# taz.de -- Krieg in Gaza: Rückkehr, aber wohin? | |
> In Gaza lassen Hunger und israelische Angriffe die Menschen verzweifeln. | |
> Zeitgleich kehren wenige Kilometer entfernt Israelis in ihre Häuser | |
> zurück. | |
Bild: Blick nach Gaza auf den Hügeln in Sderot | |
Vom „Journalistenhügel“ in Sderot in Sichtweite des Gazastreifens ist der | |
Krieg nicht mehr zu sehen. Weniger als einen Kilometer entfernt liegt die | |
Grenze zwischen niedrigen Hügeln, grün von den Regenfällen des Winters. Ein | |
junges Pärchen hat sich auf Plastikstühlen niedergelassen, um in der | |
Nachmittagssonne die Aussicht zu genießen. Knapp fünf Monate nach dem | |
Hamas-Überfall hat die Armee Sderot und 17 weitere Orte in unmittelbarer | |
Nähe zum Gazastreifen als sicher für eine Rückkehr erklärt. Doch längst | |
nicht alle sind bereit, an den Rand des Kriegsgebiets zurückzuziehen – | |
anderen reicht eine Rückkehr in die Nähe des Küstenstreifens nicht aus. | |
Wenige hundert Meter vom Hügel entfernt über der Einfahrt nach Sderot | |
prangt ein Banner mit der Aufschrift „Willkommen den Rückkehrern“. Direkt | |
daneben hat jemand ein Plakat aufgestellt, das eine durchgestrichene Rakete | |
zeigt. „Keine Rückkehr ohne Sicherheit“ steht darauf. | |
Näher als in Sderot kann man dem Schrecken des Krieges in Gaza in Israel | |
kaum kommen. Auf der anderen Seite der Grenze wurden am Donnerstag laut der | |
palästinensischen Gesundheitsbehörde mehr als einhundert Menschen getötet, | |
die sich um einen Konvoi mit Hilfsgütern versammelt hatten. Die von der | |
Hamas geleitete Behörde beschuldigte die israelische Armee, geschossen zu | |
haben. Die Armee gab an, der Großteil der Menschen sei während einer Panik | |
niedergetrampelt oder überfahren worden. | |
Hier in Sderot haben auf der Herzlstraße im Stadtzentrum die meisten | |
Bäckereien, Supermärkte und Restaurants wieder geöffnet. Zahlreiche Häuser | |
wirken nach wie vor verlassen. Asher Abitbol, Häkelkippa und graue Locken, | |
lädt Einkäufe ins Auto. | |
## Die Schulen öffnen wieder | |
„Natürlich müssen wir den Gazastreifen wieder besiedeln“, sagt er. Nur die | |
Anwesenheit von Siedlern und der israelischen Armee in Gaza würde Kontrolle | |
und damit Sicherheit zurückbringen. Abitbol lebt in der völkerrechtlich | |
illegalen Siedlung Psagot im besetzten Westjordanland. „Wir begleiten die | |
Schwester meiner Frau bei der Rückkehr, sie hätte sich alleine nicht | |
getraut“, sagt er. „Meine 13-jährige Tochter ist nicht mitgekommen, weil | |
sie Angst hatte.“ Aber die Region müsse zurück zur Normalität finden. | |
Die Stadt Sderot will am 3. März alle Schulen wieder öffnen. Zeitgleich | |
erhöht die israelische Regierung den Druck. [1][Die Finanzhilfen für | |
Rückkehrer sollen laut Medienberichten sinken], je später sich die Bewohner | |
entscheiden, in ihre Häuser zurückzuziehen. Noch immer leben mehr als | |
130.000 Israelis aus der Umgebung des Gazastreifens und von der | |
libanesischen Grenze an anderen Orten im Land. | |
Die Menschen auf der Straße in Sderot hadern noch mit der neuen Realität. | |
Am 7. Oktober drangen bewaffnete Hamas-Terroristen neben mehr als 20 | |
anderen Gemeinden auch nach Sderot ein und töteten rund 50 Zivilisten und | |
20 Sicherheitskräfte. In der Bäckerei hält eine Mutter mit hellblauem | |
Kopftuch der religiösen Jüdinnen nervös ihre Tochter an der Hand: „Wir sind | |
heute nur zu Besuch und haben noch nicht entschieden, ob wir zurückkommen.“ | |
Die junge Verkäuferin hingegen ist bereits seit einem Monat zurück und | |
freut sich, dass seit dem Wochenende das Leben zurückkehrt. | |
Die Stadt wurde 1951 gegründet. Die Bewohner des arabischen Dorfes | |
Nadschd, die zuvor hier gelebt hatten, waren 1948 im Krieg nach der | |
Staatsgründung Israels in den benachbarten Gazastreifen vertrieben worden. | |
Sderot war zunächst ein Flüchtlingslager für vertriebene Juden aus | |
kurdischen Gebieten und dem Iran sowie später aus Marokko. Auch damals ging | |
es um Sicherheit: Die Stadt gehörte wie die meisten Dörfer im Umland des | |
Gazastreifens zu einem Gürtel strategischer Ortschaften, um die Grenzen des | |
jungen israelischen Staates zu sichern. | |
Daran wollen führende israelische Politiker wie Finanzminister Bezalel | |
Smotrich oder der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, | |
anknüpfen und es nicht bei einer Rückkehr ins Umland von Gaza belassen – | |
entgegen allen Warnungen auch von Israels engstem Verbündeten, den USA. | |
Ende Januar nahm rund ein Drittel des Kabinetts, einschließlich Mitgliedern | |
von Netanjahus Partei Likud, an einer Konferenz zur Wiederbesiedlung des | |
Gazastreifens teil. Die Organisatoren hatten sie „Siedlungen bringen | |
Sicherheit“ genannt. | |
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu betonte zwar mehrfach, sein Land | |
habe „nicht die Absicht, den Gazastreifen dauerhaft zu besetzen oder die | |
Zivilbevölkerung zu vertreiben“. Dennoch gelang es in dieser Woche | |
Dutzenden Aktivisten der Siedlerbewegung, die Grenze zum Gazastreifen zu | |
durchbrechen und einen halben Kilometer in den Küstenstreifen vorzudringen, | |
bevor sie von der Armee gestoppt und zurückgebracht werden. | |
50 Kilometer südlich an der Grenze zu Ägypten liegt die | |
Landwirtschaftssiedlung Bnei Netzarim, gebaut von 2005 aus dem Gazastreifen | |
geräumten Siedlern. Die Bewohner haben den staubigen Boden der Negevwüste | |
mit Bewässerungsanlagen und thailändischen Gastarbeitern in Felder | |
verwandelt und leben von der Landwirtschaft. | |
16 Kilometer entfernt in Rafah drängen sich zwei Drittel der rund 2,3 | |
Millionen Einwohner des Gazastreifens zusammen. [2][Im Februar teilten | |
das Welternährungsprogramm und Unicef mit], dass in Unterkünften und | |
Gesundheitszentren im Norden des Küstenstreifens eines von sechs Kindern | |
unter zwei Jahren akut mangelernährt sei. | |
Seit Jahresbeginn kamen teils wochenlang keine Hilfslieferungen in den | |
Norden, wo noch immer Hunderttausende Bewohner ausharren. Nach dem | |
tödlichen Vorfall am Donnerstag wird Israel scharf kritisiert. Der | |
EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von einem „Blutbad“ und sagte, es | |
sei ein schwerer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, Menschen | |
Nahrungsmittel vorzuenthalten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron | |
kritisierte, dass „Zivilisten von israelischen Soldaten ins Visier genommen | |
wurden“. | |
Die UN-Hilfsorganisationen hatten seit Wochen gewarnt, dass die | |
Verzweiflung der Menschen zu gewaltsamen Angriffen auf ihre Hilfskonvois | |
führe und dringend weitere Grenzübergänge in den Norden des Küstenstreifens | |
geöffnet werden müssten. Die Menge der Hilfslieferungen habe sich im | |
Februar im Vergleich zum Vormonat halbiert. Im Schnitt seien in diesem | |
Monat pro Tag nur 98 Laster mit Hilfslieferungen in den Küstenstreifen | |
gelangt. | |
Im Dorfsupermarkt von Bnei Netzarim sind die Regale gefüllt. Auf dem | |
Spielplatz des Dorfes sitzen drei Frauen mit ihren Kindern. Tehila ist 36 | |
Jahre alt und hat vor zwei Wochen ihr siebtes Kind bekommen, ihr Mann ist | |
im Reservedienst an der Grenze zum Libanon. „Wir sind zwei Wochen nach dem | |
7. Oktober zurückgekommen“, sagt sie. Sie habe für umgerechnet 250 Euro | |
Spielzeug gekauft, sich mit den Kindern zu Hause versteckt, gespielt und | |
Musik gehört, als noch fast niemand aus dem Dorf zurückgekehrt war. Heute | |
seien fast alle der 140 Familien wieder zurück. Wegen der Armeestellungen | |
um das Dorf und des Wachteams der Ortschaft fühle sie sich sicher. | |
Aufgewachsen sind die Frauen in Kerem Atzmona, einem bis zu seiner Räumung | |
selbst nach israelischem Recht illegalen Außenposten der | |
national-religiösen Siedlerbewegung in Gaza. Er lag neben der | |
palästinensischen Stadt Chan Junis, in der in diesen Tagen israelische | |
Soldaten operieren. „Das israelische Volk muss jetzt verstehen, dass das | |
Land dort uns gehört“, sagt Hodaya. „Es kann keinen Sieg geben, ohne dass | |
wir nach Gaza zurückkehren. Und wir sind bereit.“ Die Palästinenser könnten | |
„auch in die Türkei oder nach Ägypten oder in ein anderes islamisches Land | |
gehen“, sagt sie. | |
Die Zufahrt zum Grenzübergang Kerem Schalom auf halbem Weg zwischen Bnei | |
Netzarim und Rafah ist durch einen Militärcheckpoint versperrt. Dennoch | |
gelingt es Mitgliedern religiös-nationalistischer Gruppen regelmäßig, in | |
die Nähe des Übergangs vorzudringen und Hilfslieferungen zu blockieren. Die | |
Aktivisten gehören zum rechten Rand der Gesellschaft, doch ihre Forderung, | |
die humanitäre Hilfe einzustellen, bis die Geiseln freigelassen wurden, | |
tragen laut [3][einer Umfrage des Israel Democracy Institute] 68 Prozent | |
der jüdischen Israelis mit. | |
Wie wirkungsvoll die Blockaden sind, ist schwer abzuschätzen. Grund für das | |
Ausbleiben der Hilfslieferungen sind laut der UNO aber vor allem fehlende | |
Grenzübergänge, militärische Kampfhandlungen und der Zusammenbruch von | |
Recht und Ordnung in Gaza. Menschenrechtsorganisationen werfen Israel vor, | |
[4][es habe die Anordnung des Internationalen Gerichtshofs IGH, zur | |
Verhinderung eines möglichen Völkermordes mehr humanitäre Hilfe | |
zuzulassen], bisher nicht erfüllt. | |
Acht Kilometer vom Grenzübergang Kerem Schalom entfernt bewacht Doron | |
Stamker das Tor zur Kibbuzsiedlung Nir Jitzchak. „Bisher sind nur einige | |
Arbeiter zurückgekommen, um sich um die 600 Kühe und die Hühner zu | |
kümmern“, sagt der 50-Jährige. Um seine Schultern hängt ein Sturmgewehr, in | |
der Wand des Wachhauses sind Einschusslöcher zu sehen. Im Fenster liegen | |
die Reste einer Rakete aus Gaza, verformt wie Teile einer abstrakten | |
Metallskulptur. „Wenn dort die Bomben einschlagen, dann wackeln hier die | |
Häuser. Wir sollten nicht zurückkommen, solange drüben gekämpft wird“, sa… | |
das Mitglied des Kibbuz-Sicherheitsteams. | |
Stamker krault seine weiße Hündin Esa hinter den Ohren. Fünf seiner neun | |
Kollegen des Sicherheitsteams seien am 7. Oktober getötet worden. Sechs | |
Menschen wurden verschleppt, noch immer sei ein Bewohner des Kibbuz als | |
Geisel in Gaza. „Dieser Kibbuz wird nicht mehr derselbe sein und es wird | |
nicht friedlich werden“, sagt Stamker resigniert und scherzt: „Ich glaube, | |
schon Moses hat den Fehler gemacht. Er hätte uns nach Kanada bringen sollen | |
statt nach Kanaan.“ Er verstehe, dass auch auf der anderen Seite Menschen | |
Frieden wollten, doch die Hamas wolle das nicht. Ein Palästinenserstaat | |
könne die Situation vielleicht verbessern. „Sollen sie dort sein und wir | |
hier“, sagt er. Nur in einem ist er sich sicher: „Eine Wiederbesiedlung ist | |
nicht die Lösung.“ | |
2 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.timesofisrael.com/army-okays-return-to-towns-along-gaza-border-… | |
[2] https://de.wfp.org/pressemitteilungen/un-welternaehrungsprogramm-pausiert-h… | |
[3] https://en.idi.org.il/articles/52976 | |
[4] https://www.amnesty.ch/de/laender/naher-osten-nordafrika/israel-besetzte-ge… | |
## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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