# taz.de -- Die Einsamkeit von alten Männern: Hyperpop hören und über den Kr… | |
> Ein Bus, hochgepitchte Stimmen im Ohr: Krieg und Frieden. Zum Soundtrack | |
> einer widersprüchlichen Welt kann man gut über Einsamkeit nachdenken. | |
Bild: Mit Musik an, Welt aus | |
Ich stehe in einem vollen Bus in Basel und höre Hyperpop. Ich denke Krieg. | |
Ich denke Frieden – und dann beides gleichzeitig. Der Rucksack auf meinem | |
Rücken lässt mich in jeder Kurve hin und her stolpern wie ein Teletubby auf | |
Ketamin. Mein Blick trifft den eines älteren Manns. Er trägt ein | |
ausgewaschenes Beatles-Shirt. Er raunt mir zu: „Normalerweise muss das | |
umgekehrt sein!“ Wie bitte? Ich stelle den Track leiser. | |
Er zeigt auf die beiden Schwarzen Kinder, die einen Sitzplatz haben. „Keine | |
Rücksicht mehr in diesem Land.“ Seine Augen wirken einsam – und ich sage: | |
„Sie könnten doch fragen, ob sie sich hinsetzen dürfen!“ Der Mann schütt… | |
den Kopf. | |
Ich mache wieder lauter. [1][Hyperpop: verfremdete Popmelodien, grotesk | |
hoch gepitchte Stimmen] und der „Amen Break“ als Schlagzeug, so | |
beschleunigt, dass es wie eine kurzgeschlossene Maschine klingt. | |
Musik, als würde ein ganzer Film in drei Sekunden zusammengeschnitten. Oder | |
wie hundert Reels, jeder mit einem anderen Gefühl. Ein Gefühl der warmen | |
Apokalypse: künstlich, dark und cute: mein Soundtrack der seltsamen | |
Gegenwart. | |
## Das Vertrauen der alten Männer | |
So wie jetzt gerade. In letzter Zeit passiert mir das öfter: Ältere Männer | |
vertrauen sich mir an. Sie haben immer denselben Sprechtakt: behaupten | |
geradeaus. Das ist rührend. | |
Womöglich wirke ich für sie als männlich gelesene Person mit den konformen | |
Sneakern wie ein letzter Strohhalm Normalität: Übersetzer zwischen | |
Generationen, die die Werte der anderen infrage stellen. | |
Ich stelle die Musik wieder lauter. Der Bus füllt sich noch mehr, ich falle | |
hin und her. Hyperpop hilft. Wenn ich seinen Bahnen folge, verstehe ich | |
mehr. Sein Sound befreit mich – und bereitet mich auf den Krieg vor. | |
Den Krieg, der vielleicht wirklich irgendwann kommt, wenn es so weitergeht. | |
Wenn Menschen weiterhin falsche Zusammenhänge erfinden und brüllen, statt | |
Fragen zu stellen. | |
## 50 Welten | |
Ich frage mich, ob der Mann im Bus anders wäre, wenn er je zu Hyperpop | |
getanzt hätte, zu den 50 Welten, die gleichzeitig aufeinanderprallen. | |
Ein paar Tage zuvor auf einer Bank in Berlin-Neukölln; anderer Ort – | |
derselbe Soundtrack. Ein älterer Mann geht vorbei. Er trägt lange graue | |
Haare, Lederweste und eine abgewetzte Jeans. Aus seinem Rucksack dröhnt | |
übertrieben laut „Blackbird“ [2][von den Beatles]. | |
Ich denke an meinen Stiefvater und an meine Mutter. Wie sie an ihn denkt. | |
Wie wir den Song auf seiner Beerdigung spielten. Aus der Box tönt seine | |
Vergangenheit: linearer Rhythmus statt Breakbeat. Ist der Mann eine | |
Inkarnation von ihm? Ist es ein Zeichen, dass seine Generation ausstirbt, | |
bis nur noch einzelne Verrückte übrig sind, die um 11.17 Uhr durch die | |
Stadt stolzieren? | |
Hyperpop bündelt Widersprüche. Rock sortiert – das kann auch geil sein. | |
Aber meine Welt ist mehr Chaos als Ordnung. Hyperpop macht das hörbar: | |
brutale Zusammenhänge einer undurchsichtigen Welt. Alles ist verbunden. Wir | |
sehen es nur oft nicht, weil wir blind gemacht worden sind – von Eltern, | |
Schule, Arbeit, Mächten. Aber jetzt ist keine Zeit für Systemkritik. | |
Jetzt ist Zeit, den „Amen Break“ zu feiern – und zu trauern. Mein | |
Stiefvater fand ihn unerträglich. Sein Takt war bestimmt von Rock ’n’ Roll, | |
der Feier der maskulinen Überschreitung, die uns immer noch regiert. Ich | |
vermisse dich, mein Lieber. Aber nicht die Welt, die dich gemacht hat. | |
14 Sep 2025 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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