| # taz.de -- Schriftsteller Altıntaş über Trauer: „Ich bin mit bestimmten M… | |
| > Der Schriftsteller Fikri Anıl Altıntaş setzt sich in seinem Roman mit dem | |
| > Tod seiner Mutter auseinander und wie Trauer patriarchal geprägt ist. | |
| Bild: Der Krebs eines Angehörigen verändert das Selbstbild: Schriftsteller Fi… | |
| taz: Herr Altıntaş, Ihr Roman heißt „Zwischen uns liegt August“. Was ist… | |
| August passiert? | |
| Fikri Anıl Altıntaş: Der August bezeichnet einen emotionalen Zwischenraum. | |
| Im August beginnt und endet das Buch. Und zwischendrin bewegt sich die | |
| Geschichte, weil die Mutterfigur im August geboren wird und an | |
| Bauchspeicheldrüsenkrebs stirbt. | |
| taz: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben? | |
| Altıntaş: Ich verstehe das Buch vor allem als Trauerbewältigung. Ich habe | |
| im Schreibprozess viel Trauer durchlebt. So konnte ich nicht nur eine | |
| idealisierte Beziehung zu meiner Mutter darstellen, sondern auch den Raum | |
| ausfüllen, den ich in meiner Beziehung zu ihr aufgrund von Unsicherheit | |
| oder Zurückhaltung nie eingenommen habe. Gleichzeitig arbeite ich die | |
| patriarchalen Flecke in unserer Beziehung auf. Es bewegt sich letztlich | |
| zwischen einerAufarbeitung und Liebeserklärung an meine Mutter. | |
| taz: Was hat sich seit der Diagnose in Ihrer Familie verändert? | |
| Altıntaş: Es zerbricht sehr viel, aber gleichzeitig kann es eine Chance | |
| sein, Familienstrukturen auch nochmal auf einen gesünderen Umgang in der | |
| Kommunikation aufzubauen. Beim Schreiben des Buchs habe ich verstanden, | |
| dass Krebs nicht nur die erkrankte Person betrifft, sondern auch in der | |
| Familienstruktur Metastasen bildet. | |
| taz: Inwiefern? | |
| Altıntaş: Der Krebs existiert nicht nur körperlich. Er verändert auch | |
| spirituell, psychisch und physisch alles. Studien zeigen, dass eine | |
| Krebserkrankung für Betroffene und Angehörige gleichermaßen belastend sein | |
| kann. Erst jetzt verstehe ich, wie stark sich dadurch auch das eigene | |
| Selbstbild verändert, wie sehr Krankheit und Verlust körperlich und | |
| seelisch prägen. | |
| taz: In Ihrem Roman fällt auf, dass Vater und der Ich-Erzähler ihre Trauer | |
| sehr still verarbeiten. Trauern Männer anders? | |
| Altıntaş: Es hängt immer davon ab, welche Beziehung man zu seiner Mutter | |
| und zu seinem Vater hatte. Ich bin mit bestimmten Männlichkeitsbildern | |
| aufgewachsen. In diesen mussten Wut, Enttäuschung oder Verzweiflung oft | |
| allein bewältigt werden. Das prägt. Das Spannende daran war für mich, diese | |
| Trauer nicht nur zu beschreiben, sondern auch ihre Existenz anzuerkennen. | |
| Studien zeigen, dass Männer in emotionaler Bildung weniger gefördert | |
| werden. | |
| taz: In Ihrer Geschichte ist Heimat ein schwebender Begriff. Glauben Sie, | |
| dass es zwei Heimaten geben kann oder vielleicht etwas dazwischen? | |
| Altıntaş: Für mich ist Heimat ein gedanklicher Zwischenraum, der nicht | |
| manifestiert sein muss. Auch für hier geborene Menschen mit | |
| Einwanderungsgeschichte existieren solche Zwischenräume. Bei meiner Mutter | |
| kann ich verstehen, dass sie die Türkei vermisst. Sie ist dort | |
| aufgewachsen. Ihre Erinnerungen sind dort verwurzelt. Gleichzeitig teilen | |
| wir Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland. Dadurch entsteht auch eine | |
| Verbindung zwischen uns. In Zeiten von Diskriminierung und politischer | |
| Gewalt ist es wichtig, etwas festhalten zu können. Wenn es Heimat ist, dann | |
| kann ich mit diesem Begriff anfreunden. | |
| taz: Die Mutterfigur Mürüvvet erlebt in den 1970er Jahren eine Zeit des | |
| politischen und gesellschaftlichen Umbruchs in der Türkei – geprägt von | |
| Hoffnung, Protesten undwachsender Unsicherheit. Wie schauen Sie auf die | |
| aktuelle politische Situation in der Türkei? | |
| Altıntaş: Viele der heutigen Konfliktlinien haben in der türkischen | |
| Gesellschaft bereits in den 1970er Jahren ihren Ursprung. Diese Spannungen, | |
| die sich aus religiösen, konservativen oder liberalenEinstellungen ergeben, | |
| ziehen sich bis heute durch. Die [1][Türkei ist ein sehr polarisiertes | |
| Land], in dem politische Figuren stark idealisiert werden und die Politik | |
| stark personalisiert ist. Das begann schon mit Atatürk und hat mit Erdoğan | |
| eine ähnliche Dimension erreicht. Das halte ich für problematisch. Wir | |
| leben auch immer noch in einer Gesellschaft, die nicht wirklich frei ist: | |
| Es gibt [2][Angriffe auf die Meinungsfreiheit]; marginalisierte Gruppen wie | |
| Alevit*innen oder Kurd*innen sind davon besonders betroffen. Trotz allem | |
| habe ich noch Hoffnung in die [3][türkische Zivilgesellschaft], die sich | |
| nicht entmutigen lässt. | |
| 5 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Prozess-gegen-CHP-Parteichef/!6110251 | |
| [2] /Journalistin-Hazal-Ocak-ueber-Verfolgung/!6094168 | |
| [3] https://ijab.de/partnerlaender/tuerkei/aktuelle-beitraege-zur-tuerkei/selbs… | |
| ## AUTOREN | |
| Finn Sünkler | |
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