| # taz.de -- Neuer Roman von Thomas Pynchon: Wie das Heulen über den Himmel kam | |
| > Thomas Pynchon erzählt von der Welt vor dem Zweiten Weltkrieg und dem | |
| > Aufstieg des Faschismus. Ein Kommentar zu den Entwicklungen der | |
| > Gegenwart? | |
| Bild: Lesen in den Wirren Mitteleuropas, wie Thomas Pynchon sie beschreibt. Bud… | |
| Die Literaturkritikerin Kathryn Schulz hat im New Yorker schon irgendwo | |
| recht. Tatsächlich würde man rund um Thomas Pynchons neuen Roman | |
| „Schattennummer“ irgendeine Form von Signal in Richtung von „Hab ich’s … | |
| nicht gesagt?“ erwarten. Schließlich bemüht die US-amerikanische | |
| MAGA-Realität sich gerade sehr, noch die weirdesten Wendungen dieses Autors | |
| in die Realität zu übersetzen. | |
| Alternative Fakten, dunkle Machenschaften und Lügereien, Verschwörungen, | |
| Menschen, die von der Straße weg verhaftet werden können, paranoide | |
| Regierungsorganisationen – wenn man sich die gegenwärtigen Entwicklungen in | |
| den USA ansieht, mag man inzwischen viele Aspekte seines Werks als | |
| prophetisch nehmen. | |
| So ein Signal kommt in dem Roman aber nicht vor. Und selbstverständlich | |
| gibt das große Phantom der Weltliteratur auch immer noch keine Interviews | |
| und lässt sich auch nicht für Porträts befragen. Oder kommt so ein Signal | |
| eben doch, nur auf seine, auf Pynchons Art? | |
| Eine gute Maxime beim Pynchon-Lesen ist es, sich nicht festlegen zu lassen. | |
| Ist es Hochliteratur, ist es Pulp-Fiction? Gibt es einen Plan dahinter, | |
| gibt es keinen? Ein Pynchon-Roman schillert zwischen solchen Polen. Auch | |
| dieser Roman, der neunte des inzwischen 88-jährigen Autors, schillert so, | |
| auch wenn er, verglichen mit seinen großen Weltentwürfen in „Die Enden der | |
| Parabel“, „Gegen den Tag“ und „Mason & Dixon“ in „Schattennummer“… | |
| zurückhaltend verfährt. | |
| ## Schnelle Dialoge, Knarren, Verwicklungen | |
| Sparen wir uns die obligatorischen Hinweise darauf, wie unmöglich die | |
| Handlung in allen Details nachzuerzählen ist. Im Kern ist „Schattennummer“, | |
| wie die beiden vorangegangenen Romane auch schon, eine Detektivgeschichte, | |
| die auf den Mustern einer Hardboiled-Ästhetik aufsitzt. Schnelle Dialoge, | |
| Knarren, mondäne Frauenfiguren, Verwicklungen, die, je tiefer der Detektiv | |
| in sie eindringt, [1][immer unübersichtlicher werden] – alles drin. | |
| Angesiedelt ist die Handlung um 1930. In den USA herrscht gerade noch | |
| Prohibition, in Europa sind die Nazis auf dem Vormarsch. Der Privatdetektiv | |
| Hicks McTaggert (toller Pynchon-Name!) bekommt den Auftrag, Daphne Airmont | |
| zurückzubringen, die Erbin eines Käseimperiums (toller Pynchon-Kontext), | |
| die einerseits auf der Flucht vor ihrem Vater, dem „Al Capone des Käses“ | |
| (darauf kann wirklich nur Pynchon kommen), ist, andererseits ihrer großen | |
| Liebe hinterhersucht. In Milwaukee beginnt die Handlung, im zweiten Teil | |
| springt sie über nach Europa. Budapest, Fiume, diverse Hafenstädte, die | |
| Wälder Ungarns und Landschaften Kroatiens spielen eine Rolle. | |
| Und wie immer bei Pynchon ist die Musik wichtig. In „Schattennummer“ | |
| Klezmer und Swing. Und so holpert, stürmt, schleudert, weht und tanzt eben | |
| auch die Handlung durch die „Wirren von Mitteleuropa“ und den „Ring von | |
| historischem Schutt, der einmal zum Königreich Ungarn gehörte“. | |
| ## Die „Hitler-Bewegung“ als Bedrohung | |
| Ein historischer Roman? Zum einen ja. Thomas Pynchon erzählt von der | |
| Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. „Schattennummer“ ist somit eine Art | |
| Prequel zu seinem immer noch berühmtesten Roman [2][„Enden der Parabel“,] | |
| der mit dem Heulen deutscher V2-Raketen über dem Londoner Himmel einsetzt. | |
| Zum anderen kann man aber auch kaum anders, als das Buch dann eben doch als | |
| Kommentar zur Gegenwart zu lesen. Denn sosehr das alles auch seinen eigenen | |
| Gesetzen folgt oder auch gar keinen Gesetzen (nicht umsonst gehört der | |
| Anarchismus zu den Themen, auf die Pynchon immer wieder zurückkommt), so | |
| deutlich schält sich ein Strang heraus, der sich um das Erstarken des | |
| Faschismus und schließlich auch um Antisemitismus dreht. | |
| Schon in Milwaukee kommt die „Hitler-Bewegung“ als Bedrohung ins Bild. | |
| Milwaukee ist stark von deutschen Einwanderern geprägt, es gibt | |
| Auseinandersetzungen mit der italienischen Mafia und afroamerikanischen | |
| Gruppen. In Europa ist das Erstarken des Faschismus endgültig Thema. | |
| „Früher oder später wird es nirgends mehr sicher sein. Wir müssen woanders | |
| hinziehen, bevor man nur noch SA-Lieder und Dreiklänge hört“, stellt Daphne | |
| fest. – „Ihr Jungs kommt bei allem Jüdischen ganz schön in Rage, was?“, | |
| sagt eine andere Figur später. | |
| Und während die Welt ins Dunkle, Richtung Faschismus und Krieg driftet, | |
| beschreibt Pynchon die Reaktionen der Menschen darauf. Neben den Figuren, | |
| die bereits an Fluchtrouten für Juden denken, gibt es auch welche, die von | |
| der Jagd auf sie profitieren wollen (Heino Zäpfchen, „ein sehr gefragter | |
| Judenjäger“, noch so was typisch Pynchoneskes). Es gibt aber auch viele | |
| Figuren, die einfach nur weiter ihr Ding machen zu können glauben. | |
| ## Nichts wird wieder normal | |
| Eine Kernstelle ist folgender Dialog: „Ich bleibe nur so lange wie nötig, | |
| bis alles wieder normal ist.“ – „Ach, herrje, wissen Sie es wirklich noch | |
| nicht? Die Dinge werden nie wieder so sein, wie sie mal waren.“ | |
| Nichts wird je wieder normal! Es bleibt bei alledem aber eben auch beim | |
| Schillern. Man möchte, wenn man diesen Roman gelesen hat, nicht nur | |
| Verständnismöglichkeiten liefern, man möchte schlicht auch schwärmen. Schon | |
| der erste Satz: „Wenn Ärger in die Stadt kommt, nimmt er meist die | |
| North-Shore-Linie“ – klassisch! Wie genau er seine Dialoge realen | |
| Sprechweisen ablauscht! Wie lustig auch die Liedtexte sind, die er | |
| einstreut, etwa „Mach mal Pause von der Prohibition“, vorangetrieben von | |
| einem Schlagzeuger namens Pancho Caramba. (Das alles biegsam ins Deutsche | |
| übertragen von Nikolaus Stingl und [3][Dirk van Gunsteren.)] | |
| Was Thomas Pynchon hier als Alterswerk vorlegt, ist auch ein Kaninchenbau: | |
| ein möglicher Eingang, von dem aus man sich in seinem Werk verlieren kann. | |
| Und das ist dann vielleicht der kunstreichste aller Kommentare: Schau her, | |
| MAGA, mich kriegt ihr nicht! Damit behauptet Thomas Pynchon auch das | |
| Eigenrecht seiner Literatur. Und man denkt: Solange Pynchon gelesen wird, | |
| haben die Trumps, Vances und Musks dieser Welt noch nicht gewonnen. | |
| 15 Oct 2025 | |
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| Dirk Knipphals | |
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