# taz.de -- Goldener Löwe in Venedig: Wenn leise Töne siegen | |
> Die 82. Filmfestspiele von Venedig gehen mit dem Goldenen Löwen für Jim | |
> Jarmusch zu Ende. Bei der Preisverleihung gab es viele Stimmen für Gaza. | |
Bild: Lässig mit Löwe: Jim Jarmusch und sein Hauptpreis | |
Oh, shit.“ Der Regisseur Jim Jarmusch weiß auch mit 72 Jahren noch, wie man | |
einen lässigen Auftritt absolviert. Als er bei der Preisverleihung der 82. | |
Filmfestspiele von Venedig ans Mikrofon trat, um sich für den Goldenen | |
Löwen zu bedanken, den er für seinen Film „Father Mother Sister Brother“ | |
erhalten hatte, waren das seine ersten Worte. | |
Ein bisschen kalkulierte Coolness mag dabei im Spiel gewesen, doch passte | |
sein wenig geschönter Ausdruck der Überraschung gut zur allgemeinen | |
Stimmung, die diesen Preis begleitete. | |
Dass jemand im Vorfeld mit dem Goldenen Löwen für Jarmuschs elegant | |
lakonisches Spätwerk groß gerechnet hätte, lässt sich jedenfalls nicht | |
behaupten. [1][„Father Mother Sister Brother“, ein Episodenfilm], der | |
wechselnde Familienkonstellationen zeigt, in denen die Beteiligten oft sehr | |
witzig aneinander vorbeireden, hat etwas von einer Summa, in der Jarmusch | |
einige seiner Lieblingsmittel zusammenfasst. | |
Neben der episodischen Form arbeitet er auch diesmal viel mit | |
Wiederholungen. Einzelne Sätze tauchen regelmäßig in leichten Variationen | |
auf, immer wieder gibt es Szenen, in denen Skateboarder durchs Bild fahren | |
oder jemand mit einem Hund an der Leine vorübergeht. | |
Würdigung der Lebensleistung | |
Mit diesem Preis scheint zugleich die Lebensleistung Jarmuschs gewürdigt | |
worden zu sein, ähnlich dem [2][Goldenen Löwen für Pedro Almodóvars „The | |
Room Next Door“] im vergangenen Jahr. In beiden Fällen lässt sich zudem | |
sagen, dass es nicht die stärksten Filme der Regisseure sind. Eine falsche | |
Entscheidung ist dies zwar nicht, doch bleibt ein Bedauern, dass andere | |
Mitbewerber für ihre Ideen zum Teil gar nicht oder kaum gewürdigt wurden. | |
So gab es kurz vor Abschluss des Wettbewerbs mit Ildikó Enyedis „Silent | |
Friend“ einen Höhepunkt, der ähnlich still erzählt war wie Jarmuschs Film, | |
dafür jedoch ganz andere Wege ging. Die ungarische Regisseurin, die | |
[3][2017 mit ihrem ungewöhnlichen Liebesfilm „Körper und Seele“ den | |
Goldenen Bären der Berlinale gewonnen] hatte, stellt einen Baum ins Zentrum | |
ihrer Geschichte. | |
Dieser riesige Ginkgobaum im Botanischen Garten von Marburg begleitet eine | |
Studentin zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Luna Wedler), die sich als eine | |
der ersten an der Universität zugelassenen Frauen selbstbewusst gegen den | |
Sexismus der Professoren behauptet, des Weiteren eine Studentin in den | |
studentenbewegten Siebzigern, die die Sprache von Pflanzen erkunden will, | |
und einen Neurowissenschaftler aus Hongkong (Tony Leung), der während der | |
Coronapandemie ein Interesse für das neuronale Netzwerk des Ginkgobaums | |
entwickelt. | |
Enyedi schildert mit leiser Ironie, wie die Beteiligten mehr Erfolg darin | |
haben, die Kommunikation von Pflanzen zu erkunden, als sich mit | |
ihresgleichen zu verständigen. Sie wählt für die verschiedenen Zeitebenen | |
unterschiedliche Optiken, Schwarz-Weiß, grobkörnigen Farbfilm und | |
klar-kühle Digitalaufnahmen. | |
Üppige Pflanzenporträts gehören ebenso zu ihrer Ausstattung wie | |
psychedelische Farbstreifen, mit denen sie neuronale Ströme abbildet. In | |
diesem stetigen Fließen durch die Geschichte verliert man das Gefühl für | |
Zeit. Am Ende stellt man verwundert fest, dass man zweieinhalb Stunden mit | |
den Ereignissen rund um einen Baum verbracht hat. | |
Luna Wedler gewann für ihren Part verdient den Marcello-Mastroianni-Preis, | |
der an Schauspielnachwuchs verliehen wird. Ildikó Enyedi hätte man aber | |
noch mehr der Ehre gewünscht. | |
Zwei italienische Produktionen ausgezeichnet | |
Das italienische Kino, traditionell stark präsent im Wettbewerb von | |
Venedig, machte dieses Jahr bei allen fünf eingeladenen Filmen eine gute | |
Figur. Am Ende gab es lediglich zwei Auszeichnungen für italienische | |
Produktionen: den Schauspielpreis Coppa Volpi für [4][Toni Servillo, der in | |
Paolo Sorrentinos „La Grazia“] elastisch würdevoll einen fiktiven | |
Staatspräsidenten Italiens gibt, und den Spezialpreis der Jury für | |
[5][Gianfranco Rosis poetischen Dokumentarfilm „Sotto le nuvole“], der | |
Menschen rund um Neapel im Schatten der Vulkane in Schwarz-Weiß | |
porträtiert. | |
Auch vom US-amerikanischen Kino, das mit Großproduktionen wie Guillermo del | |
Toros „Frankenstein“, [6][Kathryn Bigelows vorwiegend an Bildschirmen | |
inszeniertem Politthriller „A House of Dynamite“] und [7][Noah Baumbachs | |
Starvehikel „Jay Kelly“] recht prominent im Wettbewerb angetreten war, ging | |
der Großteil leer aus. | |
Lediglich [8][Benny Safdie konnte sich über den Preis für die beste Regie | |
für „The Smashing Machine“] freuen. Ihm gelang das Kunststück, sein | |
Sportlerdrama um den Mixed-Martial-Arts-Pionier Mark Kerr mit Dwayne | |
Johnson in der Hauptrolle zu einer Geschichte über Sieg und Scheitern zu | |
machen, in der der Protagonist in all seiner Widersprüchlichkeit zwischen | |
Güte und Milde einerseits und Größen- und Kontrollwahn andererseits | |
gezeichnet wird. | |
Safdie nutzte seine Dankrede, um über Empathie zu sprechen, die er ebenso | |
als Anliegen seines Films verstanden wissen wollte wie als eines der | |
wichtigen Themen dieser Tage. | |
Großer Preis der Jury für Kaouther Ben Hania | |
Während der Abschlussgala hatten zuvor zahlreiche Preisträger in ihren | |
Reden den Krieg in Gaza angesprochen. Am deutlichsten und ausführlichsten | |
tat dies schließlich die [9][tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania, die | |
für ihren Spielfilm „The Voice of Hind Rajab“], in dem sie Telefonaufnahmen | |
mit der echten Stimme des Anfang 2024 in Gaza-Stadt getöteten Mädchens Hind | |
Rajab verwendet, den Großen Preis der Jury bekam. | |
Im Vorfeld hatte es Erwartungen gegeben, sie könnte sogar mit dem | |
Hauptpreis ausgezeichnet werden. Man kann gleichwohl Zweifel anmelden, ob | |
es ein legitimes Mittel ist, die Stimme einer Getöteten in einen Spielfilm | |
zu montieren, in dem Schauspieler die Gesprächspartner des Telefonats | |
verkörpern. | |
Ben Hania widmete ihren Film dem Palästinensischen Roten Halbmond und | |
bezeichnete die Stimme Hind Rajabs als „Stimme Gazas“. Sie forderte, dass | |
„diese unerträgliche Lage beendet“ werden solle, äußerte die Hoffnung, d… | |
ihr Film hilft, „den Krieg zu beenden“, und schloss mit dem Ruf „Free | |
Palestine“. | |
„Enough“ lautete der Schriftzug auf dem Sticker, den Ben Hania dabei an | |
ihrem Kleid trug. Einen solchen Sticker trug ebenfalls Jarmusch am Revers | |
seines purpurfarbenen Anzugs. Im Unterschied zu Ben Hania zeigte er sich | |
in seiner Rede allerdings nicht aktivistisch. | |
„Kunst muss nicht von Politik handeln, um politisch zu sein“, erinnerte | |
Jarmusch und griff das Plädoyer seines Kollegen Safdie für Empathie auf. | |
Diese könne eine Verbundenheit zwischen Menschen schaffen, worin er einen | |
ersten Schritt für die Lösung von Problemen sah. | |
Einstehen für die Filmkunst | |
Dass Jarmusch als Autorenfilmer mit prägnantem ästhetischen Ansatz | |
siegreich aus diesem Rennen hervorgegangen ist, kann man daher als | |
Einstehen der Jury unter ihrem Präsidenten Alexander Payne für die | |
Filmkunst verstehen. | |
Vorübergehend hätte man den Eindruck haben können, dass politische | |
Erwägungen bei den Filmfestspielen dominieren könnten. Dass dies nur zum | |
Teil der Fall gewesen zu sein scheint, ist ein gutes Signal für die | |
Filmkunst. Denn um die sollte es bei so einer Veranstaltung in erster Linie | |
gehen. | |
Bekenntniszwang besteht für sie nicht. Und dass Filme die Welt verändern, | |
geschieht eher indirekt und allenfalls in Ausnahmen. | |
7 Sep 2025 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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