| # taz.de -- KI-Spezialist über Trauer-Avatare: „Ein Trauer-Avatar kann Wunde… | |
| > Von Verstorbenen trainierte KI-Avatare können Chance, aber auch Hemmschuh | |
| > fürs Weiterleben der Hinterbliebenen sein, sagt KI-Spezialist Jochen | |
| > Meyer. | |
| Bild: Szene aus dem Dokumentarfilm „Eternal You – Vom Ende der Endlichkeit�… | |
| taz: Herr Meyer, ist ein Avatar – sei es für eine Influencerin, sei es für | |
| einen Verstorbenen – wirklich ein Doppelgänger? | |
| Jochen Meyer: Der Begriff Avatar kann sehr vieles bedeuten. Meist beziehen | |
| wir ihn auf das optische Erscheinungsbild, also etwas, das so aussieht wie | |
| jemand. Aber wir können auch etwas Abstraktes meinen, etwa ein Gerät, mit | |
| dem wir uns nur akustisch unterhalten. Einen Chatbot zum Beispiel. | |
| taz: Wie [1][authentisch kann ein Avatar sein]? | |
| Meyer: Die Herausforderung ist, dass ein Avatar, wenn man mit ihm | |
| interagiert – und die Unterhaltung mit einem Chatbot kann sehr realistisch | |
| wirken – eine Wirklichkeit vorgaukelt, die es nicht gibt. Es ist eine | |
| Simulation. Nachgemachte, künstliche Intelligenz. Auch ein Avatar ist bloß | |
| eine Simulation. Er mag überzeugend wie der Verstorbene aussehen, aber er | |
| ist nicht die echte Person. Dessen muss man sich als Hinterbliebener immer | |
| bewusst sein. Wenn nicht, kann es die Trauerarbeit sehr negativ | |
| beeinflussen. | |
| taz: Was unterscheidet „echte“ von künstlicher Intelligenz? | |
| Meyer: Erste Vorschläge, um das festzustellen, gab es in den 1950ern. Der | |
| Turing-Test, benannt nach dem britischen Mathematiker Alan Turing, | |
| funktioniert zum Beispiel so: Ein Mensch unterhält sich per Tastatur und | |
| Bildschirm, aber ohne Sicht- und Hörkontakt mit einem Menschen und einer | |
| KI. Kann er danach nicht sagen, welches der Mensch war, hat die KI den Test | |
| bestanden und gilt als „echt“ intelligent. Aber auch wenn [2][unsere | |
| heutigen Chatbots] den Test bestehen würden, haben sie keine echte | |
| Intelligenz. Sie könnten wie Mozart komponieren, aber nicht den Transfer, | |
| die Grenzüberschreitung zu etwas kreativ Neuem schaffen – den Sprung von | |
| Mozart zu Beethoven, von Beethoven zu Bruckner. Denn KI – und jeder Avatar | |
| – nutzt nur die Informationen, die sie schon hat, mit denen sie trainiert | |
| wurde. | |
| taz: Und wie trainiert man nun einen Trauer-Avatar? | |
| Meyer: Es gab eine beeindruckende TV-Doku über einen Palliativpatienten, | |
| der einen der kommerziellen Avatar-Anbieter in Anspruch nahm und [3][die KI | |
| mit sich selbst trainiert hat]. Er hat sich mit dem System unterhalten und | |
| ihm seinen Stimmklang, Sprachmelodie, Textaufbau, seine Mimik und Gestik | |
| beigebracht. Dabei kann eine durchaus überzeugende Simulation herauskommen, | |
| die auf dem Bildschirm so aussieht wie der Verstorbene und sich auch so | |
| gibt. Die Witwe des Mannes in der Doku hat später gesagt: Ich habe den | |
| Avatar noch nicht gebraucht. Das Projekt war für meinen Mann, aber nicht | |
| für mich | |
| taz: Eine andere Hinterbliebene sagte, der Avatar klinge unecht, als lese | |
| er etwas vor. | |
| Meyer: Es ist ja auch nicht echt. Es ist ein technisches System, eine | |
| Erinnerung. Aber dieser Mensch lebt nicht digital weiter. Es ist eine neue | |
| Form der Erinnerungsarbeit, die vielleicht helfen kann, den Trauerprozess | |
| besser zu bewältigen. Früher hatten wir nur Fotos, dann hatten wir | |
| Tonaufnahmen, später Videofilme von Verstorbenen. Heute können wir mit | |
| ihrer Simulation interagieren. | |
| taz: Aber wenn ich den Verstorbenen noch eine Frage stellen will, die ich | |
| nie wagte: Dann wird keine sinnvolle Antwort kommen, denn damit ist der | |
| Avatar nicht trainiert. | |
| Meyer: Das ist genau der Punkt, das Manko an KI: Es kommt nichts Neues | |
| heraus. Der Trauer-Avatar bleibt zudem auf dem Entwicklungsniveau stehen, | |
| das er zum Zeitpunkt des Trainings hatte. Ist er mit 50 verstorben, und | |
| nach Jahren spricht die 85-jährige Witwe mit ihm, kann er die Erfahrung des | |
| Alterns nicht haben. Es entsteht eine immer größere Lücke zwischen dem | |
| Avatar und der Person, die er heute wäre. | |
| taz: Auch die nach vorn gerichtete Trauerarbeit, das Loslassen befördert er | |
| nicht. | |
| Meyer: Nein. Ich möchte nicht ausschließen, dass es eine Phase gibt, in der | |
| ein Avatar Menschen helfen kann – zum Beispiel, wenn sie nicht Abschied | |
| nehmen konnten. Andere werden ihn als gruseligen Wiedergänger empfinden, | |
| bei wieder anderen wird er Wunden neu aufreißen. Palliativ- und | |
| Hospizmitarbeiter sagen: [4][Gute Trauerarbeit] ist nach vorn gerichtet: | |
| Wie gestalte ich mein Leben jetzt, wo er nicht mehr da ist? Wie nehme ich | |
| das in die Verlusterfahrung mit hinein? Wenn es gelingt, Avatare zu haben, | |
| die bei dieser positiven Trauerarbeit helfen, würde ich sagen, ist das eine | |
| gute Nutzung der Technologie. Wie sich das umsetzen lässt? Eine spannende | |
| Frage. | |
| taz: Dann müsste der Verstorbene Sätze trainiert haben wie: „Mach auch ohne | |
| mich etwas aus deinem Leben.“ | |
| Meyer: Ja, aber das bleiben Worthülsen. Denn KI kann keine Überzeugung | |
| haben. Sie macht eine reine Textgenerierung auf Basis der bisherigen Texte. | |
| Abgesehen davon: Das Training der KI und eines Avatars fängt ja nicht bei | |
| null an. 99,99 Prozent aller Daten sind vortrainiert, stecken also schon im | |
| System. Man packt da nur eine dünne Schicht eigene Personalisierung drüber. | |
| Wenn man diese Schicht durchsticht – etwa durch unvorhergesehene Fragen –, | |
| antwortet der Avatar mit Trainingsdaten, die von sonst wo kommen. | |
| taz: Wie lange lebt ein Trauer-Avatar eigentlich? Ziel der Anbieter ist ja | |
| ein Abo. Aber dann steckt man vielleicht auf ewig in der Trauer fest. | |
| Meyer: Diese Frage hat eine technische und eine ethische Komponente. Die | |
| technische ist: Ein so hochkomplexes KI-System samt Server über viele Jahre | |
| regelmäßig zu warten, inklusive Updates, bedeutet enorm viel Aufwand. Das | |
| heißt, wenn man nichts tut, hat sich das System irgendwann von selbst | |
| erledigt und funktioniert nicht mehr. | |
| taz: Umso besser. | |
| Meyer: Nicht unbedingt, denn das kann auch zu früh passieren. Der zweite | |
| ist der ethische Aspekt: Wie lange will ich das? Will ich wirklich in 20 | |
| Jahren noch den „ewig jungen“ Avatar des Verstorbenen? Dann muss ich | |
| irgendwann entscheiden: Ich schalte ab. | |
| 28 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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