| # taz.de -- Lesen, bis der Schlaf kommt: Die lange Buchnacht | |
| > In einer kleinen Buchhandlung in Buxtehude lässt sich eine Übernachtung | |
| > inklusive Frühstück buchen. Die Nachfrage ist groß. Ein Selbstversuch. | |
| Bild: Bücher, Bücher, ein ganzer Laden voller Bücher | |
| Und was führt euch nach Buxtehude?“, fragt der Fahrer, bei dem wir eine | |
| Mitfahrgelegenheit von Berlin nach Hamburg gebucht haben. „Wir übernachten | |
| in einer Buchhandlung.“ „In einer Buchhandlung?“, fragt er, wenig | |
| beeindruckt, „und was gibt’s da – eine Lesung oder so?“ „Nee, keine L… | |
| Nur uns, zu zweit, unter tausend Büchern.“ „Wie?!“, fragt er – nun | |
| sichtlich verwirrt. | |
| „Ihr seid da alleine?!“ „Ja“, sage ich, „das kann man buchen: Für ei… | |
| Nacht hast du die gesamte Buchhandlung nur für dich. „Waaaaaas?!“, ruft er | |
| und lacht hysterisch, „das ist ja mal ’ne geniale Idee! Ich schaff’s | |
| nämlich nie, mir mal in Ruhe neue Bücher anzuschauen. Aber so findet man ja | |
| vielleicht auch was, von dem man noch gar nicht wusste, dass man es mag.“ | |
| Das ist der Plan, denke ich: die ganze Nacht lang wild durcheinander lesen, | |
| ohne dabei von irgendjemandem gestört zu werden. Ein Kindheitstraum, nicht | |
| nur von Bastian in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“. Mit der | |
| S-Bahn am Bahnhof in Buxtehude angekommen, gehen wir immer geradeaus in | |
| Richtung Altstadt: „Die Kirchturmspitze der Sankt-Petri-Kirche können Sie | |
| nicht verfehlen“, erklärt uns ein Mann auf einem E-Scooter, ehe er | |
| weiterbraust. | |
| ## Wo Michael Ende den Bullen gewonnen hat | |
| In Erwartung der prächtigen Fachwerkhäuser, die auf Google zu sehen waren, | |
| bleibt mein Blick unerwartet am Boden hängen: Auf dem „Buxtehuder | |
| Bullevard“ informieren Messingplatten über die Gewinnertitel des | |
| „Buxtehuder Bullen“, [1][dem bekannten Jugendbuchpreis der Stadt]. 1979, so | |
| steht da, hat Michael Ende den Bullen gewonnen. | |
| In der Zwischenzeit taucht vor uns die mittelalterlich anmutende Buxtehuder | |
| Altstadt auf. Wir lassen die Fußgängerzone [2][mit der Statue von Hase und | |
| Igel] – die Geschichte spielt hier – fürs Erste links liegen, biegen in die | |
| Ritterstraße ein: Das Logo der Buchhandlung ist bereits von Weitem zu | |
| erkennen: „Schwarz auf Weiß“. Im Schaufenster hängt gut sichtbar ein | |
| Zettel: „Hier wird heute übernachtet!“ | |
| Auf die Möglichkeit einer Nacht unter tausend Büchern bin ich vor einem | |
| Jahr aufmerksam geworden: In meinem Instagram-Feed war eine | |
| Bücherübernachtungsparty in einem Thalia-Store aufgeploppt. Ich googelte, | |
| ob auch unabhängige Buchhandlungen eine derartige Möglichkeit anböten und | |
| stieß auf die Buchhandlung in Buxtehude, in der man schon seit 20 Jahren | |
| die Nacht durchlesen kann: 95 Euro pro Person kostet dieses einmalige | |
| Vergnügen und beinhaltet einen Büchergutschein in Höhe von 15 Euro sowie | |
| einen Frühstücksgutschein für den Morgen danach in einem kooperierenden | |
| Café im Wert von 12 Euro 50. | |
| Als wir die Buchhandlung betreten, ist das Abendgeschäft in vollem Gang und | |
| ein scharfer Geruch von Räucherstäbchen liegt in der Luft. Sämtliche Bücher | |
| stehen mit der Coverfront in den Regalen und blicken ihre zukünftigen | |
| Leser:innen unverwandt an. Ich stelle mich hinter dem Kunden, den | |
| Inhaberin Tanja Drecke gerade mit Namen begrüßt, an der Kasse an und | |
| flüstere, sobald ich an der Reihe bin, mit trockener Kehle: „Guten Tag, wir | |
| übernachten heute hier …“ | |
| ## Funkeln in den Augen | |
| Das Schönste sei das Funkeln in den Augen der Gäste, wenn sie ihnen den | |
| Schlüssel überreiche, erzählt Tanja Drecke, deren Laufbahn als | |
| Buchhändlerin mit einer Übernachtung in der Schwarz-auf-Weiß-Buchhandlung | |
| begann: So sei sie mit der früheren Inhaberin Zenita Ahrens ins Gespräch | |
| gekommen und habe die Pflege des Blogs und der Social-Media-Accounts der | |
| Buchhandlung übernommen. Als die Buchhandlung dann im Jahr 2020 verkauft | |
| werden sollte, ergriff Tanja Drecke ihre Chance: „Die beste Entscheidung | |
| meines Lebens.“ | |
| Die Übernachtungen am Wochenende seien schon immer ein lukratives | |
| Zusatzgeschäft gewesen, hätten seit Corona jedoch nochmals einen Aufschwung | |
| erlebt: „Materiell haben die meisten von uns ausgesorgt. Und am Ende werden | |
| wir uns wahrscheinlich eher an Momente als an unser Sparkonto erinnern“, | |
| sagt Tanja Drecke. Für 2026 seien sie vollkommen ausgebucht und schalteten | |
| nun die Termine für 2027 frei. Die morgigen Gäste würden mittlerweile das | |
| elfte Jahr in Folge auf dem Matratzenlager neben der Kinder- und | |
| Jugendbuchecke heimisch. Auch Hunde seien willkommen, und sogar eine | |
| Hochzeitsnacht hätte die Buchhandlung schon erlebt. | |
| Ohnehin, sagt Tanja Drecke, sei Buxtehude eine Lesestadt, es gebe vier | |
| unabhängige Buchhandlungen bei 40.000 Einwohnern. Zusätzlich zum | |
| Jugendbuchpreis „Buxtehuder Bulle“ hat sich seit 2023 der Kongress für | |
| Kinderbuchillustration „Bunte Hunte“ in Buxtehude etabliert: Der | |
| dazugehörige „Carl-Buch-Preis“ zeichnet die von Kindern ausersehene, beste | |
| Kinderbuchcover-Illustration aus. „Also, ich sage immer: Wir sind hier noch | |
| so ein bisschen eine Insel der Glücklichen“, sagt Tanja Drecke und | |
| überreicht den Schlüssel. Um halb acht dürfen wir wiederkommen. | |
| Bis dahin schauen uns die noch mal die Altstadt an, das historische | |
| Rathaus, den Marktplatz, den Fleth-Kanal, wo Buxtehude aussieht wie | |
| Amsterdam. Von Zeit zu Zeit befühle ich nervös meine Jackentasche: Ist der | |
| Schlüssel noch da? | |
| Als wir zur Buchhandlung zurückkommen, sind die Lichter aus und die | |
| Schaufenster von innen mit einem Vorhang zugehängt. Nur hinten im Laden | |
| leuchtet eine Leselampe: unser Leseplatz. Er besteht aus einer Matratze, | |
| zwei Lesesesseln, einem Beistelltisch, auf dem Wasser und je zwei Gugelhupf | |
| mit Leseeulen-Logo angerichtet sind. Im Lagerraum probieren wir die vier | |
| Schalter für die variierbaren Lichtmomente aus. „Wow“, hauche ich. „Kann… | |
| du’s glauben?!“ „Wie in den ‚Nachts im Museum‘-Filmen“, sagt mein F… | |
| „Nur besser“, antworte ich, „weil wir in einer Buchhandlung sind.“ | |
| Im Dämmerlicht beginne ich meinen ersten Schnupperrundgang. Die ikonische | |
| Aufmachung der [3][Graphic Novel „Lagerfeld“] ruft: „Nimm mich in die | |
| Hand.“ Und auch die Fortsetzung des Lieblingsdetektivs meiner Kindheit | |
| „Justus Jonas“ landet auf meinem Buchstapel. | |
| Mein Blick schweift weiter, von Wolf Haas „Wackelkontakt“ zu [4][Hengameh | |
| Yaghoobifarahs „Schwindel“], wobei mir selbst ein wenig schwindelig wird, | |
| im Angesicht all meiner Aussichten: Ich könnte siebzehn erste Sätze lesen | |
| und den schönsten auswählen. Ein Buch aus dem Regal ziehen und nur den | |
| allerletzten Satz lesen. In einem Klassiker die Seite 111 aufsuchen, für | |
| die es in Frankreich sogar einen Literaturpreis gibt (den „Prix de la Page | |
| 111“). Oder den verlockendsten Titel küren: „Witches, Bitches, It-Girls“, | |
| ohne Frage, er liegt auch im Abholfach im Hinterzimmer im Dutzend bereit. | |
| ## Von Lese-Fomo erfasst | |
| Auf meinen ersten Streifzug folgen im Laufe der Nacht viele weitere: eine | |
| regelrechte „Lese-fomo“ erfasst mich, die ganze Nacht über plagt mich der | |
| Gedanke, das eine, beste, genau richtige Buch für mich womöglich zu | |
| verpassen. Erschöpft von der unendlichen Auswahl lasse ich mich in den | |
| Minisessel der Kinderleseecke fallen und greife zum nächstliegenden Buch: | |
| „Abenteuer im Mumintal“, das Lieblingsbuch meiner Kindheit, hat auch nach | |
| mehr als 20 Jahren nichts von seinem Charme verloren. Ich mache ein Foto | |
| und schicke es meiner Schwester, die gerade ihren Töchtern aus dem Mumintal | |
| vorliest. | |
| „Du würdest am liebsten hier einziehen, oder?“, fragt mein Freund, der in | |
| einer Biografie über Nawalny vertieft ist. „Aber nur nachts“, antworte ich. | |
| So sitzen wir bis weit nach Mitternacht, stoßen mit dem mitgebrachten | |
| Piccolo an, wandern irgendwann auf die Matratze ab und stören den anderen, | |
| indem wir ständig laut und ungefragt aus unseren Büchern vorlesen. „Wirst | |
| du nicht langsam müde?“, fragt mein Freund gegen halb drei Uhr nachts. Er | |
| liegt inzwischen mehr, als dass er liest. | |
| Ich will nicht schlafen, muss aber inzwischen auch zum dritten Mal bei | |
| derselben Seite ansetzen. „Na gut, aber nur, wenn du mir eine | |
| Gute-Nacht-Geschichte vorliest.“ Schlaftrunken greift mein Freund ins | |
| Kinderbuchregal und liest mir aus „Der Wortschatz“ vor: „pudelwohl, | |
| herbstverhangen, waldbodenweich, stillverliebt, herzensgut, | |
| frühlingsfrisch, herzerwärmend.“ | |
| Wir schlummern ein, bis mich gegen fünf Uhr früh etwas aufschrecken lässt: | |
| Jemand schließt die Buchhandlung auf. Mein Freund neben mir schnarcht | |
| unbesorgt. Ach ja, ich wurde vorgewarnt: Die neuen Bücherkisten kommen | |
| mitten in der Nacht an. Ich lausche den schnellen Schritten und halte den | |
| Atem an, dabei weiß der oder die Unbekannte bestimmt ohnehin von uns. | |
| Nachdem die gute Buchfee fort ist, koche ich mir in der kleinen Küche Tee | |
| und mache es mir auf meinem Lieblingslesesessel in der Kinderecke | |
| gemütlich. „Die Tätowierungen auf meiner linken Gesichtshälfte“, erzählt | |
| dort ein in Neuseeland lebender Junge der Ngāti Hau im wundervoll | |
| illustrierten Kinderbuch „Origins. Indigene Kulturen der Welt“, „haben mit | |
| der Geschichte meines Vaters zu tun, die auf der rechten mit der meiner | |
| Mutter. Die Hauptlinien, Manawa oder Herz genannt, stellen meinen Lebensweg | |
| dar. Und weil es keine zwei identischen Leben gibt, gibt es auch keine zwei | |
| Ngāti Hau mit derselben Tätowierung.“ | |
| Auch jede Buchnacht ist wahrscheinlich anders, denke ich und stehe wieder | |
| auf, denn „ARBEITEN“ in Großbuchstaben, geschrieben von Heike Geißler, | |
| sticht mir ins Auge. Mir bleiben noch drei Stunden, bis die | |
| Buchhändlerinnen kommen. Wann war meine letzte durchlesene Nacht? Lange ist | |
| sie her, es war 2019, als ich Zadie Smith „Swing Time“ in einem Rutsch | |
| verschlang. | |
| Je älter ich werde, desto seltener werden die durchschmökerten Nächte. Als | |
| die Buchhändlerinnen um neun Uhr morgens durch den Hintereingang kommen, | |
| fühle ich mich wieder wie ein Kind, das von seiner Mutter wieder mal zu | |
| früh vom Spielen mit Freunden oder einer Geburtstagsparty abgeholt wird. | |
| Und fast will ich schreien: „Ich will aber noch nicht nach Hause!“ Das Gute | |
| ist: Ich kann ja wiederkommen. | |
| 20 Sep 2025 | |
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| Marielle Kreienborg | |
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