# taz.de -- Weltmeisterschaft der Geoguessr: Es ist Chile! | |
> Geoguessr können anhand eines einzigen Bildes von Google Street View | |
> erkennen, wo es aufgenommen wurde. Nun war Weltmeisterschaft in | |
> Kopenhagen. | |
Bild: Bei der auf dem Screen gezeigten Location in Chile bekamen beide Spieler … | |
KOPENHAGEN taz | Braune, karge Berge erheben sich am Horizont. Eine felsige | |
Klippe zur Rechten, ein Fluss zur Linken. Parallel dazu eine Landstraße, | |
neben der Bahngleise laufen. Das könnte überall auf der Welt sein. In 35 | |
Sekunden kann ein Profi den auf den Meter genauen Standort dieses Bildes | |
ausmachen. | |
Es wirkt wie Magie. Die Zauberer sind eSport-Profis. Der Trick: ein | |
zufälliger Google-Street-View-Standort, maximal 60 Sekunden Bedenkzeit, und | |
dann ihr Tipp, wo auf der Welt sie sich befinden. Manchmal schaffen die | |
Spieler_innen, wie bei der obigen Location, das größte Kunststück, das, was | |
man im Jargon 5K nennt: Der Tipp liegt nur wenige Meter vom tatsächlichen | |
Standort entfernt und bringt ihnen 5.000 Punkte. Bloß, dass keine Magie | |
dahintersteckt, sondern knallhartes Training. | |
„Geoguessr“ nennt sich dieses auf [1][Google Street View] basierende Spiel, | |
aus dem sich über die Jahre ein internationaler Wettkampf entwickelt hat. | |
Ende August treten die besten Spieler bei der Weltmeisterschaft in | |
[2][Kopenhagen] an. Mehrere Tausend Fans sind dabei und sehen zu, wie | |
Spieler wie Leero aus Australien, Strefan aus Polen, Radu C aus den USA | |
oder Blinky aus Frankreich um den Pokal kämpfen. Die Fans bringen | |
Straßenpoller mit – im Spiel wichtige Marker, da sie je nach Land | |
unterschiedlich aussehen – und lassen sie signieren. Vor dem Eingang machen | |
Leute Bilder mit dem Street-View-Auto von Event-Partner Google, ohne das | |
der Sport gar nicht existieren würde. Zwischen den Matches geoguessen nicht | |
wenige Zuschauer_innen selbst am Handy. | |
„Ich fühle mich immer sehr wohl bei den Geoguessr-Events“, sagt Lennli der | |
taz. Der Profispieler aus [3][Heidelberg] heißt eigentlich Lennard Kothe | |
und ist 25 Jahre alt. „Die Community ist nerdig, aber auf eine sehr | |
charmante Art und Weise.“ Lennli ist wie die meisten Spieler_innen, die | |
heute Profis sind, während der Pandemie zu dem eSport gekommen. „Ich hatte | |
Lust, einer der Besten zu werden.“ Das ist ihm gelungen. Er ist der | |
erfolgreichste Spieler Deutschlands. Mit 15 weiteren Spielern tritt er nun | |
bei der Weltmeisterschaft an. Sie alle sind Männer – überraschend divers | |
hingegen sind die Fans in der Arena. | |
Ein Duell, oder auch Match, besteht aus bis zu fünf seperaten Spielen. Wer | |
als erster drei Spiele gewonnen hat, gewinnt auch das Match. Ein Spiel | |
wiederum besteht aus bis zu zehn unterschiedlichen Runden, also Orten. | |
Dabei haben die Spiele auch unterschiedliche Modi.Spiel eins und drei sind | |
immer im „Moving“-Modus. Die Spieler_innen können sich durch Street View | |
klicken, die Straßen entlangfahren, sich umsehen, zoomen. | |
Dabei können sie verschiedene Informationen sammeln, finden mit etwas Glück | |
ein Schild, das einen Dorfnamen oder eine Autobahnnummerierung enthält, | |
einen landestypischen Poller, oder eine Telefonvorwahl auf einem | |
Werbeplakat. Spiel zwei und vier dagegen ist „No Move“: Man ist an einen | |
Fleck gefesselt, kann sich lediglich umsehen (Pan), und an Dinge | |
heranzoomen (Zoom). Sollte das Match dann noch nicht entschieden sein, | |
kommt das berüchtigte Spiel Fünf: NMPZ – No Move, Pan or Zoom. Hier | |
bekommen die Spieler_innen nur ein einziges Bild und müssen davon ausgehend | |
ihren Guess machen. In jedem Spiel bekommen die Spieler_innen bis zu zehn | |
verschiedene Standorte. | |
## Wie sind die Telefonmasten geformt? | |
Das erfordert enormes Wissen. Profi-Geoguessr müssen Bäume bestimmen und | |
Landschaften einordnen können, diverse Alphabete beherrschen. Sie kennen | |
die Telefonvorwahlen Tausender Regionen weltweit und ihre Postleitzahlen. | |
Sie wissen, wie genau die Rückseiten kolumbianischer Straßenschilder | |
aussehen, welche Eigenarten Fahrbahnmarkierungen in verschiedenen Ländern | |
haben und wie dort die Telefonmasten geformt sind. Und sie haben gelernt, | |
in welchen Ländern das Google-Street-View-Auto eine besonders lange Antenne | |
hat – auch das ist in vielen Aufnahmen zu sehen und kann bei der | |
Standortbestimmung helfen. | |
Vor der letzten Europameisterschaft im Juni habe er täglich acht Stunden | |
gelernt, sagt Lennli. „Etwa vier Stunden davon waren einfach Spielen, mal | |
Duelle gegen andere Spieler, mal einfach für mich alleine. Jedes Mal, wenn | |
ich mit meinem Tipp weit danebenliege, gehe ich danach in die Analyse.“ Die | |
anderen vier Stunden bestünden daraus, Sachen auswendig zu lernen. „Ich | |
habe zum Beispiel gelernt, wie man Bengalisch, Hindi, Thai oder Kyrillisch | |
liest, und sogar ein paar japanische Kanji gelernt, um die Provinzen dort | |
lesen zu können.“ | |
Im Viertelfinale verliert er trotzdem gegen den Ungarn Debre. Der wird | |
später das Finale erreichen. „Ich wusste vorher schon, dass es ein sehr | |
schwieriges Match wird“, sagt Lennli. „Debre ist einer meiner besten | |
Freunde. Wir trainieren viel vor Events wie der EM oder der WM. Aber | |
diesmal hatte ich kaum Zeit.“ Lennli studiert nebenbei in Köln und schreibt | |
derzeit seine Masterarbeit in Data Analytics – ein Grund für die | |
0:3-Niederlage gegen Debre. „Ich hätte gerne ein bisschen mehr gezeigt und | |
dem Publikum mehr gegeben.“ Lennli ist ein Liebling im Saal. Anders als | |
viele seiner zurückhaltenden Kontrahenten sucht er den Kontakt, macht | |
Selfies mit Dutzenden Fans und gibt ihnen seine Unterschrift. | |
Trotz der Niederlage: Lennli sagt, er habe seine Ziele bei der WM | |
übertroffen. Denn im Achtelfinale konnte er einen Favoriten, Consus aus den | |
Niederlanden, den Weltmeister von 2023, besiegen. Auch der | |
Titelverteidiger, der französische Geoguessr Blinky, scheidet überraschend | |
schon im Viertelfinale gegen einen Underdog aus. Im Finale treffen dann | |
Debre und der US-Amerikaner Radu C aufeinander. „Ich sehe Radu leicht | |
vorne“, schätzt Lennli. | |
Es ist das Duell zweier Giganten – beide mit ihrem eigenen Arsenal an | |
Stärken: Radu C brilliert mit Wissen über peruanische Schotterpisten, | |
ukrainische Antennen und darüber, zu welchen Jahreszeiten | |
Street-View-Aufnahmen in Bangladesch gemacht wurden. Debre dagegen punktet | |
mit Sicherheit bei Postleitzahlen und Telefonvorwahlen, enormer | |
Ortskenntnis und nicht zuletzt: Nerven aus Stahl. | |
Die beiden sitzen sich an Schreibtischen auf der Bühne gegenüber. Damit sie | |
das Publikum und die Kommentatoren nicht hören, tragen alle Spieler | |
Kopfhörer – meist mit einer Playlist, die sie sich kurz vor dem Match | |
auswählen. Beide Spieler bekommen dieselben Aufgaben auf ihre Bildschirme, | |
die auf einem großen Videowürfel über der Bühne übertragen werden. In den | |
Ecken kleine Live-Bilder, die jede ihrer Reaktionen zeigen. Was in ihren | |
Köpfen wirklich passiert, erkennt man jedoch nur, wenn man verfolgt, welche | |
Regionen sie auf der Karte öffnen und untersuchen. | |
## Spiel ohne Drehen oder Zoomen | |
Das erste Spiel, Moving, kann sich der Ungar sichern, womit Radu C sein | |
erstes Spiel im gesamten Turnier abgibt. Spiel zwei, „No Move“, schnappt | |
sich der US-Amerikaner dann aber wieder. Das nächste Spiel, wieder eine | |
Moving-Runde, beginnt nicht mit einem 5K, sondern sogar einem 10K: Beide | |
Spieler können die exakte Kreuzung in [4][Chile] auf der Karte ausfindig | |
machen. Die Arena bebt. Nach einer fast perfekten Indien-Runde von Debre | |
macht der Ungar ausgerechnet bei einer USA-Location auch in Spiel drei | |
eiskalt den Sack zu. Zwei zu eins für ihn. | |
Radu C muss das nächste Spiel, wieder ein No-Move-Spiel, gewinnen, sonst | |
ist der Titel verloren. Kurz vorm Finale haben die bereits ausgeschiedenen | |
Spieler in der Toilettenschlange des VIP-Bereichs über den möglichen Sieger | |
gesprochen. „Debre wird gewinnen. Radu hat nicht die mentale Stärke“, hat | |
einer gesagt. Schon in Runde zwei des Spiels kann der US-Amerikaner auf | |
einer äußerst ländlichen Straße im Norden Namibias das Gegenteil beweisen. | |
In der nächsten Runde sichert er sich dann die klare Führung mit einem | |
präzisen Guess im dörflichen [5][Alberta in Kanada]. Als dann Debre in der | |
vierten Runde – man sieht einen schmalen alphaltierten Weg, einige | |
Holzhäuser, tiefgrüne Wiesen und hohe Laubbäume – anders als sein | |
Kontrahent fälschlicherweise Estland statt Schweden tippt, gelingt Radu C | |
der Ausgleich. Es steht zwei zu zwei. | |
Heißt: Es braucht Spiel fünf – ohne Drehen oder Zoomen, NMPZ. Ein Waldstück | |
ist zu sehen, nach einem Bruchteil einer Sekunde loggt Debre bereits seinen | |
Guess im Norden Serbiens ein. Unglaubliche 7 Kilometer ist er von dem Ort | |
entfernt – er zeigt keine Reaktion, bleibt cool. Aber kurz darauf dominiert | |
Radu C bei einem Standort, der lediglich einen Schotterweg und einen | |
Briefkasten in der Distanz zeigt – in der Umgebung Torontos. | |
Damit liegt Radu C vorne, doch auch Debre kann sich den Sieg noch holen. | |
Dann kommt Runde sechs des finalen Spiels: eine unbefestigte Straße, Gras | |
an den Seiten, ein paar Bäume, Berge in der Distanz. Nach bereits 15 | |
Sekunden loggt Debre seinen Guess ein, Mexiko. Und schlägt schon einen | |
Augenblick später die Hände über dem Kopf zusammen. Während Radu C noch | |
überlegt, sieht man dem sonst coolen Debre die Panik plötzlich an. Radu | |
zoomt an Chile ran, die Menge tobt, denn jetzt ist klar: Die Distanz | |
zwischen ihnen wird so groß sein, dass diese Runde alles entscheidet. Wie | |
in Zeitlupe vergehen die nächsten Momente: Radu C klickt sich durch ein | |
Gebirge nördlich von [6][Santiago], logt seinen Guess ein, der Timer läuft | |
ab, die Karte wird sichtbar. Es ist Chile! Die Menge ist außer sich. | |
5 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Google-Street-View-in-Deutschland/!5931087 | |
[2] /Kopenhagen/!t5008963 | |
[3] /Heidelberg/!t5201510 | |
[4] /Chile/!t5009219 | |
[5] /Klimakrise-in-Kanada/!5614509 | |
[6] /Santiago-de-Chile/!t5033663 | |
## AUTOREN | |
Valérie Catil | |
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