| # taz.de -- Geschichte eines Fotos: Der tote Junge am Strand | |
| > Wann sprechen Leidensdarstellungen zu uns? Ein Essay über das Foto von | |
| > Alan Kurdi, das vor zehn Jahren Empathie und Solidarität auslöste. | |
| Bild: Alan Kurdi (4. Mai 2012–2. September 2015) | |
| Vor zehn Jahren, am 2. September 2015, ertrank Alan Kurdi im Mittelmeer. | |
| Das Foto des toten Dreijährigen, der an den türkischen Strand bei Bodrum | |
| gespült wurde, ging um die Welt. Die türkische Fotografin [1][Nilüfer | |
| Demir] hatte ihn auf dem Bauch liegend, als würde er schlafen, aufgenommen, | |
| das Gesicht von der Kamera abgewandt, in rotem T-Shirt und blauer Hose vor | |
| einer sich aufbäumenden Welle. Auch den Gegenschuss fotografierte sie, in | |
| dem das Gesicht teilweise sichtbar war, und wie der Junge von einem | |
| türkischen Polizisten vom Strand getragen wurde. | |
| Es sind Bilder der Unschuld, die vermeintlich eindeutig das Versagen der | |
| europäischen Flüchtlingspolitik symbolisierten und die sich als | |
| Erinnerungsort für den Startschuss einer enormen Hilfsbereitschaft in die | |
| Geschichte eingeschrieben haben. | |
| Fotografien entfalten aber nur eine Wirkung, wenn ein Resonanzboden bereits | |
| gelegt ist, und so war es auch bei diesen Aufnahmen. In Deutschland hatten | |
| andere Bilder das Feld bereits bestellt: wütende Mobs, die Geflüchtete in | |
| den sächsischen Städten Heidenau und Freital begrüßten und in Joachim | |
| Gaucks Worten [2][„Dunkeldeutschland“] versinnbildlichten. | |
| Auch in Reaktion darauf entwickelte sich „Willkommenskultur“ zu einem | |
| politischen Schlagwort, das durch bereits bestehende Hilfsnetzwerke und | |
| Praktiken zum Leben erweckt werden konnte und einen deutlichen Schub durch | |
| Angela Merkels [3][„Wir schaffen das“-Rede] vom 31. August erhielt. Die | |
| Bilder von Alan Kurdi, aber auch die kurz zuvor verbreiteten Fotografien | |
| von 71 erstickten Geflüchteten in einem Kühllaster bei Wien mobilisierten | |
| zur Hilfe durch die Empathie, die sie erzeugten. | |
| ## Verdichtung einer Erzählung | |
| Leidensbilder lösen aber nicht automatisch Mitgefühl aus. Das passiert | |
| etwa, wenn sich in ihnen bestehende Ungerechtigkeitserzählungen verdichten | |
| und sie sich in eindeutige Täter-Opfer-Muster einfügen. Alan Kurdis | |
| kurdische Familie war vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen, der | |
| weitgehend als Konflikt zwischen einer freiheitsliebenden demokratischen | |
| Bevölkerung auf der einen Seite und dem brutalen Diktator Baschar al-Assad | |
| beziehungsweise dem Terror des „Islamischen Staats“ auf der anderen Seite | |
| wahrgenommen wurde. Wirksame Leidensfotografien tasten aber häufig auch | |
| moralische Grenzen an. | |
| Sowohl Medien, die das Bild druckten, als auch solche, die es vermieden | |
| oder es verpixelten, begründeten ihre Motive ausführlich. Die Bild-Zeitung | |
| rechtfertigte nachträglich den Abdruck des Bildes mit dem journalistischen | |
| Stunt, am 8. September in der Printausgabe auf Fotos zu verzichten, um sich | |
| vor ihrer „Kraft zu verneigen“. Dabei war es nicht immer die Würde des | |
| Toten, wie Julian Reichelt in seinem Editorial vermutete, die andere Medien | |
| von der Publikation abhielt. Die Süddeutsche Zeitung wollte ihrer | |
| Leserschaft „das Bild eines toten Kindes zum Frühstück“ nicht zumuten. | |
| Was in dieser zeitgenössischen Debatte unterging, war, darauf hatte Susan | |
| Sontag bereits 2003 in ihrem Buch „Das Leiden anderer betrachten“ | |
| hingewiesen, dass die ethischen Grenzen des Zeigbaren meist anhand der | |
| Darstellung von Menschen ausgelotet werden, die „besonders fremdartig | |
| wirken“. Oder anders gesagt, tote deutsche Kleinkinder würden deutlich | |
| schwerer den Weg auf die Titelseiten finden. | |
| Alan Kurdi war nicht Teil eines gemeinsamen Wir, er symbolisierte den | |
| hilflosen Geflüchteten. Und das ist wiederum auch ein wiederkehrendes Motiv | |
| von Leidensdarstellungen, die zur Empathie einladen: Sie sprechen die | |
| Betrachtenden [4][als potenzielle Retter:innen] an. Für Alan Kurdi kam | |
| die Hilfe zu spät, aber da er nicht nur einen individuellen Fall | |
| darstellte, sondern einen Typus repräsentierte, setzte der Anblick die | |
| empathische Imaginationsmaschine in Gang, die Beobachtende in Helfende zu | |
| transformieren vermag. | |
| Nur wenige Tage später entschieden Angela Merkel und der österreichische | |
| Bundeskanzler Werner Faymann, die Grenze zu Ungarn für Geflüchtete offen zu | |
| lassen. Millionen Menschen engagierten sich daraufhin für die | |
| Neuankömmlinge in Deutschland. | |
| ## Ist nur Polarisierung geblieben? | |
| Die Fotos waren nicht die Auslöser dafür, sondern eher ein weiteres | |
| Antriebsmoment. Die in Hilfe übersetzte Empathie schuf ein | |
| Gemeinschaftsgefühl, das sich in „Willkommenskultur“ einen Begriff von sich | |
| selbst machte. Das wirkt heute wie eine Episode aus einer anderen, besseren | |
| Zeit. Das Ausmaß der Solidarität mit Geflüchteten war 2015 präzedenzlos, | |
| aber ob es wirklich aus der Zeit gefallen ist? | |
| Wie die Proteste in Sachsen – Pegida „spazierte“ im Spätsommer 2015 | |
| übrigens auch schon fast ein Jahr wöchentlich auf den Dresdner Straßen – | |
| zeigen, gab es damals auch schon verschiedene Positionen zur | |
| Flüchtlingspolitik, die sich auch in verschiedenen | |
| Gesellschaftsimaginationen äußerten. Heute ist davon nur noch | |
| Polarisierung als gesellschaftliche Selbstbeschreibung übrig geblieben, die | |
| weder Gemeinschaft stiften kann noch solidarische Praxis. Das wird sich | |
| auch nicht einfach durch ein neues Leitbild ändern lassen. | |
| Willkommenskultur entfachte als gesellschaftliches Selbstverständnis seine | |
| Wirkung, weil es durch Praktiken und empathische Haltungen mit Leben | |
| gefüllt wurde, die selbst von Mitgliedern der Regierung und Teilen der Bild | |
| geteilt wurden. Dass dafür weiterhin ein großes Potenzial besteht, zeigte | |
| sich Anfang letzten Jahres, als bei den größten Demonstrationen, die die | |
| Bundesrepublik je gesehen hat, Millionen von Menschen gegen Rechtsruck und | |
| für eine humanere Politik auf die Straßen gegangen sind, allerdings führte | |
| das nicht dazu, dass Medien, Politik und Zivilgesellschaft eine gemeinsame | |
| Vorstellung von sich entwickeln konnten. Daran wird deutlich, worin sich | |
| die Gegenwart von der Welt von gestern unterscheidet. | |
| 2 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Florian Hannig | |
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