| # taz.de -- Zeitzeuge Stanisław Zalewski: Er sabotierte die Autos der Nazis | |
| > Der ehemalige Mechaniker Stanisław Zalewski überlebte drei | |
| > Konzentrationslager. Nun wird er 100 und noch immer sucht er als | |
| > Zeitzeuge das Gespräch. | |
| Bild: Unermüdlich lehrt er Menschlichkeit: Zalewski vor den Mauern von Auschwi… | |
| Wien taz | Die Treppe hinunter will er selbst gehen. Stanisław Zalewski, | |
| Jahrgang 1925, lehnt jede Hilfe ab, als er im Wiener Kino hinabsteigt. „Er | |
| arbeitet immer noch dreimal pro Woche im dritten Stock ohne Aufzug in | |
| seinem Büro in Warschau“, erklärt Regisseurin Magdalena Żelasko den | |
| staunenden Jugendlichen. „Sein Arzt sagt, das ist das beste Training für | |
| ihn.“ Am 1. Oktober wird Zalewski seinen 100. Geburtstag feiern – ein | |
| Datum, das er selbst nicht für möglich gehalten hätte, als er vor acht | |
| Jahrzehnten ums Überleben kämpfte. | |
| Hunderte Schülerinnen und Schüler sind an diesem Septembertag ins Kino | |
| gekommen, um Żelaskos Dokumentarfilm „Botschafter des Erinnerns“ zu sehen | |
| und anschließend dem Mann zu begegnen, um dessen Leben es darin geht. Der | |
| Saal ist überfüllt, weitere Jugendliche strömen noch herein, während | |
| Zalewski bereits seine erste Antwort auf eine Zuschauerfrage formuliert. | |
| Einige Stunden später wird er im Rahmen der Verleihung des | |
| Wiesenthal-Preises im österreichischen Parlament ausgezeichnet – eine späte | |
| Anerkennung seines unermüdlichen Kampfes gegen das Vergessen. | |
| Zalewski war nur 14 Jahre alt, als das Deutsche Reich im September 1939 | |
| sein Heimatland Polen überfiel. Der technisch begabte Jugendliche arbeitete | |
| in einer Autowerkstatt im jüdischen Viertel Warschaus und kam so früh in | |
| engen Kontakt mit der jüdischen Bevölkerung. | |
| Als der Terror begann, schloss er sich dem Widerstand an. Seine | |
| Sabotageakte waren ebenso einfallsreich wie gefährlich: Er gab vor, | |
| deutsche Autos zu reparieren, manipulierte sie aber so, dass sie nach | |
| kurzer Zeit den Geist aufgaben. Diese Form des stillen Widerstands war | |
| charakteristisch für den katholischen Polen, der später sagen würde: „Ich | |
| bin Automechaniker und gehe sehr technisch an die Dinge heran. Ein | |
| Zentimeter ist ein Zentimeter. Ein Stift ist ein Stift.“ | |
| Im Oktober 1943 wurde das Schicksal des damals 18-Jährigen besiegelt. Beim | |
| Schmieren von Widerstandsparolen wurde er verhaftet. Es folgten 545 Tage in | |
| den Konzentrationslagern Auschwitz, Mauthausen und Gusen – Tage, die | |
| Zalewski „ganz genau mehrmals durchgezählt“ hat. In Gusen II arbeitete er | |
| täglich zwölf Stunden im unterirdischen Stollen „Bergkristall“, wo Teile | |
| für die ersten Düsenflugzeuge der Welt produziert wurden. | |
| „Weckruf um vier Uhr morgens, um fünf Uhr anziehen, dann zum Frühstück eine | |
| Tasse schwarzen, bitteren Kaffee“, schildert Zalewski den aufmerksam | |
| zuhörenden Schüler:innen. „Dann wurde man in die Waggons verfrachtet und | |
| zur Arbeitsstelle gebracht.“ Die Fahrt mit der Schmalspurbahn dauerte | |
| lange, weil sie laut Zalewski zu Fuß von den SS-Männern begleitet wurde. | |
| Die Nummer, die ihm im Oktober 1943 auf den linken Unterarm tätowiert | |
| wurde, ist noch heute sichtbar. „Jeden Abend vor dem Schlafengehen sehe ich | |
| diese Nummer. Da werden die Erinnerungen wach“, erzählt er mit ruhiger | |
| Stimme. „Aber ich will mich nicht zurückerinnern. Ich will an die Zukunft | |
| denken, ich will positiv denken.“ | |
| Auf die Frage eines Schülers, wie er es mental geschafft habe | |
| weiterzuleben, antwortet Zalewski nach langem Nachdenken: „Das ist eine | |
| Frage, die man vergleichen könnte mit dem Studium des Kosmos.“ Er macht | |
| eine Pause, sammelt sich und erklärt dann: „Ich habe mir jeden Abend wie | |
| ein Mantra vorgesagt: Ich muss überleben. Ich muss zurück zu meiner | |
| Familie, zu meiner Stadt, zu meinen Freunden, denn ich habe noch eine | |
| Aufgabe zu erfüllen.“ | |
| Am 5. Mai 1945 wurde das Lager Mauthausen-Gusen schließlich von der | |
| US-Armee befreit. Zalewski kehrte am 22. Juli nach Warschau zurück, fand | |
| aber nur Trümmer vor. Mehr als 90 Prozent der Stadt waren zerstört worden. | |
| Seine ersten Schritte führten ihn über die einzige verfügbare Pontonbrücke | |
| in die Altstadt. „Ich stand dort und erstarrte förmlich. Soweit das Auge | |
| reichte: Schutt, Schutt, Schutt.“ Seine Mutter und sein Bruder hatten die | |
| Gefangenschaft nicht überlebt. | |
| Die Zeit nach der Befreiung war nicht weniger schwierig. „Direkt nach den | |
| Nazis kamen ja die Kommunisten“, erklärt sein Sohn Hubert, der mit dem | |
| Zeitzeugen nach Wien gekommen ist, im Gespräch mit der taz. „Mein Vater | |
| musste lügen, dass er aus Auschwitz zurückgekehrt ist. Kein Wort über | |
| Österreich oder Mauthausen, sonst hätten sie ihn gleich verhaftet.“ Ein | |
| Foto zeigt Zalewski damals in amerikanischer Uniform: „Das war mein ganzer | |
| Besitz“, erinnert er sich. „Ich hatte sonst nichts, als ich nach Kriegsende | |
| nach Polen zurückkehrte.“ | |
| Jahrzehntelang sprach Stanislaw Zalewski nicht über das Erlebte – auch | |
| nicht in der eigenen Familie. „Meine Erinnerungen habe ich in eine | |
| wasserdichte Kiste eingepackt, mit einer Schnur umwickelt und im Wasser | |
| versenkt. Und ich ziehe sie gelegentlich hoch, werfe sie dann aber wieder | |
| weg“, beschreibt er seine Art, mit der Vergangenheit umzugehen. Diese | |
| mechanische und distanzierte Herangehensweise half ihm zu überleben. | |
| ## Widerwilliges Gedenken in Österreich | |
| Erst 1998, auf Initiative seines Sohnes Hubert, kehrte Zalewski erstmals | |
| nach Österreich zurück. „In der Familie wurde über das Thema nicht | |
| geredet“, erinnert sich Hubert Zalewski. „Als ich als Schüler ein KZ | |
| besuchte und zu Hause darüber reden wollte, sagte meine Mutter: Schluss | |
| damit. Mein Vater saß dabei und sagte nichts.“ | |
| Der Sohn fuhr zunächst allein nach Mauthausen und Gusen, um zu sehen, was | |
| seinen Vater dort erwarten würde. Was er antraf, schockierte ihn: Während | |
| Mauthausen als Gedenkstätte erhalten war, fand sich in Gusen nichts, was an | |
| die KZ-Zeit erinnerte. „Da waren überall Villen, Häuser, schöne | |
| Blumenbeete“, erzählt Hubert Zalewski. Später kam er dann zusammen mit | |
| seinem Vater. „Ich habe ihn gefragt: Papa, wo ist der Appellplatz? Wo ist | |
| das Krematorium? Wo die Todeswand? Und er wusste es nicht.“ Alle Spuren | |
| kamen im Lauf der Jahre abhanden. | |
| Erst durch jahrelangen Druck polnischer Überlebender und ihrer Angehörigen | |
| entstand in Gusen eine Gedenkstätte. Die polnische Regierung hatte gedroht, | |
| das Gelände zu kaufen, falls sich Österreich nicht um ein würdiges Gedenken | |
| kümmere. Erst daraufhin kam Bewegung in die Sache. Viel zu spät, wie | |
| Stanisław Zalewski betont: „Für die, die es erlebt haben und sich erinnern, | |
| ist das nicht mehr wichtig. Aber für die Nachgeborenen.“ [1][Im Vergleich | |
| zu Deutschland sei die Aufarbeitung in Österreich lange unzureichend | |
| gewesen. Trotz mittlerweile zahlreicher Empfänge und Ehrungen hat Zalewski | |
| bis heute keine offizielle Entschuldigung Österreichs erhalten.] | |
| Die Wiener Regisseurin Magdalena Żelasko, gebürtig aus Krakau, hatte | |
| Zalewski vor fünf Jahren kennengelernt. Sie konnte nicht glauben, dass noch | |
| niemand einen Film über ihn gemacht hat. „Er hat eine Biografie, die für | |
| fünf Menschenleben reicht“, sagt sie. Ihr im Vorjahr erschienener | |
| Dokumentarfilm „Botschafter des Erinnerns“ behandelt nicht nur die Zeit in | |
| den Konzentrationslagern, sondern auch Zalewskis Widerstandstätigkeiten im | |
| Ghetto und seine heutige Arbeit als Zeitzeuge. Der Film ist derzeit nur im | |
| Rahmen von Schulvorführungen zu sehen, soll demnächst aber auch als Stream | |
| verfügbar sein. | |
| Seit seiner Pensionierung engagiert sich Zalewski intensiv in der | |
| Erinnerungsarbeit. 2008 übernahm er die Polnische Vereinigung der | |
| ehemaligen Häftlinge politischer Gefängnisse und Konzentrationslager | |
| Hitlers und wurde Vizepräsident des Auschwitz-Komitees. Unermüdlich besucht | |
| er Schulen und Gedenkveranstaltungen. Zu aktuellen politischen Fragen | |
| äußert sich Zalewski nicht, ihm geht es um die Vergangenheit und was man | |
| daraus lernen soll – auf einer persönlichen Ebene. Seine Botschaft ist | |
| stets dieselbe: Nur mit Verständnis und Respekt den Mitmenschen gegenüber | |
| habe die Menschheit eine Zukunft. | |
| Was ihm nach dem Krieg die Kraft gab, weiterzuleben? „Das ist die | |
| 1-Millionen-Euro-Frage“, antwortet er schmunzelnd. „Ich muss wieder als | |
| Mechaniker antworten: Damit das Auto losfährt, braucht es den richtigen | |
| Treibstoff. Und mein Treibstoff war Hubert, mein Sohn.“ In seinem Leben | |
| habe er gelernt, dass das Glück nicht vom Himmel kommt. Man müsse dafür | |
| arbeiten. „Glück kann nur ein anderer Mensch geben. Nicht Schlösser, nicht | |
| Brillanten, nicht Boote, nicht Autos. Nur ein anderer Mensch.“ | |
| [2][Obwohl die Zeitzeugen immer weniger werden], sieht Zalewski seine | |
| Mission noch lange nicht beendet. Mit bald 100 Jahren plant er bereits | |
| weitere Gespräche mit österreichischen Schülern – diesmal online aus | |
| Warschau. Seine Energie scheint unerschöpflich, wenn es darum geht, die | |
| Erinnerung wachzuhalten. Den Jugendlichen im Kino ruft er am Ende zu: „Ihr | |
| seid die Zukunft. Es ist eure Aufgabe, dass das nicht wieder passiert. Der | |
| Mensch muss für den Mitmenschen immer ein Mensch sein.“ Und dann fügt der | |
| gläubige Mann noch ein „Amen“ hinzu: „Es geschehe.“ | |
| 1 Oct 2025 | |
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| Florian Bayer | |
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