| # taz.de -- Gedanken am Sterbebett: Weniger Abstand zwischen Leben und Tod | |
| > Über verkrampfte Begegnungen am Sterbebett, letzte Gedanken übers | |
| > Berghain und Gespräche mit geliebten Menschen, die schon im Jenseits | |
| > sind. | |
| Bild: Wie wäre es, den Tod als Fortsetzung des Lebens zu begreifen? | |
| Wie möchtest du sterben? Blöde Frage. Sie denkt das Leben vom Ende her. Wie | |
| wäre es, den [1][Tod] als Fortsetzung des Lebens zu begreifen? Und sich | |
| jetzt schon zu fragen: Was willst du gedacht haben auf deinem Sterbebett? | |
| Ich war in letzter Zeit öfter dort – am Sterbebett. Und jedes Mal stellte | |
| ich mir diese Frage. Würde ich denken: Wäre ich doch öfter im Büro gewesen? | |
| Im Mittelalter sind Leute monatelang gestorben. Wenn jemand im Sterben lag, | |
| wurde ein Schild aufgestellt und alle Verwandten kamen, um die Sterbenden | |
| zu verabschieden. Für sie war das ein Ritual. Etwas ganz Normales. | |
| Und heute? Keine Ahnung, [2][reisen gestresste Familienmitglieder aufwändig | |
| zum Hospiz und wissen dann nicht, was sie sagen sollen]. Haben ein | |
| schlechtes Gewissen. Realisieren, was sie alles verpasst haben. Was ihnen | |
| alles wichtiger war als die sabbernde Person, die sie hier zum letzten Mal | |
| sehen. Sind gelähmt von der Zeit, die sie überlistet hat. | |
| Stammeln sich was zusammen. Machen den Sterbenden das Sterben schwer, | |
| anstatt mit ihnen zu viben. Mit ihren letzten Gefühlen, wenn sie überhaupt | |
| noch welche haben. Die denken doch dann nicht: ich war zu wenig im Büro | |
| oder zu viel. Eher: War ich zu wenig im Berghain? Hätte ich mehr Beyoncé | |
| feiern sollen? Backpacking in Georgien machen? Oder aufhören, Missstände | |
| jenseits meines Einflusses zu enttarnen, als rituelle Symbolpolitik für das | |
| gute Gewissen? | |
| ## Sprechen mit den lieben Menschen im Jenseits | |
| Womöglich würden sie eher denken: Schwester, bitte absaugen. Oder: Bruder, | |
| bitte wechsel meine Windeln. Oder: Frau Doktor, bitte noch einen Schuss von | |
| diesem Zeug [3][gegen die Schmerzen.] Oder: Mein Schatz, hast du einen | |
| Parkplatz gefunden? Oder: Warum sind meine Besucher so furchtbar | |
| verkrampft, als müssten sie das Tragen der Schuld an allem Übel dieser Welt | |
| performen? | |
| Seltsam, dass ich mich fast genauso an das Sterben einer geliebten Person | |
| erinnere wie an ihr Leben. Es heißt, Trauer sei Liebe, die nicht weiß, wo | |
| sie hinsoll. Doch ich weiß genau, wo sie hinsoll: ins Leben, ins fucking | |
| Leben. | |
| Ich finde, zwischen Leben und Tod sollte es viel weniger Abstand geben. | |
| Manchmal habe ich das Gefühl, Sterben ist kein Übergang, es ist immer da. | |
| Läuft im Hintergrund, wie ein Betriebssystem im Ruhemodus, still, aber | |
| immer bereit. | |
| Deshalb spreche ich manchmal mit den lieben Menschen, die ich jüngst | |
| verloren habe. Wie ist es bei dir? Vermisst du mich? Vermisst du dich? Hast | |
| du aufgehört, du zu sein? Wie ist es, ein Kompromiss zu sein aus allen, die | |
| dich kannten? Seitdem du weg bist, fühle ich alles. Alles, was du dich zu | |
| fühlen nie getraut hast, weil dein Nachkriegskörper erzogen wurde zu einem | |
| Panzer gegen die Welt. | |
| ## Was hast du damals gedacht? | |
| Ich bin von allem berührt, selbst von diesem Hund auf der Straße, der | |
| zufällig mein Bein streift. Oder dem Menschen im Supermarkt, der genauso | |
| geht wie du. | |
| Und du so, du schöner toter Mensch? Was hast du gedacht auf dem Sterbebett, | |
| als ich dich anlächelte, während ich gequält versuchte, nicht zu weinen? | |
| Was, findest du, soll ich dort gedacht haben? | |
| Vielleicht das, was ich schon jetzt ahne: Ich war alles, was mir begegnete | |
| – auch ihr, auch dieser Text hier, auch die Lüge, dass am Ende alles Sinn | |
| ergibt. Keine binäre Erlösungsfantasie nötig. Änderungswünsche nehme ich | |
| nicht mehr an. Küsse und bis bald. | |
| 11 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
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