| # taz.de -- Doppelausstellung zu William Kentridge: In diesen heil’gen Hallen… | |
| > Der südafrikanische Künstler William Kentridge wird 70. Das Folkwang | |
| > Museum in Essen und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden würdigen sein | |
| > Werk. | |
| Bild: William Kentridge, „I Look in the Mirror, I Know What I Need“, 2024 | |
| Vielleicht ist das ja doch ein großer Irrtum, diese Idee, dass Kunst | |
| möglichst nah dran sein muss, um zu wirken. Vielleicht ist ja doch die | |
| Distanz der wirksamere Katalysator, ja sogar der einzig wirklich taugliche | |
| Brandbeschleuniger, der Kopf und Herz zuverlässiger entzündet, als die | |
| klebrig sich andienende Nähe zum Publikum, zum Alltag, zur eigenen | |
| Erlebniswelt. | |
| Vor 15 Jahren gastierte William Kentridge beim Wander-Festival „Theater der | |
| Welt“, das damals im Ruhrgebiet stattfand, mit einem Puppenspiel: Claudio | |
| Monteverdis frühbarocke Oper „Il ritorno d’Ulisse in patria“ hatte er mit | |
| den Stabpuppen der Kapstadter Handspring Puppet Company in Szene gesetzt. | |
| Den Hintergrund des Puppenspiels bildete ein Film, der mit archaischen | |
| Mitteln arbeitet. Jedes einzelne Bild seiner Clips zeichnet er von Hand mit | |
| Kohle oder Pastellfarben. Die singenden Akteure bewegten die Stabpuppen | |
| selbst und nahmen keinerlei Kontakt mit dem Publikum auf. Ein Abend von | |
| maximaler Künstlichkeit und purer Theatermagie, berührend und bewegend. | |
| Nun ist Kentridge zurück im Ruhrgebiet mit der ersten Station der vier | |
| Ausstellungen, die sein universelles Schaffen anlässlich seines 70. | |
| Geburtstags Revue passieren lassen. Ein Schaffen, das seine großen Themen | |
| früh gefunden hat und damit seiner Zeit voraus war und ihr zugleich völlig | |
| enthoben scheint. Denn es hat sich stets allen Moden verweigert und sich | |
| trotz seines entschiedenen politischen Engagements nie in die Untiefen des | |
| lärmend-rechthaberischen Aktivismus verirrt. | |
| ## Die großen Menschheitsthemen | |
| William Kentridge wuchs als privilegierter Weißer mit litauisch-jüdischen | |
| Wurzeln unter dem Apartheitregime in Südafrika auf. Seine Eltern waren | |
| prominente Anwälte, sie vertraten unter anderem den ehemaligen Präsidenten | |
| Südafrikas, Nelson Mandela. Kentridge studierte in Südafrika und Europa, | |
| unter anderem Politik und Afrikanistik. Seine [1][Themen als Künstler | |
| spiegeln seine Herkunft], bis heute kreist sein Schaffen um Rassismus, | |
| Ausbeutung und Ungerechtigkeit, um die Mechanismen repressiver Systeme, um | |
| Flucht, Schuld und Vergebung, Menschlichkeit und Gemeinschaft. Kurzum, um | |
| die großen Menschheitsthemen und ihre Echokammern in der Kunst. Denn | |
| Kentridge arbeitet immer auch mit Verweisen auf die Kunstgeschichte, nicht | |
| zuletzt durch die eigene, altmeisterliche Zeichenkunst, aber auch die | |
| Bezüge zur Geschichte der bewegten Bilder, zum Comic und zur Theaterkunst, | |
| die mit Verfremdungseffekten stets die erhellende Distanz der | |
| Guckkastenbühne wahrt. | |
| Eines der ästhetischen Markenzeichen von Kentridges Arbeit ist der | |
| Schalltrichter auf einem Dreifuß, mal Megafon, mal Grammofontrichter, mal | |
| Schallverstärker, mal Lauschgerät. „Listen to the Echo“ lautet der den | |
| Westen mit dem Osten der Republik vereinende Titel der Megaausstellung, | |
| deren Auftakt das Essener Museum Folkwang bildet. | |
| Rund 160 Exponate aus fünf Jahrzehnten umspannen hier sein gesamtes | |
| Schaffen, die Auswahl der Arbeiten nimmt – wie auch in Dresden – bewusst | |
| Bezug auf die Geschichte des Ausstellungsorts. Essen ist wie Johannesburg | |
| eine ehemalige Bergbaustadt, hier ging es um Kohle, dort um Gold, und auch | |
| für Kentridges Lebensthema der Auseinandersetzung mit der kolonialen | |
| Geschichte gibt es in Essen einen Anknüpfungspunkt, war es doch der Essener | |
| Baedeker-Verlag, der einst das „Jahrbuch über die deutschen Kolonien“ | |
| herausgab. | |
| ## Virtuos eingesetzte Tonspuren in Filmarbeiten | |
| In der komprimierten Essener Schau sind alle Genres von Kentridges breitem | |
| Schaffen vertreten: Zeichnungen, animierte Filme, Druckgrafiken, | |
| Skulpturen, Tapisserien und Mehrkanal-Filminstallationen. Seine Filme mixen | |
| auf einzigartige Weise Elemente von Spielfilm-, Dokumentar- und | |
| Experimentalfilm, immer aber bleibt die schwarz-weiße Zeichnung die | |
| Grundlage seiner Kunst; bei den Filmarbeiten spielen zudem stets virtuos | |
| eingesetzte Tonspuren mit suggestiv eingesetzter Musik eine entscheidende | |
| Rolle. | |
| Zu sehen sind unter anderem vier Filme der Serie „Drawings for Projection“, | |
| die zwischen 1991 und 2020 entstanden. In ihnen verknüpft Kentridge | |
| Gegenwart und Vergangenheit Südafrikas, wie etwa den Aufstieg und Fall von | |
| Johannesburg, das nach den Goldfunden im späten 19. Jahrhundert als | |
| Minenstadt einen ähnlichen Boom erlebte wie das Ruhrgebiet, beinahe | |
| zeitgleich. Jede der animierten Sequenzen beruht auf einer Kohlezeichnung, | |
| die Kentridge mit der Kamera festhält. | |
| Danach verändert er die Zeichnung und die nächste Aufnahme entsteht, es | |
| folgen immer weitere Veränderungen durch Zufügen oder Löschen, wobei der | |
| vorherige Zustand teilweise sichtbar bleibt, wie ein Schatten – oder Echo – | |
| des vergangenen Zustands. Die Filme entwickeln eine ganz eigene, poetische | |
| Sprache, die zwischen Melancholie und leiser Komik oszilliert und auch das | |
| Groteske nicht scheut. | |
| Imposant ist der große Saal unter dem Übertitel „Porter“ mit 15 | |
| Tapisserien. Die zeigen expressive schwarze Schattenrissfiguren vor dem | |
| Hintergrund von historischen europäischen Landkarten des 19. Jahrhunderts. | |
| Das Arrangement veranschaulicht Kentridges kollaborative Arbeitsweise, denn | |
| es zeigt die vergleichsweise winzige Vorlage des Künstlers mit gerissenem | |
| Papier und dahinter die riesigen Tapisserien an der Wand, die durch | |
| Übertragung von Hand auf großen Webstühlen in einer Werkstatt in der Nähe | |
| von Johannesburg gefertigt wurden. Den Titel „Porter“ verdankt der Saal den | |
| dargestellten Menschen. Sie tragen und ziehen die Lasten. Sinnfällige | |
| Bilder für Migrationsbewegungen. | |
| ## Erinnerung an Verbrechen im heutigen Namibia | |
| Von fast peinigender Dringlichkeit ist „Black Box /Chambre Noire“. Eine | |
| Arbeit, die an die Niederschlagung des Aufstands der Herero und Nama 1904 | |
| in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia erinnert: Das mechanische | |
| Figurentheater auf einer Art winziger Jahrmarktbühne stellt historische | |
| Zeugnisse [2][dieses Völkermords] Zeichnungen und Animationen von Kentridge | |
| gegenüber. Dazu erklingt, balsamisch gesungen, die Arie des Sarastro aus | |
| Mozarts „Zauberflöte“, eine Ikone der Aufklärungsutopie: In diesen heil�… | |
| Hallen kennt man die Rache nicht.“ Das geht unter die Haut. | |
| In Dresden verteilt sich die Kentridge-Ausstellung auf gleich drei Museen: | |
| Im Albertinum stehen zwei Filminstallationen im Mittelpunkt, das | |
| Kupferstich-Kabinett im Residenzschloss stellt [3][das druckgrafische Werk] | |
| Kentridges historischen Kupferstichen gegenüber, unter anderem von Albrecht | |
| Dürer und Francisco de Goya. Und in der Puppentheatersammlung im Kraftwerk | |
| Mitte hat das „Centre for the Less Good Idea“ aus Johannesburg eine | |
| Ausstellung erarbeitet, die das Puppen-Universum von Kentridge mit den | |
| historischen Objekten der Sammlung ins Gespräch bringt. | |
| Den roten Faden der Dresdner Ausstellungen bildet [4][das Phänomen der | |
| Prozession], vom Festumzug über den Aufmarsch bis hin zur Demonstration. | |
| Die Prozession spielt sowohl in Kentridges Werk als auch in der Stadt | |
| Dresden eine wichtige Rolle. Jeder Dresden-Tourist wird am monumentalen | |
| Fürstenzug nahe der Frauenkirche vorbeigeführt, der aus 23.000 Kacheln aus | |
| Meißner Porzellan besteht und die Ahnengalerie der sächsischen Markgrafen, | |
| Herzöge, Kurfürsten und Könige zeigt. | |
| ## Monumentale Filminstallationen | |
| Wilhelm Walters maßstabgerechte Vorzeichnungen dieses größten | |
| Porzellanwandbildes der Welt stehen nun in der Ausstellung zwei | |
| monumentalen Filminstallationen Kentridges gegenüber: „More Sweetly Play | |
| the Dance“ von 2015 und „Oh to Believe in Another World“ von 2022, die | |
| jeweils etwa 15 Minuten dauern. | |
| Die erste zeigt eine Prozession von Schattenfiguren zu den Klängen einer | |
| Brass-Band, deren tanzende Skelette an mittelalterliche Totentänze | |
| erinnern. Die zweite ist sozusagen ein visuelles Echo auf Dmitri | |
| Schostakowitschs 10. Sinfonie, die als kaum kaschierte Abrechnung des | |
| Komponisten mit Stalin gilt. Kentridge wiederum verweist in einem | |
| atemberaubenden Mix der Mittel von historischen Filmschnipseln bis zu | |
| bizarrem Puppentheater nicht nur auf den beklemmenden Sog der Geschichte. | |
| Er macht auch auf die janusköpfige Ambivalenz des Komponisten aufmerksam, | |
| der sich mit dem Regime arrangierte, unter dem er litt, und seine zwischen | |
| Affirmation und Kritik schillernde Haltung, die nicht ausdiskutiert ist. | |
| Eine überwältigende Arbeit, subtil und hoch musikalisch komponiert. Allein | |
| dafür lohnt die Reise. | |
| 11 Sep 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Verhaeltnis-zwischen-Suedafrika-und-Israel/!6002759 | |
| [2] /Buch-ueber-deutsche-Kolonialgeschichte/!6048009 | |
| [3] /Vergessene-Kuenstlerinnen/!5922424 | |
| [4] /Christinnen-in-Gaza-zum-Osterfest/!6079246 | |
| ## AUTOREN | |
| Regine Müller | |
| ## TAGS | |
| Ausstellung | |
| Film | |
| Dresden | |
| Essen | |
| Südafrika | |
| Malerei | |
| Stiftung Preußischer Kulturbesitz | |
| Museum | |
| zeitgenössische Kunst | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Marion Ackermann und die Preußenstiftung: Wohin steuert das schwere Kulturschi… | |
| Hermann Parzinger geht als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, | |
| Marion Ackermann kommt und zwischendurch wird die Berliner Museumsinsel | |
| gefeiert. | |
| 100 Jahre Museum Folkwang in Essen: Vordenker der kulturellen Teilhabe | |
| Das Museum Folkwang in Essen feiert sein 100-jähriges Bestehen mit | |
| impressionistischer Kunst. Es zeigt zwei verblüffend aktuelle | |
| Sammlungskonzepte. | |
| Afrikanische Kunst: Ein ganzer Kontinent in einem Haus | |
| In Kapstadt präsentieren drei weiße Männer zeitgenössische Kunst aus | |
| Afrika. Eine große Schau, aber schwarze Besucher bleiben vorerst aus. |