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# taz.de -- Goethe Medaille Weimar: Der fast vergessene Gefangene
> 2025 wird die Goethe-Medaille unter anderem an den türkischen Kulturmäzen
> Osman Kavala verliehen.
Bild: Berlin am 4. Mai 2022: Protestmarsch für die Freilassung von Osman Kaval…
Ungefähr 50 Kilometer westlich Istanbuls liegt eines der berüchtigsten
Gefängnisse der Türkei: das Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Der riesige
Knastkomplex, zu dem auch ein Gerichtssaal für die Prozesse gegen die
Insassen gehört, wurde in der Regierungszeit von Präsident Recep Tayyip
Erdoğan extra für politische Gefangene gebaut.
Von der Autobahn gibt es eine Abfahrt zum Gefängnis. Rund um den Komplex
liegt eintöniges, offenes Land. Die derzeit bekanntesten Gefangenen sind
der im März verhaftete Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu und der
Journalist Fatih Altaylı.
Nach İmamoğlu wurden seit März noch eine ganze Reihe weiterer CHP-Politiker
in Silivri eingeliefert, aber auch andere Journalisten, Künstler und
Demokratieaktivisten, die gegen die massive Repression der letzten Monate
protestierten. Im Vergleich zu diesen Neuzugängen sitzt ein anderer, fast
so bekannter Gefangener wie İmamoğlu, gefühlt schon ewig in Silivri: der
Mäzen, Menschenrechtsaktivist und Vorkämpfer für einen Dialog zwischen den
Unterschiedlichen in der Türkei, [1][Osman Kavala].
Osman Kavala, 1957 in Paris geboren, wuchs in einer großbürgerlichen
Familie als Erbe eines großen Unternehmens, der Kavala Company, auf. Er
ging in Istanbul auf das amerikanische Robert College, studierte später in
England und den USA. Als sein Vater 1982 starb, kehrte er aus New York nach
Istanbul zurück.
## Engagement in linken Projekte
Zügig nutzte er sein Erbe dazu, sich in linken und linksliberalen Projekten
zu engagieren. So gründete er 1983 zusammen mit Freunden den linken
İletişim-Verlag. Die Türkei stand da noch ganz im Schatten des
Militärputsches von 1980.
In den neunziger und nuller Jahren engagierte sich er sich bei der Gründung
etlicher NGOs, von Naturschutz über eine Geschichtsstiftung bis zu Amnesty
International. Er wurde Gründungsmitglied der Open-Society-Stiftung in der
Türkei, die vom amerikanischen Milliardär George Soros nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion gegründet worden war. Erdoğan nannte Kavala
deshalb einmal den „roten Soros von Istanbul“.
Bis zu dem misslungenen Putsch gegen Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2016 war
Osman Kavala ein international gut vernetzter, parteiunabhängiger Aktivist,
der auch mithilfe seines Erbes viel für die demokratische Kultur in der
Türkei tat.
## Verein „Anadolu Kültür“
Zuletzt gründete er 2002 den Verein „Anadolu Kültür“, der kulturelle
Aktivitäten in den kurdischen Gebieten finanziert, sich um das armenische
Erbe der Türkei kümmert und viel auch mit ausländischen Institutionen wie
dem Goethe-Institut und vergleichbaren amerikanischen und britischen
Instituten zusammenarbeitet. Er wurde von den Nationalisten angefeindet,
ansonsten aber in Ruhe gelassen.
Das eigentliche Drama um Kavala begann mit dem Putschversuch 2016. Bereits
vor dem Putsch hatte es im Sommer 2013 mit den Gezi-Protesten, benannt nach
dem gleichnamigen Park im Zentrum Istanbuls, die bis dahin größten Proteste
gegen den immer autoritärer auftretenden Erdoğan gegeben. Dieser
behauptete, dass sowohl die Gezi-Proteste als auch der Putsch von Teilen
der Armee durch das westliche Ausland initiiert worden wären.
Um dieser Behauptung eine Spur von Glaubwürdigkeit zu verleihen, musste er
Drahtzieher präsentieren, die auf Anweisung des Auslands handelten. Für den
Putsch war das die islamistische Gülen-Bewegung, deren Chef in den USA im
Exil saß, für die Gezi-Proteste Osman Kavala.
Kavala wurde im Oktober 2017 verhaftet und angeklagt, mit ausländischen
Agenten den „Gezi-Aufstand“ geplant zu haben. Außer dass er durch sein
Engagement viele Kontakte zu westlichen Kulturinstitutionen und zur Open
Society pflegte, hatte die Anklage nichts gegen ihn in der Hand. Es dauerte
bis zum 17. Juni 2019, bis der Gezi-Prozess begann. Da die Gerichte damals
noch nicht völlig unter der Kontrolle der Regierung standen, wurden Osman
und acht weitere Angeklagte im Februar 2020 freigesprochen.
## Zuerst Freispruch, dann wieder verhaftet
Es hätte das Ende der Geschichte sein können, doch Osman Kavala hatte das
Gefängnistor von Silivri kaum verlassen, als er am gleichen Tag erneut
verhaftet wurde. Dieses Mal wegen der angeblichen Beteiligung am
Putschversuch.
Spätestens jetzt war klar, dass Präsident Erdoğan persönlich Osman Kavala
nicht freilassen wollte. Im Dezember 2020 begann der zweite Prozess gegen
Osman in dem sich auch bald abzeichnete, dass seine angebliche
Agententätigkeit frei erfunden war. Doch mittlerweile war der Freispruch im
Gezi-Prozess von einem Berufungsgericht aufgehoben worden, und sein
erneuter Freispruch wegen angeblicher Spionage nutzte ihm nichts.
Der Gezi-Prozess wurde neu aufgerollt und Kavala, ganz wie Erdoğan es
gefordert hatte, im April 2022 als Rädelsführer des „Gezi-Aufstandes“
[2][zu lebenslanger, erschwerter Haft verurteilt]. Osman Kavala verschwand
endgültig hinter den Mauern von Silivri. Wie sehr der kosmopolitische,
säkulare Kulturförderer Kavala dem Präsidenten verhasst ist, zeigte sich an
dessen Reaktionen auf die Kritik aus Straßburg und etlichen westlichen
Hauptstädten.
Zweimal hatte der Menschenrechtsgerichtshof während Kavalas
langandauernder U-Haft interveniert und seine sofortige Freilassung
gefordert. Dem schloss sich der Ministerrat des Europarates an und drohte
damit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei einzuleiten. Ein
Ausschluss aus dem Europarat könnte die Folge sein. Doch Erdoğan ignorierte
das alles und sagte, Europa könne der türkischen Justiz, seiner Justiz,
keine Vorschriften machen.
## Botschafter Europas sind machtlos gegen Erdogan
Der Höhepunkt der Auseinandersetzung um Kavala zwischen Erdoğan und dem
Westen kam im Oktober 2021. Ein knappes halbes Jahr vor seiner Verurteilung
[3][forderten Botschafter aus zehn Ländern] (Deutschland, Frankreich, USA,
Kanada, Niederlande, Neuseeland, Finnland und die drei skandinavischen
Staaten) in einem gemeinsamen Appell, Osman Kavala freizulassen. Erdoğan
reagierte umgehend.
Er drohte alle zehn Botschafter auszuweisen und zu unerwünschten Personen
zu erklären, wenn die sich für ihre „unzulässige Einmischung“ in die
inneren Angelegenheiten der Türkei nicht entschuldigen würden. Es folgten
hektische Verhandlungen hinter den Kulissen und eine etwas verdruckste
Erklärung über die formalen Zuständigkeiten ausländischer Botschafter, die
womöglich überschritten worden seien, bis Erdoğan seine Drohung zurückzog.
Seitdem ist auf zwischenstaatlicher Ebene nicht mehr viel passiert. Der
Europarat hat den Ausschluss der Türkei nicht weiterverfolgt, und bei
bilateralen Treffen mit europäischen Regierungen wird [4][Osman Kavala
immer weniger erwähnt]. Seit der Verhaftung von Ekrem İmamoğlu und vielen
anderen Kritikern Erdoğans in den letzten Monaten ist auch innenpolitisch
das Schicksal des angeblichen Gezi-Drahtziehers in den Hintergrund
getreten.
27 Aug 2025
## LINKS
[1] /Osman-Kavala/!t5477127
[2] /Verurteilung-Osman-Kavalas-in-der-Tuerkei/!5851043
[3] /Fall-Osman-Kavala/!5805954
[4] /ifa-Preis-fuer-inhaftierten-Osman-Kavala/!5894561
## AUTOREN
Wolf Wittenfeld
## TAGS
wochentaz
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Menschenrechte
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Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan
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