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# taz.de -- Jugendsozialarbeit in Berlin: Zocken für eine Perspektive
> Nach den Silvester-Krawallen spielt die Berliner Feuerwehr mit
> Jugendlichen Fußball, bietet Workshops und Führungen. Kürzungen gefährden
> das Projekt.
Bild: High-Deck-Kids lassen die Bälle durch die Luft fliegen
Berlin taz | Pfiffe hallen durch die Siedlung. „Wallah, schieß!“, ruft
einer. Auf dem Kunstrasen hinter dem Gitter aus schwarzen Seilen und gelben
Stahlstangen jagen Jungs in neon-pinken, gelben und grünen Fußballschuhen
über den Platz. Gekonnt schicken sie die Bälle durch die Luft.
„Neukölln 44“ steht auf den Shirts der Jugendlichen aus der
High-Deck-Siedlung, die am Samstagnachmittag an der Neuköllnischen Allee
Fußball zocken. In den Ziffern prangt ein Foto von der High-Deck, die
hinter dem Käfig hervorragt: graue Blöcke mit blauen Fensterläden, auf den
Balkonen Sonnenschirme und Sattelitenschüsseln. Dahinter reihen sich
dutzendfach gleichförmige Gebäude, grau, gelb, rot angestrichen, verbunden
durch Überführungen. In der High-Deck und dem benachbarten Wohnkomplex
„Sonnenallee Süd“ wohnen rund 8.000 Menschen.
„Die brauchen eine Perspektive“, sagt Hicham Abou-Hassan. Der Neuköllner
ist Straßensozialarbeiter bei Outreach in der High-Deck-Siedlung und spielt
selbst Straßenfußball. „Im Namen der Straße“ steht auf dem Rücken seiner
schwarzen Trainingsjacke. „In jedem steckt eine gute soziale Haltung“, sagt
der 23-Jährige. „Für Leute wie uns von der Straße müssen nur Orte
geschaffen werden, an denen die gefördert und Perspektiven geschaffen
werden.“
Organisiert wird das Turnier von Outreach, einem Träger für mobile
Jugendsozialarbeit, zusammen mit der Jugendfreizeiteinrichtung „The Corner“
in der High-Deck. Das Fußballspielen ist Teil des [1][gewaltpräventiven
Projekts „Kiezgespräche“, das Outreach seit Mitte 2023 gemeinsam mit der
Berliner Feuerwehr] betreibt.
## Brennender Bus sorgte für Empörung
Entstanden ist das Projekt als Reaktion auf die Krawalle in der
Silvesternacht 2022/23. Damals hatten Jugendliche einen Reisebus an der
Bushaltestelle Michael-Bohnen-Ring in Brand gesetzt. Als die Feuerwehr
eintraf, versperrten ihnen brennende Mülltonnen den Weg. Einsatzkräfte
wurden mit Steinen, Flaschen, Feuerwerkskörpern und Schreckschusspistolen
attackiert. Der Einsatz musste zunächst abgebrochen werden, die Flammen
griffen auf darüberliegende Wohnungen über.
[2][Der brennende Bus wurde über Nacht bundesweit zum Symbol „gescheiterter
Integration“]. Die Berliner CDU stellt eine Anfrage, die Vornamen der
deutschen Tatverdächtigen offenzulegen. Auf drei Gipfeln gegen Jugendgewalt
wurden später Maßnahmen beschlossen, etwa mehr Sozialarbeit an Schulen
sowie Workshops für Jugendliche mit Feuerwehr und Rettungsdiensten. Die
Ausschreibung der Feuerwehr für das gewaltpräventive Projekt
„Kiezgespräche“ gewann Outreach. Finanziert ist das Projekt sowie die
Straßenarbeit von Outreach in der High-Deck über Gewaltgipfelgelder.
„Wir wollen Hemmnisse durch Beziehungsarbeit und Prävention reduzieren“,
erklärt Janis Tappe, Feuerwehrmann und Koordinator der Feuerwehrprojekts.
In dunkelblauem Feuerwehr-Pulli steht er am Spielfeldrand und verfolgt das
Spiel. „Ich habe kein Bock auf diese Law-and-Order- und Symbolpolitik“,
sagt er. Die Silvesterausschreitungen seien auch kein rein Neuköllner
Problem gewesen. Deshalb wurde das Projekt auch berlinweit aufgezogen.
Seit Spätsommer 2023 finden die Fuß- oder Volleyballturniere in Neukölln,
Spandau, Schöneberg, Marzahn und Wedding/Reinickendorf und Kreuzberg statt.
11 Wachen beteiligen sich mittlerweile an dem Projekt. In Neukölln traten
die Jugendlichen zunächst gegen die Feuerwehrmänner der Neuköllner Wache
an. Inzwischen spielen sie mal gegeneinander, mal miteinander. Am Samstag
gibt es wegen des hohen Andrangs ausschließlich Jugendteams. Die
Feuerwehrmänner sind trotzdem zur Unterstützung da und feuern die Kids vom
Spielfeldrand an.
## Verständnis und Respekt füreinander
Das Konzept: Sechs Teams, darunter „Neukölln“, „Falastin“ (Palästina)…
„FC High Deck“, treten in Fünf-Minuten-Spielen gegeneinander an. Hin- und
Rückrunde, der Sieger zieht jeweils eine Runde weiter, bis ins Finale.
Hicham Abou-Hassan trägt die Ergebnisse sorgfältig in eine App ein. Der
erste Platz gewinnt einen Gutschein der Streetwearmarke Snipes, die
Kooperationspartner von Outreach ist.
Drinnen im „The Corner“, dem blauen Container am Spielrand, läuft parallel
zum Fußballturnier ein Fifa-Turnier auf der Playstation. Hier treten zehn
Teams gegeneinander an. Auf Sofas und Sesseln sitzen sechs Jungs und gucken
gebannt auf die Leinwand: Paris Saint-Germain zieht Real Madrid gerade
haushoch ab.
In den Container zieht eine Rauchwolke von der Grillstation am Eingang des
Geländes. Dort brutzeln auf einem Tischgrill Würstchen, daneben ist ein
Hot-Dog-Buffet mit Brötchen, Wurst, Röstzwiebeln, Ketchup, Senf.
Grillmeister sind ein Mann und ein kleiner Junge in Gucci-Pullover. Kids in
Fußballtrikots, Monclerjacken und Gucci-Caps holen sich Hot-Dogs ab, aus
dem Lautsprecher dröhnen Eminem und Drake, auf der Tischtennisplatte
nebenan wird geknutscht. Mittendrin: die Feuerwehrmänner.
Ziel des Projekts ist es, gegenseitige Vorurteile abbauen und Verständnis
und Respekt füreinander vergrößern. „Es geht darum, eine Verbindung
zwischen Kiez und Feuerwehr herzustellen und auch für die Feuerwehr
positive Momente zu kreieren“, erklärt Janis Tappe. Denn auch für die
Einsatzkräfte war die Silvesternacht einschneidend.
## Unverständnis für die Jugendlichen
„Es gab damals viel Unverständnis für das Verhalten der Jugendlichen“,
erzählt Tappes Kollege, Sascha Müller. „Einige Feuerwehrleute haben danach
resigniert und sich aus Brennpunktorten versetzen lassen, weil sie nicht
begreifen konnten, warum es so läuft.“ Der hochgewachsene
Wachabteilungsleiter trägt einen Feuerwehr-Pulli und steht am
Spielfeldrand. Rückblickend sagt er: „Ich denke, vieles hatte auch mit der
Lockerung der Coronamaßnahmen zu tun. Die Jugendlichen fühlten sich endlich
wieder frei. Für sie waren wir als exekutive Behörde der Sumpf vom Staat –
auch wenn wir diejenigen sind, die ihnen helfen wollen.“
Müller ist selbst in Neukölln aufgewachsen, heute lebt er in Gropiusstadt.
Seit 13 Jahren ist er im Ausrückebereich Neukölln tätig, seit zwei Jahren
ist er zudem „Kiezbeauftragter“, wie die Mitarbeitenden des
Feuerwehrprojekts mit Outreach genannt werden. Müller koordiniert all die
Programme des Projekts, die längst nicht mehr nur noch
Gewaltpräventionsprogramme sind.
Auf den Sport folgten im Projektverlauf weitere Angebote: Pyroworkshops vor
Silvester, Besuche auf den Wachen, Erste-Hilfe-Kurse für Eltern,
Boxtraining im Fitnessstudio der Wache sowie gemeinsame Koch- oder
Grillabende. Die Jugendlichen sollen den Arbeitsalltag der Feuerwehr
kennenlernen, die Feuerwehrleute die Lebensumstände der Jugendlichen. Seit
Herbst 2023 fanden rund 200 Veranstaltungen statt, an denen etwa 1.800
Jugendliche teilnahmen.
Bei Workshops zeige er auch häufig Videomaterial von der Silvesternacht und
erkläre den Jugendlichen, wie sich die Situation für die Einsatzkräfte
angefühlt hat, erzählt Müller. Die Jugendlichen würden meist sehr
verständnisvoll reagieren.
## Die Lage hat sich verbessert
Die Feuerwehrmänner machen das alles zusätzlich zu ihrem regulären Dienst.
Müller kommt gerade aus dem Nachtdienst. Wie er das schafft? „Viel Kaffee“,
scherzt er. Dann wird er ernst: „Echte intrinsische Motivation.“ Und die
zahlt sich aus: „Es ist besser geworden“, meint er. Ob das an den
Präventionsmaßnahmen oder der stärkeren Polizeipräsenz liegt, sei unklar.
Letztes Silvester hatten die Einsatzkräfte dauerhaft Begleitschutz von der
Polizei. Eins steht für ihn jedoch fest: „Die Feuerwehr ist für viele ist
inzwischen kein Feind mehr.“ Viele der Jugendlichen kennen die
Feuerwehrleute inzwischen persönlich, man grüßt sich im Supermarkt. Dadurch
habe man einen besseren Draht zu den Kids – der zuletzt auch bei der
Rekrutierung von Nachwuchs hilfreich sei.
Auch Hicham Abou-Hassan von Outreach wertet das Projekt als Erfolg: „Es ist
cool und wichtig, dass die Feuerwehrmänner am Start sind. Der Respekt
steigt, weil die Jugendlichen sehen, dass die sie supporten.“ Doch
Beziehungen aufzubauen sei ein langwieriger Prozess. „Diese Arbeit braucht
Zeit, Geld und Ressourcen“, sagt er.
Daran fehlt es. Sowohl das Feuerwehrprojekt als auch das Team von Outreach
in der High-Deck stehen momentan auf der Kippe. Dem Bezirk Neukölln droht
laut Samira Bekkadour, Projektleiterin bei Outreach, [3][im nächsten Jahr
eine Finanzierungslücke von 1,6 Millionen Euro]. Das habe der Bezirk ihr
mitgeteilt. Wie sich das auf die Jugendsozialarbeit auswirkt, ist unklar.
„Es kann sein, dass wir Stellen streichen müssen“, sagt Bekkadour.
Abou-Hassan kritisiert das: „Wenn wir keine anständigen Ressourcen
bekommen, wird Neukölln seinen Problem-Stempel nie loswerden.“
12 Oct 2025
## LINKS
[1] /Jugendsozialarbeit-in-Berlin/!5956953
[2] /Silvester-in-Berlin-Neukoelln/!5981940
[3] /Kuerzungen-in-Berlin/!6101988
## AUTOREN
Lilly Schröder
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