Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Filmfestspiele in Venedig: Stimmen und Schuld
> Lidokino 10: Das Filmfestival war weit politischer als sonst. Auch durch
> den Gaza-Film „Voice of Hind Rajab“ der Regisseurin Kaouther Ben Hania.
Bild: Über sich selbst erschrecken: Barbara Ronchi in der Titelrolle von „El…
Wird Venedig dieses Jahr zu Berlin? Unter den großen drei internationalen
Filmfestivals von Cannes, Venedig und Berlin gilt Letzteres als das
politischste. Venedig zeigt meistens mehr Ambitionen, ein Programm mit
vielen Oscar-Anwärtern zu präsentieren. Politische Fragen stehen da im
Hintergrund.
Die 82. Mostra internazionale d’arte cinematografica versprach aber schon
im Vorfeld stärker von Politik bestimmt zu werden als sonst. In einem
offenen Brief der Organisation „Venice4Palestine“, der von rund 2.000
Personen aus der Filmbranche unterzeichnet wurde, [1][war das Festival
vorab aufgefordert worden, eine propalästinensische Haltung einzunehmen].
Zudem wurde dem Festival nahegelegt, die Schauspieler Gal Gadot und Gerard
Butler wegen ihrer Unterstützung Israels wieder auszuladen. Der israelische
Star Gal Gadot sagte darauf ab. In der Pressekonferenz zum Auftakt war der
Jurypräsident, der amerikanische Regisseur [2][Alexander Payne,] nach
seiner Meinung zum Krieg in Gaza gefragt worden. Worauf er sich
„unvorbereitet“ zeigte.
Und während der Filmfestspiele gab es auf dem Lido eine Demonstration in
der Nähe des Festivalgeländes mit Tausenden von Teilnehmern, die gegen den
israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen protestierten.
## Eine Fünfjährige sitzt fest
Am Mittwoch dann hatte der Spielfilm „The Voice of Hind Rajab“ von Kaouther
ben Hania im Wettbewerb Premiere. Die tunesische Regisseurin verwendet
darin die Originalaufnahmen eines Notrufs des [3][fünfjährigen
palästinensischen Mädchens Hind Rajab,] der am 29. Januar 2024 bei der
Palästinensischen Rothalbmondgesellschaft in Ramallah einging.
Über mehrere Stunden sprach sie von Gaza-Stadt aus aus einem Auto, das von
den israelischen Streitkräften beschossen wurde, mit den Mitarbeitern der
Hilfsorganisation und bat diese immer wieder, sie zu retten, bevor sie
starb.
Kaouther Ben Hania zeigt im Film die Telefonzentrale, in der Schauspieler
die Mitarbeiter verkörpern, die stets aufs Neue dem Mädchen Mut machen,
während sie versuchen, einen Rettungswagen zu schicken. Nach und nach
erfahren sie, dass Hind Rajab mit mehreren getöteten Verwandten im Auto
festsitzt.
## Die Angst des Mädchens
Ob man die Stimme eines getöteten Kindes in einem Spielfilm verwenden
sollte, ist eine der Fragen, die sich Ben Hania stellen lassen muss. Ebenso
erweist sich ihre Fiktionalisierung der Arbeit der Telefonzentrale als
heikel. Die Darsteller überbieten sich im Betroffensein, ringen um
Beherrschung, beginnen zu weinen, während sie das Mädchen in ihrer Angst
begleiten.
Allein sie tun dies ja gar nicht, sie waren überhaupt nicht da, als Hind
Rajab in Todesangst schwebte, sie spielen lediglich mit ihrer Stimme. Durch
die theatralische Darstellung gerät der Film damit mehr zum Drama über die
heftige Arbeit der Helfer.
Wirkliche Figuren schafft Ben Hania nicht, einzig der Koordinator der
Rettung, Mahdi (Amer Hlehel), hat tragische Züge, da er streng nach
Protokoll vorgehen muss. So erklärt er einem Kollegen, warum er nicht
einfach einen Krankenwagen losschicken kann. Zunächst muss er eine
palästinensische Behörde kontaktieren, die darauf mit einer israelischen
Behörde verhandelt. Allein Letztere spricht direkt mit dem Militär. Wenn er
diesen Weg nicht einhalte und der Krankenwagen nicht exakt die genehmigte
Route fahre, riskiere er, dass der Wagen beschossen werde und das Militär
ihm die Schuld dafür gebe.
## Ergreifend verschlossen
Ben Hania hat jedoch nicht allein einen Film über ein grausames Schicksal
gedreht, das akustisch dokumentiert ist, sie hat auch Botschaften darin
untergebracht, die über eine Kritik an der Lage in Gaza hinausgehen. Etwa
dass sich Mahdi von einem Kollegen für sein scheinbar übertrieben
bürokratisches Vorgehen vorhalten lassen muss: „Wegen Leuten wie dir sind
wir unter Besatzung.“ Die Kritik zeigt sich gegenüber solcher kaum
verborgenen Israel-Kritik großzügig und feiert den Film. Man spricht von
Chancen auf den Goldenen Löwen.
Ein Wettbewerbsfilm wie Leonardo Di Costanzos „Elisa“, der, gleichfalls
nach einem wahren Fall, von einer Frau erzählt, die ihre Schwester ermordet
hat und im Gefängnis versucht, ihre Tat zu begreifen und mit dieser zu
leben, mag da klein wirken. Er hat mit Barbara Ronchi dafür eine ergreifend
verschlossene Hauptdarstellerin.
Möge der beste Film gewinnen.
5 Sep 2025
## LINKS
[1] /Filmfestspiele-Venedig/!6106434
[2] /The-Holdovers-von-Alexander-Payne/!5984504
[3] /7-Oktober--ein-Jahr-danach/!6034819
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Kolumne Lidokino
Kulturkolumnen
Israel
Gaza-Krieg
Rettungsdienst
Kolumne Gaza-Tagebuch
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gaza-Tagebuch: „Wir warteten den ganzen Tag auf ein Auto“
Unsere Autorin muss vor der Offensive auf Gaza-Stadt wieder einmal
flüchten. Sie kämpft mit der Logistik – und mit einer unmöglichen
Entscheidung.
Goldener Löwe in Venedig: Wenn leise Töne siegen
Die 82. Filmfestspiele von Venedig gehen mit dem Goldenen Löwen für Jim
Jarmusch zu Ende. Bei der Preisverleihung gab es viele Stimmen für Gaza.
Filmfestspiele Venedig: Lieber Duse als Duce
Lidokino 9: Regisseur Pietro Marcello verbindet in seinem preiswürdigen
Film „Duse“ das Leben der Diva Eleonora Duse mit dem Aufstieg des
Faschismus in Italien.
Filmfestspiele Venedig: Wir sind alle verdammt
Lidokino 8: Regisseur Francois Ozon verfilmt Camus in existenzialistischem
Schwarz-Weiß. Kathryn Bigelow führt mit einem Actionfilm ins Weiße Haus.
Filmfestspiele Venedig: Jede Schweißperle zählt
Lidokino 7: Vollkörperkontakt im MMA und Schüttelekstase bei der
Shaker-Sekte – das Filmfestival von Venedig biegt allmählich auf die
Zielgerade ein.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.