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# taz.de -- Überleben im Gazastreifen: Ein letzter Blick zurück
> Seham Tantesh hat seit dem 7. Oktober alles verloren: ihre Heimat, ihren
> Vater, ihre Liebe zum Leben. Doch ihr neuster Verlust gibt ihr Hoffnung.
Bild: Menschen in Gaza suchen in den Trümmern nach letzten Überbleibseln ihre…
Seit dem 7. Oktober 2023 ist mein Leben völlig auf den Kopf gestellt. Nach
und nach habe ich alles verloren, was mir wichtig war. Am 13. Oktober
musste ich mein Zuhause verlassen. Mein Vater packte ein paar wichtige
Dinge ein und bat mich, die Tür hinter uns abzuschließen. Ich hatte keine
Zeit, mich zu verabschieden. Also nahm ich den Schlüssel, verschloss die
Tür und warf ihn in meine Tasche, damit er nicht verloren ging. Damals
ahnte ich noch nicht, dass ich in diesem Moment ein ganzes Kapitel meines
Lebens für immer beendete.
Ich eilte hinaus, ohne mich umzusehen. Hätte ich gewusst, dass es das
letzte Mal sein würde – der letzte Blick in mein Zimmer, auf meine dort
verteilten Kleider und Gegenstände, auf mein Bett und auf die Wände,
zwischen denen wir gelacht und so viel erlebt hatten –, ich hätte mir Zeit
genommen. Mich von jeder Ecke verabschiedet, mit meinen Händen über die
Wände gestrichen, sie geküsst.
Danach folgten eine Reihe von Verlusten. Jeder von ihnen traf mich härter.
Ich verlor meine Stadt Beit Lahia, in der ich aufgewachsen bin. [1][Sie
liegt direkt an der Grenze zu Israel]. Ich verlor meine Unabhängigkeit und
Privatsphäre, als ich in verschiedenen Zelten lebte. Doch der größte
Verlust von allen war der meines Vaters.
Im Frühling wollte er zu einem bombardierten Haus gehen, wo wir einmal
gelebt hatten. Nur um ein paar Sachen zu holen. Ich sah ihn nie wieder.
Später mussten wir auch sein Grab zurücklassen, weil wir erneut aus dem
Norden des Gazastreifens flüchten mussten.
Jeder Verlust verdunkelte das Licht in mir, bis ich meine Liebe zum Leben
selbst verlor. Ich fühle mich wie ein leerer Körper, der ohne Bewusstsein,
ohne Gefühle umherwandert.
Während der vergangenen zwei Jahre sind Verluste normal geworden.
[2][Dutzende von Märtyrern haben wir verabschiedet] – in Stille und mit
einer unbeschreiblichen Hilflosigkeit. Trotzdem müssen wir weiterleben,
einfach so, als sei nichts geschehen.
Wir haben uns daran gewöhnt, uns von unseren Lieben zu verabschieden, ohne
dass sie jemals zurückkehren.
Vor Kurzem habe ich ein weiteres Familienmitglied verabschiedet. Meine
Cousine Malak Tantesh hat den Gazastreifen verlassen. [3][Über den
Grenzübergang Kerem Schalom ist sie erst nach Israel], dann nach Jordanien
und schließlich nach Großbritannien gereist.
Doch der Abschied von Malak war anders als alle Abschiede zuvor. Er brachte
uns das Leben zurück. Es war ein Abschied vom Krieg, vom Tod, vom Schmerz
und vom Leid. Ich bin stolz auf sie, auf ihren Mut und ihre Leidenschaft
für das Leben. Darauf, wie sie in einem Küstenstreifen, der von Träumen
nichts mehr weiß, mit aller Kraft an ihren Träumen festgehalten hat. Ich
bin froh, dass das Schicksal beschlossen hat, wenigstens einem Menschen aus
unserer Familie ein Lächeln zu schenken.
Der Abschied von Malak war schwer. Wir umarmten uns lange und voller
Freude, weil ich wusste, Malak würde nun in Sicherheit sein – und voller
Trauer, weil sie eine Lücke hinterließ, die nicht leicht zu füllen ist.
Meine Tränen galten ihrer Freude, und der Kloß in meinem Hals galt mir
selbst und all jenen, denen diese Chance nicht gewährt wurde.
In ihren Augen sah ich die Hoffnung auf ein anderes Leben. Und ich frage
mich: Wird das Schicksal uns eines Tages ein Wiedersehen schenken? Oder war
diese Umarmung die letzte und dieser Abschied endgültig?
Ich schreibe diese Zeilen an Malak, um ihr zu sagen, was ich nicht mehr
sagen konnte: Wenn du das liest, dann wisse, dass mein Herz bei dir ist.
Jeder Moment der Trennung erinnert mich an die Schönheit der Zeiten, in
denen wir zusammen gelacht haben. Ich bete, dass dieser Abschied der
Beginn einer neuen Chance ist, uns wiederzusehen. Ohne Angst, ohne Sorgen,
ohne Verlust. Und wenn es wirklich unser letztes Treffen war, dann lass es
ein Abschied voller Liebe und Hoffnung sein.
Nachdem Malak den Grenzübergang passiert hatte, wurde alles um mich herum
still. Als ob die Welt für einen Moment innehalten würde, damit ich meine
Einsamkeit und meinen Schmerz spüren kann. Ich schaute zum leeren Platz
neben mir, auf dem sie immer saß. Und auf die Nummer auf meinem Handy, die
ihr nicht mehr gehörte. Ihr Telefon hat sie bei uns zurückgelassen. Ich
hatte das Gefühl, dass ein Teil von mir mit ihr gegangen war.
Doch ich bin noch hier, im Gazastreifen. Und träume von dem, was nie wahr
geworden ist: ein Flugzeug aus der Nähe zu sehen, das uns wegbringt,
anstatt uns zu töten. Die Gewissheit zu haben, in einer ruhigen, sicheren
Welt zu leben.
Aus dem Englischen von Lisa Schneider
5 Oct 2025
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## AUTOREN
Seham Tantesh
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7. Oktober 2023
7. Oktober 2023
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