen, was ich | |
| will? Ich will Pommes, Eier, [4][Fleisch und so viele andere Sachen]!“ Wir | |
| lachten. | |
| Doch nur wenige Minuten später ertönten Schüsse und Jubelrufe, um das Ende | |
| des Krieges zu feiern. Die Schüsse waren so laut, dass Elin mir wieder in | |
| die Arme sprang und ängstlich fragte: „Papa, ist der Krieg wieder da?“ Ich | |
| beruhigte sie schnell: „Nein, mein Schatz, die Leute feiern nur, dass er | |
| vorbei ist.“ | |
| Doch in diesem Moment überkam mich ein erschreckender Gedanke: In meinem | |
| Land klingt Freude genau wie Krieg. | |
| Aus dem Englischen Lisa Schneider | |
| Muhammad Ghoneim ist Schriftsteller und Komponist aus Gaza. Für seine | |
| Kurzgeschichtensammlung „Beyond the Mirrors“ (Jenseits der Spiegel) wurde | |
| er mit dem First Book Award der A. M. Qattan Foundation ausgezeichnet. Er | |
| erhielt außerdem den Najati Sidqi Award. | |
| Internationale Journalist*innen können seit rund einem Jahr nicht in | |
| den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im [5][„Gaza-Tagebuch“] | |
| holen wir Stimmen von vor Ort ein. | |
| 13 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Muhammad Ghoneim | |
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