# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Bolivien: Die Farbe gelb, die Hoffnung gro… | |
> Am Sonntag wählt Bolivien einen neuen Präsidenten. Nach 20 Jahren wird | |
> die sozialistische MAS ihre Macht verlieren. Was bedeutet das für die | |
> Armen im Land? | |
Bild: Auf der Abschlussveranstaltung umringt von Tausenden Anhänger*innen: Pr�… | |
La Paz und El Alto taz | Mariela Pabón Limachi spricht ganz ruhig. Doch die | |
studierte Physiotherapeutin ist verärgert. Vier Jahre hat sie in einem | |
privaten Krankenhaus gearbeitet, erzählt sie. Dann wurde sie im vergangenen | |
Jahr entlassen. Trotz ihrer Diplome und Masterabschlüsse. Ihren | |
Arbeitsplatz bekam jemand, der zwar keine Abschlüsse vorzuweisen hatte. | |
Aber die Person sei in der Partei, habe ihre ehemalige Chefin gesagt. | |
Gemeint ist die Bewegung für den Sozialismus (MAS), die den Präsidenten | |
Boliviens stellt. „Das tut so weh.“ | |
Auch deshalb will Pabón Limachi bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag für | |
den Herausforderer, den Unternehmer Samuel Doria Medina, stimmen. „Damit | |
junge, qualifizierte Leute eine Chance haben.“ | |
Es ist wenige Tage vor der Wahl. Die Sonne brennt vom Himmel auf 3.600 | |
Meter Höhe. Die Luft in Boliviens Verwaltungshauptstadt La Paz ist dünn und | |
staubtrocken. Mariela Pabón Limachi steht am nordwestlichen Stadtrand, wo | |
die Häuser der Nachbarstadt El Alto nahe sind, zusammen mit einer Gruppe | |
junger Leute aus ihrem Heimatort Mecapaca. | |
Heute begehen die Anhänger*innen von Samuel Doria Medina, dem laut | |
Umfragen aussichtsreichsten Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl, mit | |
einem Marsch durch La Paz seinen Wahlkampfabschluss. Der Anfang des Zugs | |
ist längst nicht mehr in Sicht, so viele Menschen sind gekommen. | |
## Genug von links | |
Diesen Sonntag können 7,9 Millionen Bolivianer*innen ihren neuen | |
Präsidenten wählen; dazu die Abgeordneten des Parlaments. Erreicht keiner | |
der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen oder 40 Prozent mit | |
mindestens 10 Prozent Abstand zum Zweitplatzierten, geht es am 19. Oktober | |
in die Stichwahl. Acht Kandidaten treten an – doch laut Umfragen kommt | |
keiner von ihnen über 25 Prozent. Zusammengerechnet etwa ein Drittel der | |
Wähler*innen ist demnach unentschlossen, will ungültig oder mit leerem | |
Stimmzettel wählen. | |
Obwohl die Umfragen in Bolivien bekannt sind für ihre Unzuverlässigkeit, | |
scheint eins doch sicher: Mit der Herrschaft der MAS-Partei wird nach 20 | |
Jahren Schluss sein. Ihr Kandidat dümpelt bei 2 Prozent herum. Die Wahl | |
könnte zugleich das Ende der Partei bedeuten. Denn erreicht ihr Kandidat | |
weniger als 3 Prozent, verliert die Partei ihren Namen. Auch gut möglich, | |
dass eine Mehrheit der Bolivianer*innen nach 20 Jahren MAS von der | |
gesamten Linken genug hat. Die beiden führenden Kandidaten liegen nur | |
hauchdünn auseinander – und stammen beide aus dem rechten Spektrum. | |
Einer von ihnen ist Samuel Doria Medina. Bei seinem Wahlkampfabschluss, | |
hier am nordwestlichen Stadtrand, sieht La Paz aus wie an vielen Ecken. | |
Einige unverputzte Ziegelbauten, wo immer eine Etage dazukam, wenn Geld da | |
war, viele kleine Geschäfte, Minibusse, die den Berg hochkriechen, in die | |
Jahre gekommene Gebäude, deren bunte Anstriche die krasse Sonne verbleichen | |
ließ. Auf den halsbrecherischen Gehsteigen laufen indigene Frauen mit | |
dicken Zöpfen, Hüten und dicken bunten Röcken, die Obst und Gemüse | |
verkaufen, Frittiertes, und allerlei andere fliegende Händler. Über der | |
Straße spannen sich Stromleitungen. An manche sind gelbe Plastikfahnen mit | |
dem Namen des Kandidaten Doria Medina gebunden. | |
„No más filas“ – keine Warteschlange mehr für Benzin, brüllen die Mens… | |
Und immer wieder: „100 días, carajo“ – „100 Tage, verdammt!“ Denn in… | |
Tagen will Samuel Doria Medina das Land umkrempeln, hat er versprochen. | |
Mariela Pabón Limachi hat immer noch keine neue Arbeit gefunden. Jetzt ist | |
die 32-Jährige daheim mit ihrer kleinen Tochter. Ihr Partner habe zum Glück | |
Arbeit. Und sie verdiene sich etwas dazu, indem sie Geld von ihrem | |
Ersparten gegen Zinsen verleihe. Denn Schuldenmachen boomt. Bolivien steckt | |
in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 40 Jahren. Alles ist teurer | |
geworden, so teuer, dass sie daheim kaum mehr Fleisch essen. „Und ich bin | |
nicht arm, ich bin Mittelschicht, eine studierte Fachkraft.“ | |
Die Inflation liegt bei 25 Prozent – eine der höchsten Lateinamerikas. | |
Lebensmittel werden immer teurer. Benzin und vor allem Diesel, den das Land | |
fast komplett importiert, sind knapp. Vor Tankstellen stehen Lastwagen | |
Schlange. Bolivien ist abhängig von Importen – doch der Staat hat kaum mehr | |
Dollars. Offiziell kostet ein US-Dollar rund 7 Bolivianos. Der inoffizielle | |
Kurs ist doppelt so hoch. | |
Verpufft sind die riesigen Einnahmen aus Gasverkäufen während [1][Evo | |
Morales]’ Anfangszeiten. Mit denen hatte die Regierung des damaligen | |
Präsidenten von der MAS Lebensmittel und Treibstoff subventioniert, | |
Sozialprogramme finanziert und in Infrastruktur investiert. Der Gaspreis | |
ist gesunken, zudem geht Bolivien das Gas aus. Der Staat musste auf seine | |
Devisenrücklagen zurückgreifen. 2024 machten Subventionen für Treibstoff | |
und Lebensmittel unter MAS-Präsident Luis Arce mehr als 4 Prozent des | |
Bruttoinlandsprodukts aus. | |
„Die Linke sagt, dass sie dem Armen hilft zu wachsen. Doch stattdessen | |
bereichert sie sich und auf der Straße gibt es Menschen, die betteln“, sagt | |
Pabón Limachi. „Aber ich glaube daran, dass Samuel Doria Medina das | |
ändert.“ | |
Doria Medina ist Unternehmer, hier geboren und sei trotz der Krise | |
geblieben. „Er gibt uns Hoffnung, dass dieses Land wachsen kann.“ | |
Jungwähler*innen zwischen 18 und 35 Jahren wie Pabón Limachi machen 44 | |
Prozent aus. Und zumindest sie hat die Nase voll: „Schluss mit der Linken, | |
mit dem Sozialismus. Wir sind es leid. Wir wollen eine bessere Zukunft.“ | |
Plötzlich taucht der Kandidat auf, mitten in der Menge, zwei Blumenkränze | |
um den Hals. Blaue Fleecejacke über dem Hemd, graue Hose. | |
Journalist*innen und Anhänger*innen stürzen sich auf ihn. Die einen | |
mit Mikros und Kameras, die anderen mit Umarmungen und Fotowünschen. Will | |
er in 100 Tagen tatsächlich das ganze Land verändern? | |
Doria Medina antwortet: „Nein. Wir werden die Wirtschaft stabilisieren. Wir | |
werden die Inflation stoppen. Wir werden dafür sorgen, dass die Dollars | |
zurückkommen und dass es wieder Treibstoff gibt.“ Natürlich würden alle | |
Exportbeschränkungen aufgehoben, die Ausgaben gesenkt. „Es gibt zu hohe | |
Defizite, zu hohe Ausgaben, zu viel Verschwendung. Und drittens werden wir | |
einen Stabilisierungsfonds einrichten.“ | |
Blaskapellen, indigene Volkstanzgruppen in schillernden Kostümen, | |
trommelnde Afrobolivianer*innen, Lamas. Dazwischen überall Menschen und | |
Gruppen, die gekommen sind, um ihren Kandidaten zu unterstützen. Alte, | |
Junge, manche mit Kindern. Fast alle tragen Gelb, und wenn es nur ein Tuch | |
ist, die Farbe seines Wahlkampfbündnisses. | |
Als die gelbe Riesenschlange rund vier Stunden später an der zentralen | |
Plaza Bolivia ankommt und Doria Medina vor einem Menschenmeer eine | |
Ansprache hält, ist es schon dunkel. 100.000 hören ihm geschätzt zu. | |
Es ist sein vierter Anlauf auf die Präsidentschaft, diesmal für das | |
Oppositionsbündnis Alianza Unidad. Der 66-Jährige, der 6 Kinder hat, | |
präsentiert sich als „Unternehmer-Präsident“, nennt sich einen Mann der | |
„extremen Mitte“. In Bolivien heißt das: rechts. | |
Als Zementmogul wurde er reich. Ihm gehören der höchste Wolkenkratzer | |
Boliviens und das schicke Hotel Los Tajibos in Santa Cruz, dazu die | |
Franchise für Burger King und Subway. Er ist pragmatischer Kapitalist und | |
Mitglied der Sozialistischen Internationalen. Doch er lässt sich ebenso | |
freudig mit Spaniens Pedro Sánchez ablichten wie mit El Salvadors Diktator | |
Salvador Nayib Bukele. Vor über 30 Jahren war er schon einmal in | |
Regierungsverantwortung, als Planungsminister. | |
„Ich bin Unternehmer, kein Berufspolitiker“, pflegt er dennoch zu sagen. Er | |
überlebte eine Entführung durch die peruanische Terrorgruppe [2][Tupac | |
Amaru], einen Flugzeugabsturz – und zuletzt noch ein Blasenkarzinom. | |
Mit seinem größten Konkurrenten aus dem rechten Spektrum wollte er sich | |
ursprünglich verbünden. Am Ende kandidierte jeder einzeln. Jorge „Tuto“ | |
Quiroga, der Industrieingenieur, der mal für IBM arbeitete, sprang vor über | |
20 Jahren ein Jahr lang als Präsident für den erkrankten Ex-Diktator ein. | |
Dann war er jahrelang Opposition. | |
Sie sind sich programmatischso ähnlich, dass eine Zusammenarbeit nach der | |
Wahl wahrscheinlich ist. Beide wollen den heimischen Markt für ausländische | |
Investitionen öffnen, Staatsausgaben eindämmen, den Staat modernisieren. | |
Beide wollen mit den Diktaturen von Venezuela, Kuba und Nicaragua brechen. | |
Stattdessen wollen sie sich mehr Europa, China und Nachbarstaaten zuwenden. | |
Beide haben ein Faible für Monokulturen und gentechnisch verändertes | |
Saatgut. Und beide wollen im vierten Anlauf endlich Bolivien regieren. | |
Einer von beiden wird es wohl schaffen, denn Boliviens Linke steckt in | |
einer tiefen Krise. 20 Jahre lang hat die MAS das Land beherrscht, | |
zeitweise sogar mit Zweidrittelmehrheit im Parlament durchregieren können. | |
In einem Land, in dem rund die Hälfte der Bevölkerung indigener Herkunft | |
ist, war Parteigründer Evo Morales dennoch der erste indigene Präsident des | |
Landes (2006–2019), Sensation und Hoffnungsträger zugleich. | |
Er verhalf vielen Indigenen zu mehr Selbstbewusstsein. Doch dem ehemaligen | |
Kokabauern-Anführer stieg die Macht zu Kopf. Mehrfach veränderte er mit | |
Hilfe des ihm gewogenen Verfassungsgerichts die Verfassung zu seinen | |
Gunsten. Lange war er sehr beliebt – bis er versuchte, die Verfassung zu | |
umgehen und 2019 eine vierte Amtszeit anzustreben. | |
Er gewann zwar die Wahl, trat aber nach heftigen Protesten zurück und floh | |
vorübergehend aus dem Land. Nach dem Sieg seiner Partei und dem Amtsantritt | |
seines ehemaligen Finanzministers Luis Arce als Präsident 2020 kehrte er | |
nach Bolivien zurück. Die rechte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, die bis | |
zur Wahl Arces regierte, sitzt heute im Gefängnis, zu zehn Jahren Haft | |
verurteilt wegen „Pflichtverletzung“ und „verfassungswidriger | |
Entscheidungen“. | |
Mit der Männerfreundschaft zwischen Arce und Morales war es spätestens | |
vorbei, als beide für die Präsidentschaftswahl kandidieren wollten. Arces | |
Parteiflügel setzte Morales als Parteichef ab. | |
Die MAS-Partei ist seitdem gespalten – und das Parlament blockiert. Morales | |
mobilisierte seine Anhänger*innen gegen Arce – auch mit massiven | |
Straßenblockaden, die die Versorgungslage zusätzlich verschärften und im | |
Juni vier Polizisten und vier Demonstrierende das Leben kosteten. Morales | |
behauptet, [3][Arce habe einen Putschversuch] inszeniert – und stecke | |
hinter [4][einem Mordanschlag] gegen ihn. | |
Morales hat sich in seiner Heimat, der Koka-Provinz Chapare, verschanzt. | |
Von dort mischt er weiter mit. Dort bewachen ihn treue, bewaffnete | |
Kokabauern, die die Polizei seit Wochen hindern, ihn festzunehmen. Morales | |
wird [5][per Haftbefehl gesucht]. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm | |
sexuellen Missbrauch Minderjähriger vor. | |
Das Wahlgericht hat ihm eine erneute Teilnahme an der Wahl verboten. Da | |
Arce als Präsident so unbeliebt ist, musste er seine Kandidatur | |
zurückziehen – und unterstützt seitdem seinen ehemaligen Minister Eduardo | |
Del Castillo, der in den Umfragen aber abgeschlagen ist. | |
Der einzige linke Kandidat, der demnach eine Chance hat, ist der | |
Senatspräsident Andrónico Rodríguez. Er stammt wie Morales aus dem Chapare, | |
hat Koka-Gewerkschaftserfahrung und galt lange als Morales’ | |
Wunschnachfolger. | |
In El Alto steht, am Tag vor dem riesigen Wahlkampfabschluss von Doria | |
Medina in der Nachbarstadt, ein Grüppchen am dreckigen Kreisverkehr, kaum | |
auszumachen unter Ständen, Händler*innen, Menschen, die auf Minibusse | |
warten. Eine Frau trägt eine indigene Wiphala-Flagge. Ein paar Männer in | |
Daunenjacken und Schals halten zusammengerollte Plakate in Händen. | |
Mittendrin: Wilma Alanoca. Mit ihren zurückgekämmten schwarzen Haaren, | |
makellos geschminkt, dick getuschten Wimpern, sieht sie aus wie eine | |
Schönheitskönigin. Sie hat sich einen bunten Wollponcho übergeworfen gegen | |
die Kälte. Sie ist Stadträtin von El Alto. Unter Morales war sie Ministerin | |
für Kulturen und Tourismus. Eigentlich wäre sie jetzt seine | |
Vizepräsidentschaftskandidatin. „Aber aufgrund der Verfolgung und | |
Kriminalisierung konnten wir das Ziel, uns anzumelden, nicht erreichen, | |
obwohl wir alle erforderlichen Unterlagen hatten“, sagt sie. | |
Gerade ist sie aus Argentinien zurückgekommen. Dort habe sie den | |
Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel getroffen. Auf der Suche | |
nach internationaler Unterstützung. „Darüber hinaus gibt es gegen Evo kein | |
rechtskräftiges Urteil, es gibt nichts, was ihn daran hindern könnte zu | |
kandidieren.“ Sie haben deshalb mit Evo Morales eine inoffizielle Partei | |
gegründet: Evo Pueblo – Evo, das Volk. Sie verstehen sich als einzige wahre | |
Vertreter*innen der indigenen, ländlichen und armen Bevölkerung. Jetzt | |
machen sie Wahlkampf fürs Voto Nulo – die ungültige Stimme. | |
„Die ungültige Stimme ist für uns Widerstand von links, sie ist eine Stimme | |
für die Würde. Wir werden uns nicht der Rechten beugen und schon gar nicht | |
zulassen, dass diese Leute, die auf dem Stimmzettel stehen, unsere Henker | |
werden“, sagt Alanoca. „Sie werden uns unsere erworbenen Rechte nicht | |
wegnehmen, sie werden uns unsere Lebensmittelgutscheine nicht wegnehmen, | |
sie werden sich unser Lithium nicht aneignen, denn dort wird ein Volk | |
stehen, das den Verrätern seines Landes mit einer ungültigen Stimme die | |
Absage erteilt.“ | |
Durch eine menschenleere Straße ziehen die Männer und Frauen zu dem Haus, | |
das eine Wahlkampfzentrale werden soll, wo Nachbar*innen sich über den | |
Sinn der ungültigen Stimmabgabe informieren können. „Bolivien verteidigt | |
sich mit der ungültigen Stimme“, skandieren die etwa 50 Menschen. „Das | |
vereinigte Volk wird niemals besiegt werden“, „Immer treu, nie Verräter“. | |
Manchmal öffnet sich ein Tor und jemand schaut heraus. Dann drücken sie ihm | |
eine Karte in die Hand: „Das Volk hat keinen Kandidaten. #WähleUngültig.“ | |
steht darauf. | |
Benjamin Jallasi, dessen Eltern indigene Aymara sind, sagt: „Es tut uns | |
Indigenen weh, dass wir nicht an der Wahl teilnehmen.“ 63 Jahre ist er alt, | |
Kunsthandwerker. Als Evo Morales an die Macht kam, habe er auf einmal drei | |
Mal am Tag gegessen, sogar Hühnchen. „Er ist der Einzige, der im Herzen | |
keinen Verrat trägt.“ Jallasi hat Angst, sagt er. Denn er ist sicher, dass | |
die Rechte gewinnt. „Ich habe Angst, dass sie uns politisch verfolgen, ins | |
Gefängnis stecken.“ Schließlich habe sie das auch Evo Morales angedroht. | |
Tatsächlich ist das nicht unwahrscheinlich. Denn egal, ob rechts oder | |
links: In Bolivien sind sich alle einig, dass die Justiz nicht unabhängig, | |
sondern politisch ist. | |
## Mit Trommeln, Böllern und blauem Drachen | |
Ein paar Straßen weiter warten in jener eisigen Nacht in El Alto mindestens | |
100 Menschen auf Mariana Prado, die Vizepräsidentschaftskandidatin des | |
linken Andrónico Rodríguez.Die Menschen hier sind deutlich jünger als die | |
Anhängerschaft bei Evo Pueblo, sie haben mehrere Trommelgruppen dabei, | |
haben teils vorgeglüht und sparen nicht an Böllern. Aus irgendeinem Grund | |
läuft ein blauer chinesischer Drachen mit. | |
Laura will ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Die 30-Jährige | |
sagt: „Ich bin für Andrónico, weil er die Jungen repräsentiert. Die meisten | |
bei Wahlen sind alt. Er sagt, er wird die Justiz respektieren. Ganz klar | |
hat er nicht gesagt, was er mit den Investitionen machen will. Das wird | |
noch kommen.“ Sie vertraue ihm, ohne mehr zu wissen. | |
Einst Teil von MAS, hat Andrónico Rodríguez die Partei zuletzt kritisiert. | |
Als Senatspräsident hat er seine Fähigkeit zur Vermittlung bewiesen – | |
immerhin wurde er vier Mal in Folge wiedergewählt, über alle Parteigrenzen | |
hinweg. Im ohnehin schon schwammigen Wahlkampf ist er besonders schwammig. | |
„Wenn er redet, sagt er nicht viel“, fasst es der Politologe José Peralta | |
zusammen. Aber er sagt auch: Es gibt – mit oder ohne Evo Morales – immer | |
noch Menschen, die sich gefühlsmäßig, sozial und ethnisch mit der Linken | |
identifizieren, wie sie MAS einst repräsentierte. Und diese Lücke könnte | |
Andrónico Rodríguez womöglich füllen. | |
## Der Aufruf von Evo Morales sei „fatal“ | |
Susana Bejarano ist Politologin, politische Analystin und kandidiert für | |
Andrónico Rodriguez’ Partei für den Senat. „Ich war schon immer links. | |
Diese Haltung habe ich als Journalistin und politische Analystin nie | |
verheimlicht“, sagt sie. Sie engagiere sich gegen Rassismus, weil sie | |
glaube, dass dies die größte Wunde des Landes sei. | |
„Das hat nicht nur soziale Schmerzen verursacht, sondern auch einen | |
wirtschaftlichen Prozess der Entfremdung mit sich gebracht.“ Jeder, der | |
diese politischen Ideen in seiner Führung verkörpere, werde ihre | |
Unterstützung erhalten. „Früher war es Evo Morales, dann war es Luis Arce, | |
heute ist es Andrónico Rodríguez.“ Als ihre Kandidatur bekannt wurde, | |
versuchte Morales, sie mit Lügen auf X zu diskreditieren. | |
„Evo glaubt, er sei das politische Projekt. Zuletzt erklärte er, er sei ein | |
Gottgesandter.“ Doch das linke Projekt könnten auch andere, sagt Bejarano. | |
Für sie ist der Aufruf von Evo Morales, ungültig zu wählen, fatal. „Eine | |
ungültige Stimme wird, wie in jedem demokratischen politischen System, | |
einfach annulliert.“ Das spiele der Rechten in die Arme. „Unverantwortlich�… | |
sei das. Auch gegenüber den Verdiensten seiner eigenen Regierung und | |
gegenüber dem Land. | |
„Wir wissen, dass es in Bolivien einen bedeutenden Vormarsch der Rechten | |
gibt“, sagt Bejarano. „Nicht aufgrund der Verdienste der Rechten, sondern | |
aufgrund der Versäumnisse und Fehler der Linken.“ Der Rechtsruck sei zudem | |
ein weltweiter Trend. „Andrónico ist die Option Erneuerung.“ Und er sei der | |
Einzige, der statt des Internationalen Währungsfonds lieber unter anderem | |
Kredite aus China ins Land holen wolle, um das Devisenproblem zu lösen. | |
Was Bejarano besonders beschäftigt, sollte sie gewählt werden: Das | |
Parlament muss wieder mehr Befugnisse bekommen. Die hat Präsident Arce ihm | |
mit Hilfe der Gerichte weggenommen. So hat die Gerichtsgewalt dem Parlament | |
die Kontrollkompetenz über vom Präsidenten ausgewählte Akteure entzogen. | |
Sie befürchtet, dass die Rechte ohne eine starke Opposition die einstigen | |
Errungenschaften in Sachen Sozialrechte wieder zunichtemacht. „Dann könnten | |
die Armen im Namen der Krise diese wieder verlieren.“ Oder dass die | |
Opposition nicht groß genug sein wird, um die Ankunft des IWF zu | |
verhindern. Das habe sie motiviert, zu kandidieren. | |
## Apathie statt Enthusiasmus | |
Obwohl in wenigen Tagen gewählt wird, ist von Wahlkampf auf den Straßen und | |
in den Gesprächen der Bürger*innen insgesamt wenig zu spüren. Es | |
herrscht eher Apathie statt Wahlenthusiasmus. Kein Wunder, denn viele | |
Menschen haben andere Sorgen als die Wahl, es geht häufig ums Überleben. | |
„Es ist nur ruhig, weil am Sonntag Wahlen sind. Sonst hätten wir das alles | |
schon in die Luft gejagt“, sagt der Publizist Carlos Valverde. | |
Morales hat diese Woche verkündet, dass seine Anhänger*innen auf die | |
Straße gehen würden, wenn nach 20 Jahren Sozialismus eine rechte Regierung | |
an die Macht käme. Aus seinem Versteck im Dschungel der Provinz Chapare | |
heraus sagte er der Nachrichtenagentur AFP: „Ich werde das bolivianische | |
Volk nicht im Stich lassen.“ | |
Samuel Doria Medina sieht das gelassen. Wie wird die Stimmung in Bolivien | |
am Montag sein? „Der Montag wird ein Feiertag sein, und der Dollar wird | |
fallen, weil das Vertrauen in den neuen Präsidenten groß sein wird.“ Also | |
Ruhe statt Rebellion? „Welche Rebellion? Evo Morales war ein großer | |
Gorilla. Jetzt ist er ein Äffchen. Er wird keine Vertretung im Parlament | |
haben. Das ist die Realität.“ | |
16 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Wojczenko | |
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