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# taz.de -- ARD-Serie „Naked“: Ausbruch im Ersten
> Zwischen Lust und Kontrollverlust: Mit der Serie „Naked“ wagt die ARD ein
> ungewöhnlich komplexes Drama über Sexsucht.
Bild: In ihrer Affäre mit Luis erlebt Marie auch Grenzüberschreitungen
Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zeigt sich neuerdings ein unerwarteter
Mut. Die institutionelle Vorsicht, sich nur schematisch an gesellschaftlich
aufgeladene Themen – und im Gestus des moralisch Unangreifbaren –
heranzuwagen, weicht mittlerweile immer öfter dem Versuch, die
zugrundeliegenden Fragen in ihrer ganzen Komplexität ernst zu nehmen.
Besonders sichtbar wird das an der neuen WDR-Serie „Naked“.
Bis vor (sehr) kurzer Zeit konnte man sich jedenfalls noch ziemlich sicher
sein, dass ein ARD-Stück über Sexsucht in einem blutleeren Ergebnis mündet
– allemal in einem, das den Ambivalenzen der Wirklichkeit nicht gerecht
wird, weil man sich ihnen gar nicht erst zu nähern traut. Die federführend
von Silke Eggert (bekannt für das Roadmovie „303“) geschriebene und von
persönlichen Erfahrungen inspirierte Serie aber begibt sich mitten hinein
in das bisweilen heikle Spannungsfeld aus Anziehung und Lust, Abhängigkeit
und Selbsttäuschung.
Verhandelt wird es an der Geschichte von Luis (Noah Saavedra) und Marie
(Svenja Jung), die sich auf einer Kostümparty begegnen, unmittelbar in den
Bann des anderen geraten, rauschhaften Sex miteinander erleben und sich
beinahe ebenso schnell in einem unheilvollen Geflecht aus verführerischem
Spiel und Exzessen verfangen.
Für Marie, der zwischen der Fürsorge für ihren kleinen Sohn (Thore Anker),
den Zumutungen ihres eifersüchtigen Ex-Partners David (Aurel Mertz) und
ihrem Beruf als Lehrerin kaum Raum für sich selbst bleibt, bedeutet die
frei gelebte Lust nicht zuletzt einen Ausbruch aus dem Alltag, ein
Sich-selbst-Erleben in einer anderen Rolle.
## Leben durch Sexualität bestimmt
Eine, die so reizvoll ist, dass sie darüber nicht erkennt – vielleicht auch
nicht recht erkennen mag –, dass Luis’ sexuelles Verhalten bedenkliche Züge
trägt. Für ihn ist Sexualität kein Ausbruch aus dem Alltag, sondern
bestimmt sein Leben: durch endlosen Pornokonsum, spontane Besuche auf
Sexpartys zu allen Tageszeiten und Fantasien, die ihn so bedrängen, dass
selbst die Bürostunden in einer Werbeagentur kaum zu überstehen sind.
Schließlich führt sein Verlangen auch zu unangekündigten Auftritten bei
Marie, mit denen er seine Unrast in ihre Nähe trägt. Dennoch ist in ihm
gleichsam [1][die Sehnsucht nach einem anderen Dasein]: Weil die
Hypersexualität, wie die Verhaltensstörung „Sexsucht“ eigentlich heißt,
bislang jede Beziehung verunmöglichte, klammert er sich an den Wunsch nach
Selbstkontrolle – und daran, mit Marie eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.
Wie streng Luis dabei die Gesetze des Konsenses wahrt, ist eine Frage, die
„Naked“ früh stellt: Eine Frau aus seiner Vergangenheit, Verena (Hanna
Hilsdorf), erstattet Anzeige wegen sexueller Nötigung gegen ihn. Marie
gerät dadurch in ein Dilemma: Ihre feministische Haltung unterstreicht die
Serie klar, dennoch stellt sich Marie an Luis’ Seite, will dem Vorwurf
nicht glauben – wohl auch, um ihr neu gefundenes Glück zu bewahren.
Was an der Anschuldigung dran ist, bleibt nach den drei vorab zur Sichtung
bereitgestellten Folgen offen. Unübersehbar ist jedoch, dass auch Marie
selbst [2][Grenzüberschreitungen] mit Luis erfährt.
## Erzählerische Balance
„Naked“ gelingt die schwierige erzählerische Balance bislang herausragend:
Während Marie im Schwebezustand des Zögerns bleibt, benennt ihre beste
Freundin Lilith (Malaya Stern Takeda) die Übergriffigkeiten eindeutig. So
bleibt stets klar, auf welcher Seite die Serie ihre Sympathien verortet –
ohne Ambivalenzen vorschnell zu glätten.
„Naked“ greift aber nicht nur vielschichtig aktuelle Diskurse auf, sondern
ist von Bettina Oberli („Nachts im Paradies“) zudem überaus stilsicher
inszeniert. Die Kamera von Julian Krubasik findet Bilder, die zwischen für
den Rahmen ungewohnter Direktheit und ästhetischer Andeutung oszillieren.
Die detailverliebte Ausstattung und der präzise eingesetzte, mitreißende
Soundtrack verstärken zusätzlich den Sog, den „Naked“ schon nach wenigen
Spielminuten entwickelt.
Ob die Serie diesen schmalen Grat zwischen Offenheit für Widersprüche und
der Notwendigkeit eindeutiger Benennung bis zum Ende durchhält, bleibt
freilich abzuwarten. Bis hierhin ist „Naked“ ein couragiertes und
bestechendes Experiment, das Erotikdrama in zeitgemäßer Form zurück und
wohl erstmals ins deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen zu bringen.
Dass die Entschlossenheit der Sendeanstalten, sich solchen Experimenten zu
öffnen, trotz alledem noch Grenzen kennt, zeigt sich indes daran, dass die
Serie wegen ihrer expliziten Szenen zunächst in die Mediathek verbannt
werden sollte, wie die Macher*innen bei der Premiere auf dem Filmfest
München berichteten.
Ein Sendeplatz im linearen Fernsehen ist inzwischen gefunden – angesetzt
ist er aber, wie so oft, wenn ARD und ZDF über das Krimi- und
Herzschmerz-Einerlei hinausgehen, zu einer Uhrzeit, die erkennen lässt, wie
sehr der neu entdeckte Wagemut noch mit den Zwängen alter
Programmgewohnheiten zu ringen hat.
6 Oct 2025
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## AUTOREN
Arabella Wintermayr
## TAGS
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