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# taz.de -- Demenz und plötzlich ist alles anders: Als das Lachen verstummte
> Unsere Autorin begleitet ihren demenzkranken Vater zwischen Pflegekrise,
> Sterbewunsch und der Frage, wie lang Abschiede sein können.
Bild: Fotoserie des polnischen Fotografen Rafał Milach über niederländische …
Früher war mein Vater einer der lustigsten Menschen, die ich kenne. Einmal
wurden meine beste Freundin und ich beim Klingeln von Hundegebell
erschreckt. Mein Vater rief: „Sei schon leise!“ Das Bellen aber kam von
ihm.
Er war ein Vater, wie man ihn in den 80ern selten fand: einer, der von
Anfang an die Hälfte der Betreuung übernahm, selbstverständlich wickelte,
fütterte und mich stundenlang trug. Einer, der sich Geschichten für mich
ausdachte und Rumpelstilzchen mit mir nachspielte.
Heute ist ihm nicht mehr oft zum Lachen. Er ist 72 Jahre alt und hat eine
Demenz. So wie 1,84 Millionen weitere Menschen in Deutschland. Mein Vater,
einst Lehrer und Lyriker, kann sich nicht damit abfinden, einer von ihnen
zu sein. Im April 2022 schrieb er mir über Wochen auf allen Kanälen
Nachrichten. Darunter einmal per SMS: „Habe mich gerade erfolgreich um
Aufnahme bei der Gesellschaft für Humanes Sterben gekümmert.“
Ich bin auf einer Hochzeit in Glasgow und wollte gerade ein Foto meiner
wild tanzenden Tochter machen. Beim Lesen der Nachricht setzt mein
Herzschlag aus. Mein Make-up zerfließt vor den Augen der versammelten
Hochzeitsgesellschaft.
Das kleine Alzheimer
„Ein kleines Alzheimer“, diagnostizierte der Neurologe, zu dem ich meinen
Vater im Februar 2022 – nach vielen gescheiterten Überredungsversuchen,
ärztliche Hilfe zu suchen – endlich gebracht hatte. Mein Vater wirkte
erleichtert: „Siehst du, nichts Wildes!“ Er, der sein Leben lang Angst vor
einer Demenz gehabt hatte, konnte die Diagnose in dem Moment offenbar nicht
richtig einordnen – oder wollte sich nicht damit auseinandersetzen.
Seine Reaktion passt zu dem, was ich in Fachartikeln fand: Nach einer
Demenzdiagnose mischen sich oft Schock und Verdrängung. Viele versuchen,
die Bedrohung kleinzureden – genau wie mein Vater.
Im Rückblick erkenne ich, dass sich seine ersten Symptome bereits Jahre
zuvor angedeutet hatten: Mein Vater wollte meine Tochter nicht länger
einmal die Woche von der Kita abholen, ging nicht mehr ins Theater oder auf
Lesungen. Er, der seine Rente hatte nutzen wollen, sich dem Verfassen von
Gedichten zu widmen, hörte auf zu schreiben.
Auch sonst änderte sich sein Verhalten – er wurde ungeduldig und reagierte
schnell gereizt, fuhr meine Tochter schon an, wenn sie laut sprach oder zu
singen begann. Ich hielt ihn für altersbedingt kauzig, vielleicht auch
überfordert vom Renteneintritt.
Ostern 2021 erzählte er meiner Tochter, der Osterhase habe seine Brille im
Treppenhaus abgelegt. Wir hielten das für einen seiner Witze und lachten
höflich. Kurz darauf aber vergaß er eine Verabredung – konnte sich partout
nicht erinnern, uns eingeladen zu haben, als wir bei ihm klingelten.
Als er nach einem gemeinsamen Weihnachtseinkauf im Dezember mehrmals
fragte, was sich in der Tüte befände und wie sie in seine Wohnung gekommen
sei, wurde mir klar: Er muss dringend zu einem Spezialisten.
Während mein Vater zu glauben schien, dass es eine harmlose Form von
Alzheimer gäbe, wusste ich nach einer kurzen Recherche schnell: Ein kleines
Alzheimer gibt es nicht. Eine Alzheimerdiagnose bedeutet immer den Anfang
vom Ende: ein unaufhaltsames, stufenweises Verschwinden – erst des
Kurzzeitgedächtnisses, der Orientierung und der Sprache, dann des
Langzeitgedächtnisses und schließlich der Kontrolle über sämtliche
Körperfunktionen. Der Tod erfolgt infolge der Bettlägerigkeit meist durch
Infekte.
Meine Hoffnung, dass die plötzlichen Symptome meines Vaters zu den zehn
Prozent heilbaren Demenzformen gehörten, war zerstört.
„Krebs oder Demenz – irgendwas kriegen alle“, meinte eine Freundin lapida…
Andere erzählten von ihrer dementen Oma, einer Tante. Ich lächelte matt. Zu
müde, zu widersprechen. Aber in meinem Kopf hämmerte es: Eine demente Tante
oder eine demente Oma sind nicht dasselbe. Ich merkte bereits, wie die
Rollen kippten: Mein Vater konnte mir keinen Rat mehr geben, meine Texte
nicht mehr kritisch gegenlesen.
Der Anfang vom Ende
Wir redeten nicht länger über Literatur oder Politik. Statt bei ihm ein
offenes Ohr zu finden, musste ich mich nun kümmern, mich seiner Termine und
Sorgen annehmen.
Die meisten in meinem Umfeld wussten nicht, was sie sagen sollten. Ich zog
mich zurück, um niemanden zu überfordern. Die Nachrichten zogen an mir
vorbei, Kriege, Krisen, alles, was mich sonst bewegt hätte, kam nicht an
mich ran. Trost fand ich nur in Büchern, etwa in Joan Didions „Jahr des
magischen Denkens“ – einem Memoire über die Zeit nach dem Tod ihres Mannes.
Mitten in meiner größten Hilflosigkeit kam eine Kollegin auf mich zu und
sagte etwas, das hängen blieb: „Du weißt jetzt, was kommt, und kannst dich
verabschieden, noch gute gemeinsame Momente sammeln.“ Sie erzählte, dass
ihrer Mutter Darmkrebs diagnostiziert worden war: „Da hieß es, sie hat nur
noch drei Wochen – und dann ist sie ein paar Tage später gestorben –
während ich gerade auf dem Weg zu ihr war.“
Zurück von der Hochzeit in Schottland will ich eigentlich in Berlin den
Rest der Osterferien nutzen, um Lösungen für meinen Vater zu finden. Aber
stattdessen muss ich für ihn da sein. Er ruft alle paar Minuten an, weint
und meint, er halte das Alleinsein nicht aus. Um etwas mit ihm zu
unternehmen, das auch mir Spaß macht, blättere ich mit ihm alte
Spiegel-Ausgaben durch und spiele „Gesichter raten“.
Mein Vater kommt nur mit großer Mühe auf die Namen von Christian Lindner
und Annalena Baerbock. Beim Anblick von Prinz Harry fragt er: „Ist das ein
Politiker?“ Ich schüttele den Kopf: „Aber so etwas in der Art.“ Er
überlegt. Und fragt dann zögerlich: „Aber schon ein Mensch und kein Affe,
oder?“
Ich versuche, den Rat meiner Kollegin zu befolgen: Ich verbringe einen Tag
mit meiner Tochter und meinem Vater im Museum, fahre mit ihm zu zweit nach
Potsdam, organisiere eine große Geburtstagsfeier mit seinen Freunden für
ihn. Ich hoffe, durch ein Antidementivum noch etwas Zeit gewinnen zu
können.
Das Mittel Memantin, hatte mir der Neurologe erklärt, schützt die
Nervenzellen vor der ständigen Reizüberflutung durch den Botenstoff
Glutamat und kann dadurch den Abbau verlangsamen. Anfangs scheint es zu
funktionieren: Im DDR-Museum erinnert sich mein Vater beim Anblick alter
Radiogeräte an seine Kindheit, in Potsdam genießt er Königsberger Klopse.
Keine Freude mehr am Leben
Schon nach sechs Wochen aber hat mein Vater keine Lust mehr auf Ausflüge.
Auch richtige Gespräche mit ihm sind kaum mehr möglich. Er dreht sich im
Kreis, verzweifelt am Verschwinden seiner Fähigkeiten, sagt Dinge wie: „Ich
bin erst 72 Jahre – das ist doch heutzutage kein Alter!“ Oder: „Es ist
schlimm zu erleben, wie einem alles entgleitet.“ Und einmal, inmitten eines
vollen Supermarkts: „Das ist kein lebenswertes Leben!“
Ich habe mich in den Jahren zuvor intensiv mit der NS-Ideologie,
insbesondere mit Sozialdarwinismus und den Krankenhausmorden beschäftigt.
Seine Formulierung erinnert mich an den Nazibegriff „lebensunwertes Leben“.
Meint mein Vater, der seinen Zivildienst in einer Behindertenwerkstatt
verbracht hat, die Naziterminologie tatsächlich so? Ich frage. Er schüttelt
beinahe unmerklich den Kopf: „Aber ich möchte nicht so enden, dass ich
nichts mehr mitbekomme und anderen hilflos ausgeliefert bin.“
Ich kann nur erahnen, wie schmerzhaft es für meinen Vater sein muss, immer
wieder mitzubekommen, wie er einst selbstverständliche Fähigkeiten wie das
Ausfüllen eines Banküberweisungsträgers verliert, wie hart es sein muss,
sich von dem Bild zu verabschieden, das er von sich hat – dem Bild eines
autonomen Ichs.
Ein Bild, das in unserer Gesellschaft seit der Aufklärung idealisiert und
trotz der Verbrechen der NS-Zeit, in der Menschen in ‚wertvolles‘ und
‚unwertes‘ Leben eingeteilt wurden, bis heute wenig hinterfragt wird. Ich
versuche, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass Identität nicht ist, was
jemand leistet, sondern das, was von ihm bleibt. Im Fall meines Vaters:
seine Gedichte, sein Humor, seine Herzlichkeit, die Erinnerungen anderer.
Ein Land ohne Plan zu altern
Nach dem Tod seiner Mutter hat mein Vater notariell festlegen lassen, dass
ich, falls er jemals nicht mehr entscheidungsfähig sein sollte, seine
Betreuung übernehmen, also alle Entscheidungen für ihn treffen solle, vom
Finanziellen über seine Unterbringung bis hin zu Medizinischem. Mit meiner
Generalvollmacht stelle ich nun zunächst einen Antrag auf einen Pflegegrad.
Ich bin überzeugt, dass ich eine ambulante Versorgung oder eine
Unterbringung für ihn finden werde.
Am sinnvollsten erscheint mir ein Ort in der Nähe seiner Wohnung – damit
mein Vater sich auch bei zunehmender Orientierungslosigkeit zurechtfindet.
Doch mein Vater will keine fremde Hilfe. Und die Suche nach einem
geeigneten Platz gestaltet sich als schwierig. Die meisten Residenzen,
Altersheime und WGs sind voll, ermöglichen keine Besichtigung oder
antworten gar nicht erst.
Das nächstgelegene Heim wirbt im Aufzug auf einem vergilbten Plakat mit dem
Besuch echter Eulen. Beim Rundgang aber erschreckt mich ein beißender
Uringeruch auf den Fluren. Die Bewohnenden liegen am späten Nachmittag im
Schlafanzug auf ihren Betten – trotz 3.000 Euro Eigenanteil für die Pflege
pro Monat.
Eine Seniorenresidenz am Ku’damm wirkt mit Speisesaal und Fitnessraum
zunächst wie ein Fünf-Sterne-Hotel. Die Demenzstation des Hauses aber
erinnert an eine Psychiatrie: geschlossene Türen, halluzinierende,
schreiende Bewohnende. Kaum Personal in Sicht.
## 200.000 Pflegekräfte fehlen
Ich recherchiere zur Pflegekrise, spreche mit Bekannten aus dem
Gesundheitswesen – und merke: Unsere Gesellschaft will sich nicht wirklich
auf Demenz einstellen. Und auch nicht auf ein würdiges Altern. Durch die
Kommerzialisierung der Pflege ist der Druck gestiegen. Während die Zahl der
Pflegebedürftigen stetig wächst, fehlen schon jetzt rund 200.000
Pflegekräfte.
Mit den Babyboomern, die derzeit in Rente gehen, verschärft sich der
Fachkräftemangel weiter. Nachwuchs für schlecht bezahlte Pflegeberufe ist
schwer zu gewinnen. Gerade bei Demenz, weiß ich nun aus eigener Erfahrung,
ist die Beziehungsebene entscheidend – doch für die fehlt fast überall die
nötige Zeit. Unter anderem auch, weil der Krankenstand in der Pflege sehr
hoch ist: 2024 lag er in der Altenpflege im Schnitt bei 33,1 Tagen im Jahr
– der bundesweite Durchschnitt aller Berufe liegt bei 18,2 Tagen.
„Wenn Sie ihn jetzt unterbringen, können Sie gleich beim nächstbesten
Bestatter anrufen und einen Sarg bestellen“, sagt der Neurologe, als mein
Vater auch nachts nicht mehr allein bleiben kann und ich nach ein paar
Nachtschichten, die meine seit 35 Jahren von ihm getrennte Mutter mir
zuliebe übernimmt, nicht mehr weiterweiß. Der Neurologe erklärt, das
Wichtigste sei, die Selbstständigkeit im gewohnten Umfeld so lange wie
möglich zu erhalten.
Mein Vater fragt: „Können Sie mich nicht einfach sedieren? Ich will das
alles nicht mehr mitbekommen.“ Der Neurologe sagt: „Sie sind schon sediert
genug.“ Und erklärt dann in aufmunterndem Ton: „Die erste Zeit ist schlimm,
weil Sie das Vergessen noch mitbekommen. Aber ich verspreche Ihnen, es wird
besser. Später ist es nur für die Angehörigen schwierig.“ Mein Vater wirkt
beruhigt.
Der Neurologe rät mir, meinen Vater für die Zeit, bis das Antidepressivum
wirkt, bei anhaltender Suizidalität notfalls in einer Psychiatrie
unterzubringen. Das bringe ich nicht übers Herz. Seine Hausärztin überweist
ihn wegen beginnender Unsicherheiten beim Laufen stattdessen in eine
geriatrische Klinik. Schon am ersten Tag aber ruft die Klinik an: „Ihr
Vater ist nicht krank, er ist dement und gehört nicht hierher!“ Verzweifelt
flehe ich die diensthabende Ärztin an, ihn wenigstens noch über das
Wochenende zu behalten.
Zwischen meinen Besuchen bei meinem Vater in der Klinik recherchiere ich zu
Demenz und zur Versorgung alter Menschen in Deutschland und Europa. Auf
Youtube gucke ich Filme über Roboter, die wegen Personalmangels zur
Unterstützung in Heimen getestet werden.
Mich schaudert es – ich möchte später nicht von einem Roboter umsorgt
werden. Erst seit 2020 aber gibt es so etwas wie eine nationale
Demenzstrategie, also einen Plan der Bundesregierung, um das Leben von
Menschen mit Demenz zu verbessern.
Die Niederlande waren da schneller. Dort, sehe ich in einer Doku, gibt es
eine solche Strategie seit 2004. Und bereits seit 2009 ein speziell auf die
Bedürfnisse Demenzkranker abgestimmtes Dorf. In Hogeweyk leben rund 152
Demenzkranke in Wohngemeinschaften und gehen gemeinsam ihrem Alltag nach –
im Supermarkt, Café, Theater und beim Friseur.
Sogar eine nachgemachte Bushaltestelle gibt es. Das Personal – bestehend
aus circa 250 Pflegenden und Ehrenamtlichen – agiert aus dem Hintergrund,
etwa als Kassenpersonal oder Gartenkräfte getarnt.
## Demente meist zuhause gepflegt
Bei meinen Recherchen erfahre ich, dass es auch in Hameln bereits ein an
Hogeweyk orientiertes kleines Demenzdorf gibt – und in Bielefeld unter
anderem durch Workshops an Schulen aktiv an der Demenzfreundlichkeit der
Stadt – einer sogenannten Dementia Friendly Community – gearbeitet wird.
Für meinen Vater aber kommt ein Umzug nicht in Frage. Am wichtigsten,
beteuert er immer wieder, sei es ihm, in der Nähe seiner Familie zu
bleiben. Also bei meiner Tochter, meiner Mutter und mir. Das ist
anscheinend bei den meisten Demenzkranken der Fall: Laut Deutschem Zentrum
für Neurodegenerative Erkrankungen werden zwei Drittel zu Hause von
Angehörigen unterstützt und gepflegt.
Während mein Vater noch auf der geriatrischen Station liegt, schätzt ein
Gutachter des Medizinischen Dienstes telefonisch seinen Pflegegrad ein.
Da mein Vater sich nicht mehr einschätzen kann und auch nicht telefonieren
möchte, fragt der Gutachter mich unter anderem nach seiner
Selbstständigkeit und Mobilität, nach seinen kognitiven und kommunikativen
Fähigkeiten wie Orientierung, Erinnern und Umgang mit Sprache, nach
Verhaltensweisen und Problemen wie Unruhe, Aggression oder Ängsten, nach
der Selbstversorgung und der Alltagsgestaltung. Obwohl mir von allen
geraten wurde, zu übertreiben, bleibe ich ehrlich.
Mein Vater erhält dennoch auf Anhieb den Pflegegrad 3 von 5 – vermutlich
durch meine aufrichtige Verzweiflung am anderen Ende der Leitung. Ich kann
kaum sprechen vor Anspannung, meine Stimme bricht ständig weg.
Ich finde eine Demenz-WG, die nach Montessori-Konzept Hilfe zur Selbsthilfe
verspricht. Bei einem Besuch versteht sich mein Vater auf Anhieb mit einem
ehemaligen Deutschlehrer, der wie er aus Süddeutschland kommt und scherzt:
„Wenn ich hier einziehe, machen wir zwei schwäbischen Slapstick!“ Die
anderen Bewohnenden jedoch können kaum noch sprechen oder sich bewegen.
Nach ein paar Tagen sagt mein Vater: „Ich bin viel zu fit im Vergleich. Ich
will lieber in meiner Wohnung bleiben!“ Ich kann es ihm nicht verübeln: In
der Demenz-WG würde er als Einziger, der noch laufen und sprechen kann,
immer vor Augen geführt bekommen: Das ist die Endstation.
Auch ich brauche eine Weile, um den Anblick eines Mannes in meinem Alter
dort zu verarbeiten, der wie ein Geist wirkte: glasige Augen, ohne Sprache.
Ich versuche also, den Wunsch meines Vaters zu respektieren. Zur Sicherheit
setze ich ihn auf sämtliche Wartelisten.
Zwischen Fürsorge und Überforderung
Der Spagat zwischen Arbeit, Vater und Tochter aber wird immer schwieriger.
Schon bald dreht sich mein Leben nur noch um die Bedürfnisse meines Vaters.
Er schafft es nicht mehr, einkaufen zu gehen, verlegt ständig Portemonnaie
und Schlüssel – oder schaltet Handy und Fernseher aus und weiß nicht mehr,
wie er sie wieder anstellt. Jedes Mal ruft er so lange an, bis ich komme
und wieder alles in Ordnung bringe, ihm erkläre, wie Fernseher und Handy
funktionieren. Immer wieder.
Einmal bin ich nach stundenlanger Suche sicher, dass er sein Portemonnaie
draußen verloren haben muss. Nachdem ich alle Karten gesperrt und neu
beantragt sowie einen Termin für einen neuen Personalausweis gemacht habe,
finde ich es im Backofen.
Ich höre auf, mich zu verabreden, plane nichts mehr, reagiere nur noch –
mein Alltag ist fremdgesteuert. Mental bin ich ständig zerrissen: Bei
meinem Vater, bei der Arbeit, neben meiner Tochter – überall denke ich an
unerledigte Aufgaben. Immer bin ich in Sorge: Was, wenn er den Herd
anlässt? Oder das Bügeleisen? Was, wenn er rausgeht und nicht zurückfindet?
Mit einem Pflegegeld von 599 Euro im Monat wird die emotional zehrende
Rundumbetreuung schlechter entlohnt als jeder Minijob.
Es ist, als hätte ich neben dem Grundschulkind noch ein über 70-jähriges
Baby – nur dass ich nie weiß, was es braucht oder will. Und ob ich sein
Schreien und Weinen ernst nehmen muss – oder ob die Verzweiflung im
nächsten Moment bereits wieder vergessen sein wird.
Meine Tage beginnen mit bis zu zehn Nachrichten.
2.13: Wo bin ich?
6.20: Wie komme ich nach Hause?
7.10: Warum gehst du nicht ans Telefon??????
Ich beantworte, was ich kann, während der Kaffee durchläuft. Nach dem
Frühstück bringe ich meine Tochter zur Schule. Auf dem Weg zur Arbeit ruft
mein Vater das erste Mal an – verwirrt, was er mit dem Tag anfangen soll.
Gegen Mittag der nächste Anruf, gefolgt von zahlreichen SMS wie: „Wo sind
die Hausschuhe?“ Am frühen Nachmittag fahre ich mit meiner Tochter zu ihm.
Einkaufen, Ordnung schaffen, Zeit mit ihm verbringen.
Nachts kümmere ich mich um Bürokratie, versuche, noch zum Arbeiten zu
kommen. Durch den ständigen Zeitdruck aber werde ich gefühlt nichts und
niemandem mehr gerecht – weder meinem Vater noch meiner Tochter, nicht der
Arbeit oder dem Haushalt.
## Von Moment zu Moment
Mein Vater bekommt kaum mit, wie viel ich für ihn tue. Er lebt nur von
Moment zu Moment – und kehrt doch immer wieder zum Thema Sterbehilfe
zurück. Als ich in Schottland war, hat er sich online bei der Deutschen
Gesellschaft für Humanes Sterben angemeldet, einer Organisation, die
Menschen unterstützt, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden – unter anderem
durch Vermittlung von assistiertem Suizid.
Ich hätte den Sterbewunsch meines Vaters als Folge seiner
demenzbegleitenden Depression abtun können. Mein Vater aber hat sich schon
Jahrzehnte zuvor immer wieder für eine Reform der Sterbehilfegesetze
ausgesprochen und erklärt: „Ich möchte nicht eines Tages mit einer
schmerzhaften Krankheit oder Demenz leben müssen.“
Ich habe abgewartet, ob das Antidepressivum seine Haltung verändert. Da das
nicht der Fall ist, beginne ich zu recherchieren. Sterbehilfe ist in
Deutschland ein besonders heikles Thema – nicht zuletzt wegen der
Krankenhausmorde der NS-Zeit. Körperlich und psychisch Kranke – darunter
Menschen mit Schizophrenie und Demenz – wurden systematisch vergast oder
durch gezielte Mangelernährung ermordet.
Die Nationalsozialisten bezeichneten die Tötungen im Sinne ihrer
sozialdarwinistischen Ideologie perfide verharmlosend als „Euthanasie“ –
also als „guten Tod“.
Die Geschichte wirkt bis heute nach: Aktive Sterbehilfe – also gezieltes
Töten auf Verlangen – ist strafbar. Andere Formen wie die passive
Sterbehilfe, etwa das Einstellen lebenserhaltender Maßnahmen, sind unter
bestimmten Voraussetzungen erlaubt.
Seit das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 das Verbot der
geschäftsmäßigen Suizidhilfe für verfassungswidrig erklärt hat, ist auch
Beihilfe zum Suizid grundsätzlich legal – sofern der Entschluss der
betroffenen Person freiwillig, eigenverantwortlich und wohldurchdacht ist.
Alle Versuche des Gesetzgebers, die Suizidhilfe seither gesetzlich neu zu
regeln, sind bisher gescheitert.
Der Stand bleibt: Sterbehilfeorganisationen wie die DGHS dürfen
unterstützen – aber nur, wenn die Person entscheidungsfähig ist und der
Wunsch dauerhaft und innerlich gefestigt erscheint.
Ich berate mich mit Freundinnen und Mitarbeitenden des Pflegestützpunkts.
Die meisten reagieren ablehnend. Nur ein enger Freund meines Vaters, selbst
ehemaliger Pfleger, nimmt seinen Sterbewunsch ernst – und vermittelt mich
an einen Bekannten, der sich auskennt. In einem langen Gespräch mit ihm
über das Prozedere der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben erkenne
ich: Für meinen Vater gibt es mit der fortgeschrittenen Demenz keinen
gangbaren Weg, seinen Wunsch legal umzusetzen.
Wenn die Selbstständigkeit nachlässt
Am Vatertag 2023 spitzt sich die Situation zu: Seit dem frühen Morgen kann
ich meinen Vater nicht erreichen. Ich war die ganzen letzten Tage bei ihm
und muss nun die Abgabefrist für einen durch die Pflege liegengebliebenen
Text schaffen. Ich hoffe, dass mein Vater wie so oft einfach nur sein Handy
verlegt hat, rufe immer wieder bei ihm an und versuche nebenbei, die
Deadline einzuhalten.
Um 23 Uhr klingelt mein Handy: „Hier ist die Rettungsstelle. Ihr Vater ist
draußen gestürzt und zu uns gebracht worden.“ Die diensthabende Ärztin
erklärt: „Mit der Demenz hierbehalten können wir ihn nicht – er muss aber
über Nacht wegen eventueller Nachwirkungen beobachtet werden.“
Um zwei Uhr morgens kommt der Krankentransport. Meine 9-jährige Tochter
wird durch die Klingel geweckt. Beim Anblick der Hämatome und Blutkrusten
meines Vaters beginnt sie zu schreien. Mein Vater witzelt mit Blick in den
Flurspiegel: „Ich bewerbe mich für den nächsten Frankensteinfilm!“ Meine
Tochter findet es nicht lustig – ich muss sie lange beruhigen, ehe sie
wieder einschläft.
Um das Blut loszuwerden, lasse ich meinem Vater ein Bad ein. Während er in
meiner Badewanne sitzt, schicke ich am Wannenrand den Text ab. Dann helfe
ich meinem Vater notgedrungen das erste und einzige Mal beim Waschen. Eine
Grenze, die ich nie hatte überschreiten wollen.
Am nächsten Tag stellt sich heraus: In der Notaufnahme ist ein
komplizierter Unterarmbruch übersehen worden – mein Vater muss operiert
werden. Eine Woche bleibt er im Krankenhaus, zwei weitere Wochen verbringt
er in einer Reha. Dort wird festgestellt: Er hat kein „reines“ Alzheimer,
sondern eine Mischform aus Alzheimer-, frontotemporaler und vaskulärer
Demenz. Das bedeutet: Die spezifischen Symptome der verschiedenen Formen
treten gleichzeitig auf.
Die Alzheimer-Komponente zeigt sich vor allem durch Gedächtnisprobleme und
Orientierungsschwierigkeiten. Die frontotemporale Demenz verändert die
Persönlichkeit – dadurch reagiert er unter anderem impulsiver. Die
vaskuläre Komponente sorgt für verlangsamtes Denken, Konzentrationsprobleme
und Schwierigkeiten, Abläufe zu planen. Für mich bedeutet das: Jeder Tag
ist unvorhersehbar, weil sich seine Symptome und ihre Ausprägung ständig
ändern.
Nach der Operation ist sein Kurzzeitgedächtnis vollständig verschwunden. Er
fragt bereits nach einer Minute: „Wohin gehen wir gerade?“ Auch körperlich
baut er ab: Sein Gang wird immer unsicherer. Er traut sich nicht mehr
allein raus und döst die meiste Zeit nur vor sich hin. Beim Aufwachen
leidet er immer wieder an Halluzinationen. Einmal öffnet er mir die Tür und
hält einen Finger vor den Mund: „Shhhh! Leise! Meine Oma schläft im
Nebenzimmer.“ Seine Oma Erna wäre heute 130 – sie starb vor 60 Jahren.
Auch das Langzeitgedächtnis meines Vaters wird immer löchriger. Die
Melodien aus seiner Kindheit aber sind noch alle da – genau wie die
Mundharmonika, die er als kleiner Junge geschenkt bekam. Bei einem unserer
Besuche erzählt mein Vater meiner Tochter, dass in seiner Kindheit Musiker
in Hinterhöfen spielten und die Menschen ihnen Geld aus den Fenstern
zuwarfen. Sie überredet ihn, seine Mundharmonika mit rauszunehmen.
Auf dem Ku’damm spielt mein Vater ihr auf einer Bank Volkslieder vor, sie
begleitet ihn mit Gesang. Als die beiden „Das Wandern ist des Müllers Lust“
zum Besten geben, bleibt eine alte Dame stehen und reicht meiner Tochter
einen Euro. Die ist selig: „Mensch, Opa – wir gründen eine Band und kommen
groß raus.“
Am Tag darauf erkennt mein Vater mich zum ersten Mal nicht. Dass ich beim
Begleiten seines Verschwindens selbst zu verschwinden drohe, merke ich
erst, als ich kurz vor einem Burn-out stehe. Ich schaffe alles, aber ich
funktioniere wie im Autopilotmodus, habe Wortfindungsschwierigkeiten,
schlafe trotz Erschöpfung schlecht und verliere bereits bei Kleinigkeiten
die Nerven – wie ein Roboter mit Betriebsfehler.
Die Krankenkasse bewilligt eine Kur für pflegende Angehörige. Durch
Waldbaden, Sauna, Yoga, Nordic Walking und Aromatherapie in einer
Solidargemeinschaft von Erschöpften soll ich zu Kräften kommen – und
anschließend wieder fit für die Pflege sein. Nur: Wohin so lange mit meinem
Vater?
Zweieinhalb Jahre habe ich seinen Wunsch, in seiner Wohnung bleiben zu
können, ernst genommen. Akzeptiert, dass er nicht möchte, dass jemand
außerhalb der Familie nach ihm sieht. Nie hätte ich gewagt, ihn gegen
seinen Willen fremd betreuen zu lassen. Jetzt aber geht es nicht mehr
anders.
Ich rufe alle Tagespflegeeinrichtungen an, ob sie ihn für drei Wochen zur
Verhinderungspflege aufnehmen würden, und erkläre meinem Vater, dass ich
nicht länger kann. Er reagiert verständnisvoll: „Klar, du sollst dich ja
nicht für mich aufreiben.“ Auch die Eingewöhnung in der Tagespflege läuft
einfacher als gedacht: Mein Vater entdeckt ein Buffet und setzt sich, ohne
sich nach mir umzusehen.
Abends schreibt er: „War ich heute wo, wo ich gesungen habe und es Kuchen
gab – oder war das nur ein Traum? Wenn nicht, will ich wieder hin.“ Ich
frage mich, warum ich so lange gewartet, warum ich erst alle meine Grenzen
überschritten habe, ehe ich diesen Schritt gewagt habe. Und höre dann in
der Kur, dass es den meisten pflegenden Angehörigen so ergeht.
Zurück von der Kur in Berlin schicke ich meinen Vater mehr und mehr Tage in
die Tagespflege – und muss so nur noch seinen Haushalt, seine Einkäufe,
seine Bürokratie, Ärztegänge und sein Wochenendprogramm übernehmen. Aber
ich merke: Drei Wochen Pause haben bei Weitem nicht gereicht. Lange geht es
nicht mehr gut.
Als ich gerade zwei Tage bei einer Freundin in München bin, schlagen die
Nachbarn meines Vaters Alarm, weil er desorientiert durchs Haus wandert.
Jahrelang war ich nie einfach weg – und jetzt das. Eine Familie nach der
anderen ruft an und fordert, dass ich meinen Vater sofort irgendwo
unterbringe. Ich bekomme Panik. Mir wird klar: Ich kann seine Sicherheit
nicht länger gewährleisten – und die seiner Nachbarn auch nicht.
Ein neues Zuhause
Dass jemand bei ihm einzieht, will mein Vater nach wie vor unter keinen
Umständen. Zum Glück wird in einer ähnlichen Demenz-WG wie der, die wir
besichtigt hatten, ein Platz frei. Die WG liegt in der Nähe, drei der
Bewohnerinnen und Bewohner können noch sprechen und auch noch interagieren.
Während mein Vater in der Tagespflege ist, räume ich mit zwei Freundinnen
binnen drei Stunden seine Wohnung aus und richte ihm sein Zimmer in der WG
mit den wichtigsten Bildern und Möbeln ein. Als wir gerade die letzte
Schraube festziehen, das letzte Bild aufhängen, klingelt mein Handy. Der
Fahrer der Tagespflege erklärt: „Wir sind jetzt da.“
Beim Aussteigen aus dem Kleinbus ist mein Vater verwirrt: „Wo sind wir?“
Der Anblick der Babytochter meiner Freundin lenkt ihn ab. Auf sie
fokussiert folgt er uns ins Haus und sein neues Zimmer. Nach einem Moment
der Irritation – „Da sind ja meine Sachen!“ – und meiner Erklärung, wa…
er zu Hause nicht mehr sicher war, bedankt er sich bei mir mit den Worten:
„Was du alles für mich getan hast. Du hast alles richtig gemacht.“
Heute sind meine Besuche bei ihm weitestgehend entspannt. Mittlerweile kann
ich mich daran erfreuen, wie mein Vater Blumen oder Schilder am Wegesrand
bestaunt, einen Sonnenstrahl oder ein Eis genießt, auf der Mundharmonika
spielt – und die Welt neu entdeckt wie ein Kind.
Auch wenn das Entdeckte oft nur eine Minute im Kopf bleibt. Wenn er beim
Abschied weint, bringe ich ihn in die Gemeinschaftsküche – und weiß, dass
sich James, Alisha, Mustafa oder jemand anderes aus dem Pflegeteam um ihn
kümmert. Fünf der zehn Pflegekräfte in der Montessori-WG sind über die
Pflege nach Deutschland gekommen, hatten jedoch nie Zeit, einen Deutschkurs
zu besuchen.
Sie verstehen alles, fühlen sich aber unsicher. Ich erzähle ihnen, dass
mein Vater Deutsch als Fremdsprache unterrichtet hat – und ihnen gerne
etwas beibringt. Ich hoffe, dass sie so eine Beziehung aufbauen.
Mein Vater aber schreibt auch Monate später noch jeden Morgen, er wolle
nach Hause. Ich antworte mit einer vorformulierten Nachricht, dass ich ihn
drei Jahre in seiner Wohnung gepflegt habe, bis es nicht mehr ging – weil
er dort allein nicht mehr sicher war. Er antwortet immer nur knapp: „Das
verstehe ich.“ Oder: „In Ordnung.“
12 Oct 2025
## AUTOREN
Eva-Lena Lörzer
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