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# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Bolivien: Die Farbe gelb, die Hoffnung gro…
> Am Sonntag wählt Bolivien einen neuen Präsidenten. Nach 20 Jahren wird
> die sozialistische MAS ihre Macht verlieren. Was bedeutet das für die
> Armen im Land?
Bild: Auf der Abschlussveranstaltung umringt von Tausenden Anhänger*innen: Pr�…
La Paz und El Alto taz | Mariela Pabón Limachi spricht ganz ruhig. Doch die
studierte Physiotherapeutin ist verärgert. Vier Jahre hat sie in einem
privaten Krankenhaus gearbeitet, erzählt sie. Dann wurde sie im vergangenen
Jahr entlassen. Trotz ihrer Diplome und Masterabschlüsse. Ihren
Arbeitsplatz bekam jemand, der zwar keine Abschlüsse vorzuweisen hatte.
Aber die Person sei in der Partei, habe ihre ehemalige Chefin gesagt.
Gemeint ist die Bewegung für den Sozialismus (MAS), die den Präsidenten
Boliviens stellt. „Das tut so weh.“
Auch deshalb will Pabón Limachi bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag für
den Herausforderer, den Unternehmer Samuel Doria Medina, stimmen. „Damit
junge, qualifizierte Leute eine Chance haben.“
Es ist wenige Tage vor der Wahl. Die Sonne brennt vom Himmel auf 3.600
Meter Höhe. Die Luft in Boliviens Verwaltungshauptstadt La Paz ist dünn und
staubtrocken. Mariela Pabón Limachi steht am nordwestlichen Stadtrand, wo
die Häuser der Nachbarstadt El Alto nahe sind, zusammen mit einer Gruppe
junger Leute aus ihrem Heimatort Mecapaca.
Heute begehen die Anhänger*innen von Samuel Doria Medina, dem laut
Umfragen aussichtsreichsten Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl, mit
einem Marsch durch La Paz seinen Wahlkampfabschluss. Der Anfang des Zugs
ist längst nicht mehr in Sicht, so viele Menschen sind gekommen.
## Genug von links
Diesen Sonntag können 7,9 Millionen Bolivianer*innen ihren neuen
Präsidenten wählen; dazu die Abgeordneten des Parlaments. Erreicht keiner
der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen oder 40 Prozent mit
mindestens 10 Prozent Abstand zum Zweitplatzierten, geht es am 19. Oktober
in die Stichwahl. Acht Kandidaten treten an – doch laut Umfragen kommt
keiner von ihnen über 25 Prozent. Zusammengerechnet etwa ein Drittel der
Wähler*innen ist demnach unentschlossen, will ungültig oder mit leerem
Stimmzettel wählen.
Obwohl die Umfragen in Bolivien bekannt sind für ihre Unzuverlässigkeit,
scheint eins doch sicher: Mit der Herrschaft der MAS-Partei wird nach 20
Jahren Schluss sein. Ihr Kandidat dümpelt bei 2 Prozent herum. Die Wahl
könnte zugleich das Ende der Partei bedeuten. Denn erreicht ihr Kandidat
weniger als 3 Prozent, verliert die Partei ihren Namen. Auch gut möglich,
dass eine Mehrheit der Bolivianer*innen nach 20 Jahren MAS von der
gesamten Linken genug hat. Die beiden führenden Kandidaten liegen nur
hauchdünn auseinander – und stammen beide aus dem rechten Spektrum.
Einer von ihnen ist Samuel Doria Medina. Bei seinem Wahlkampfabschluss,
hier am nordwestlichen Stadtrand, sieht La Paz aus wie an vielen Ecken.
Einige unverputzte Ziegelbauten, wo immer eine Etage dazukam, wenn Geld da
war, viele kleine Geschäfte, Minibusse, die den Berg hochkriechen, in die
Jahre gekommene Gebäude, deren bunte Anstriche die krasse Sonne verbleichen
ließ. Auf den halsbrecherischen Gehsteigen laufen indigene Frauen mit
dicken Zöpfen, Hüten und dicken bunten Röcken, die Obst und Gemüse
verkaufen, Frittiertes, und allerlei andere fliegende Händler. Über der
Straße spannen sich Stromleitungen. An manche sind gelbe Plastikfahnen mit
dem Namen des Kandidaten Doria Medina gebunden.
„No más filas“ – keine Warteschlange mehr für Benzin, brüllen die Mens…
Und immer wieder: „100 días, carajo“ – „100 Tage, verdammt!“ Denn in…
Tagen will Samuel Doria Medina das Land umkrempeln, hat er versprochen.
Mariela Pabón Limachi hat immer noch keine neue Arbeit gefunden. Jetzt ist
die 32-Jährige daheim mit ihrer kleinen Tochter. Ihr Partner habe zum Glück
Arbeit. Und sie verdiene sich etwas dazu, indem sie Geld von ihrem
Ersparten gegen Zinsen verleihe. Denn Schuldenmachen boomt. Bolivien steckt
in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 40 Jahren. Alles ist teurer
geworden, so teuer, dass sie daheim kaum mehr Fleisch essen. „Und ich bin
nicht arm, ich bin Mittelschicht, eine studierte Fachkraft.“
Die Inflation liegt bei 25 Prozent – eine der höchsten Lateinamerikas.
Lebensmittel werden immer teurer. Benzin und vor allem Diesel, den das Land
fast komplett importiert, sind knapp. Vor Tankstellen stehen Lastwagen
Schlange. Bolivien ist abhängig von Importen – doch der Staat hat kaum mehr
Dollars. Offiziell kostet ein US-Dollar rund 7 Bolivianos. Der inoffizielle
Kurs ist doppelt so hoch.
Verpufft sind die riesigen Einnahmen aus Gasverkäufen während [1][Evo
Morales]’ Anfangszeiten. Mit denen hatte die Regierung des damaligen
Präsidenten von der MAS Lebensmittel und Treibstoff subventioniert,
Sozialprogramme finanziert und in Infrastruktur investiert. Der Gaspreis
ist gesunken, zudem geht Bolivien das Gas aus. Der Staat musste auf seine
Devisenrücklagen zurückgreifen. 2024 machten Subventionen für Treibstoff
und Lebensmittel unter MAS-Präsident Luis Arce mehr als 4 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts aus.
„Die Linke sagt, dass sie dem Armen hilft zu wachsen. Doch stattdessen
bereichert sie sich und auf der Straße gibt es Menschen, die betteln“, sagt
Pabón Limachi. „Aber ich glaube daran, dass Samuel Doria Medina das
ändert.“
Doria Medina ist Unternehmer, hier geboren und sei trotz der Krise
geblieben. „Er gibt uns Hoffnung, dass dieses Land wachsen kann.“
Jungwähler*innen zwischen 18 und 35 Jahren wie Pabón Limachi machen 44
Prozent aus. Und zumindest sie hat die Nase voll: „Schluss mit der Linken,
mit dem Sozialismus. Wir sind es leid. Wir wollen eine bessere Zukunft.“
Plötzlich taucht der Kandidat auf, mitten in der Menge, zwei Blumenkränze
um den Hals. Blaue Fleecejacke über dem Hemd, graue Hose.
Journalist*innen und Anhänger*innen stürzen sich auf ihn. Die einen
mit Mikros und Kameras, die anderen mit Umarmungen und Fotowünschen. Will
er in 100 Tagen tatsächlich das ganze Land verändern?
Doria Medina antwortet: „Nein. Wir werden die Wirtschaft stabilisieren. Wir
werden die Inflation stoppen. Wir werden dafür sorgen, dass die Dollars
zurückkommen und dass es wieder Treibstoff gibt.“ Natürlich würden alle
Exportbeschränkungen aufgehoben, die Ausgaben gesenkt. „Es gibt zu hohe
Defizite, zu hohe Ausgaben, zu viel Verschwendung. Und drittens werden wir
einen Stabilisierungsfonds einrichten.“
Blaskapellen, indigene Volkstanzgruppen in schillernden Kostümen,
trommelnde Afrobolivianer*innen, Lamas. Dazwischen überall Menschen und
Gruppen, die gekommen sind, um ihren Kandidaten zu unterstützen. Alte,
Junge, manche mit Kindern. Fast alle tragen Gelb, und wenn es nur ein Tuch
ist, die Farbe seines Wahlkampfbündnisses.
Als die gelbe Riesenschlange rund vier Stunden später an der zentralen
Plaza Bolivia ankommt und Doria Medina vor einem Menschenmeer eine
Ansprache hält, ist es schon dunkel. 100.000 hören ihm geschätzt zu.
Es ist sein vierter Anlauf auf die Präsidentschaft, diesmal für das
Oppositionsbündnis Alianza Unidad. Der 66-Jährige, der 6 Kinder hat,
präsentiert sich als „Unternehmer-Präsident“, nennt sich einen Mann der
„extremen Mitte“. In Bolivien heißt das: rechts.
Als Zementmogul wurde er reich. Ihm gehören der höchste Wolkenkratzer
Boliviens und das schicke Hotel Los Tajibos in Santa Cruz, dazu die
Franchise für Burger King und Subway. Er ist pragmatischer Kapitalist und
Mitglied der Sozialistischen Internationalen. Doch er lässt sich ebenso
freudig mit Spaniens Pedro Sánchez ablichten wie mit El Salvadors Diktator
Salvador Nayib Bukele. Vor über 30 Jahren war er schon einmal in
Regierungsverantwortung, als Planungsminister.
„Ich bin Unternehmer, kein Berufspolitiker“, pflegt er dennoch zu sagen. Er
überlebte eine Entführung durch die peruanische Terrorgruppe [2][Tupac
Amaru], einen Flugzeugabsturz – und zuletzt noch ein Blasenkarzinom.
Mit seinem größten Konkurrenten aus dem rechten Spektrum wollte er sich
ursprünglich verbünden. Am Ende kandidierte jeder einzeln. Jorge „Tuto“
Quiroga, der Industrieingenieur, der mal für IBM arbeitete, sprang vor über
20 Jahren ein Jahr lang als Präsident für den erkrankten Ex-Diktator ein.
Dann war er jahrelang Opposition.
Sie sind sich programmatischso ähnlich, dass eine Zusammenarbeit nach der
Wahl wahrscheinlich ist. Beide wollen den heimischen Markt für ausländische
Investitionen öffnen, Staatsausgaben eindämmen, den Staat modernisieren.
Beide wollen mit den Diktaturen von Venezuela, Kuba und Nicaragua brechen.
Stattdessen wollen sie sich mehr Europa, China und Nachbarstaaten zuwenden.
Beide haben ein Faible für Monokulturen und gentechnisch verändertes
Saatgut. Und beide wollen im vierten Anlauf endlich Bolivien regieren.
Einer von beiden wird es wohl schaffen, denn Boliviens Linke steckt in
einer tiefen Krise. 20 Jahre lang hat die MAS das Land beherrscht,
zeitweise sogar mit Zweidrittelmehrheit im Parlament durchregieren können.
In einem Land, in dem rund die Hälfte der Bevölkerung indigener Herkunft
ist, war Parteigründer Evo Morales dennoch der erste indigene Präsident des
Landes (2006–2019), Sensation und Hoffnungsträger zugleich.
Er verhalf vielen Indigenen zu mehr Selbstbewusstsein. Doch dem ehemaligen
Kokabauern-Anführer stieg die Macht zu Kopf. Mehrfach veränderte er mit
Hilfe des ihm gewogenen Verfassungsgerichts die Verfassung zu seinen
Gunsten. Lange war er sehr beliebt – bis er versuchte, die Verfassung zu
umgehen und 2019 eine vierte Amtszeit anzustreben.
Er gewann zwar die Wahl, trat aber nach heftigen Protesten zurück und floh
vorübergehend aus dem Land. Nach dem Sieg seiner Partei und dem Amtsantritt
seines ehemaligen Finanzministers Luis Arce als Präsident 2020 kehrte er
nach Bolivien zurück. Die rechte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, die bis
zur Wahl Arces regierte, sitzt heute im Gefängnis, zu zehn Jahren Haft
verurteilt wegen „Pflichtverletzung“ und „verfassungswidriger
Entscheidungen“.
Mit der Männerfreundschaft zwischen Arce und Morales war es spätestens
vorbei, als beide für die Präsidentschaftswahl kandidieren wollten. Arces
Parteiflügel setzte Morales als Parteichef ab.
Die MAS-Partei ist seitdem gespalten – und das Parlament blockiert. Morales
mobilisierte seine Anhänger*innen gegen Arce – auch mit massiven
Straßenblockaden, die die Versorgungslage zusätzlich verschärften und im
Juni vier Polizisten und vier Demonstrierende das Leben kosteten. Morales
behauptet, [3][Arce habe einen Putschversuch] inszeniert – und stecke
hinter [4][einem Mordanschlag] gegen ihn.
Morales hat sich in seiner Heimat, der Koka-Provinz Chapare, verschanzt.
Von dort mischt er weiter mit. Dort bewachen ihn treue, bewaffnete
Kokabauern, die die Polizei seit Wochen hindern, ihn festzunehmen. Morales
wird [5][per Haftbefehl gesucht]. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm
sexuellen Missbrauch Minderjähriger vor.
Das Wahlgericht hat ihm eine erneute Teilnahme an der Wahl verboten. Da
Arce als Präsident so unbeliebt ist, musste er seine Kandidatur
zurückziehen – und unterstützt seitdem seinen ehemaligen Minister Eduardo
Del Castillo, der in den Umfragen aber abgeschlagen ist.
Der einzige linke Kandidat, der demnach eine Chance hat, ist der
Senatspräsident Andrónico Rodríguez. Er stammt wie Morales aus dem Chapare,
hat Koka-Gewerkschaftserfahrung und galt lange als Morales’
Wunschnachfolger.
In El Alto steht, am Tag vor dem riesigen Wahlkampfabschluss von Doria
Medina in der Nachbarstadt, ein Grüppchen am dreckigen Kreisverkehr, kaum
auszumachen unter Ständen, Händler*innen, Menschen, die auf Minibusse
warten. Eine Frau trägt eine indigene Wiphala-Flagge. Ein paar Männer in
Daunenjacken und Schals halten zusammengerollte Plakate in Händen.
Mittendrin: Wilma Alanoca. Mit ihren zurückgekämmten schwarzen Haaren,
makellos geschminkt, dick getuschten Wimpern, sieht sie aus wie eine
Schönheitskönigin. Sie hat sich einen bunten Wollponcho übergeworfen gegen
die Kälte. Sie ist Stadträtin von El Alto. Unter Morales war sie Ministerin
für Kulturen und Tourismus. Eigentlich wäre sie jetzt seine
Vizepräsidentschaftskandidatin. „Aber aufgrund der Verfolgung und
Kriminalisierung konnten wir das Ziel, uns anzumelden, nicht erreichen,
obwohl wir alle erforderlichen Unterlagen hatten“, sagt sie.
Gerade ist sie aus Argentinien zurückgekommen. Dort habe sie den
Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel getroffen. Auf der Suche
nach internationaler Unterstützung. „Darüber hinaus gibt es gegen Evo kein
rechtskräftiges Urteil, es gibt nichts, was ihn daran hindern könnte zu
kandidieren.“ Sie haben deshalb mit Evo Morales eine inoffizielle Partei
gegründet: Evo Pueblo – Evo, das Volk. Sie verstehen sich als einzige wahre
Vertreter*innen der indigenen, ländlichen und armen Bevölkerung. Jetzt
machen sie Wahlkampf fürs Voto Nulo – die ungültige Stimme.
„Die ungültige Stimme ist für uns Widerstand von links, sie ist eine Stimme
für die Würde. Wir werden uns nicht der Rechten beugen und schon gar nicht
zulassen, dass diese Leute, die auf dem Stimmzettel stehen, unsere Henker
werden“, sagt Alanoca. „Sie werden uns unsere erworbenen Rechte nicht
wegnehmen, sie werden uns unsere Lebensmittelgutscheine nicht wegnehmen,
sie werden sich unser Lithium nicht aneignen, denn dort wird ein Volk
stehen, das den Verrätern seines Landes mit einer ungültigen Stimme die
Absage erteilt.“
Durch eine menschenleere Straße ziehen die Männer und Frauen zu dem Haus,
das eine Wahlkampfzentrale werden soll, wo Nachbar*innen sich über den
Sinn der ungültigen Stimmabgabe informieren können. „Bolivien verteidigt
sich mit der ungültigen Stimme“, skandieren die etwa 50 Menschen. „Das
vereinigte Volk wird niemals besiegt werden“, „Immer treu, nie Verräter“.
Manchmal öffnet sich ein Tor und jemand schaut heraus. Dann drücken sie ihm
eine Karte in die Hand: „Das Volk hat keinen Kandidaten. #WähleUngültig.“
steht darauf.
Benjamin Jallasi, dessen Eltern indigene Aymara sind, sagt: „Es tut uns
Indigenen weh, dass wir nicht an der Wahl teilnehmen.“ 63 Jahre ist er alt,
Kunsthandwerker. Als Evo Morales an die Macht kam, habe er auf einmal drei
Mal am Tag gegessen, sogar Hühnchen. „Er ist der Einzige, der im Herzen
keinen Verrat trägt.“ Jallasi hat Angst, sagt er. Denn er ist sicher, dass
die Rechte gewinnt. „Ich habe Angst, dass sie uns politisch verfolgen, ins
Gefängnis stecken.“ Schließlich habe sie das auch Evo Morales angedroht.
Tatsächlich ist das nicht unwahrscheinlich. Denn egal, ob rechts oder
links: In Bolivien sind sich alle einig, dass die Justiz nicht unabhängig,
sondern politisch ist.
## Mit Trommeln, Böllern und blauem Drachen
Ein paar Straßen weiter warten in jener eisigen Nacht in El Alto mindestens
100 Menschen auf Mariana Prado, die Vizepräsidentschaftskandidatin des
linken Andrónico Rodríguez.Die Menschen hier sind deutlich jünger als die
Anhängerschaft bei Evo Pueblo, sie haben mehrere Trommelgruppen dabei,
haben teils vorgeglüht und sparen nicht an Böllern. Aus irgendeinem Grund
läuft ein blauer chinesischer Drachen mit.
Laura will ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Die 30-Jährige
sagt: „Ich bin für Andrónico, weil er die Jungen repräsentiert. Die meisten
bei Wahlen sind alt. Er sagt, er wird die Justiz respektieren. Ganz klar
hat er nicht gesagt, was er mit den Investitionen machen will. Das wird
noch kommen.“ Sie vertraue ihm, ohne mehr zu wissen.
Einst Teil von MAS, hat Andrónico Rodríguez die Partei zuletzt kritisiert.
Als Senatspräsident hat er seine Fähigkeit zur Vermittlung bewiesen –
immerhin wurde er vier Mal in Folge wiedergewählt, über alle Parteigrenzen
hinweg. Im ohnehin schon schwammigen Wahlkampf ist er besonders schwammig.
„Wenn er redet, sagt er nicht viel“, fasst es der Politologe José Peralta
zusammen. Aber er sagt auch: Es gibt – mit oder ohne Evo Morales – immer
noch Menschen, die sich gefühlsmäßig, sozial und ethnisch mit der Linken
identifizieren, wie sie MAS einst repräsentierte. Und diese Lücke könnte
Andrónico Rodríguez womöglich füllen.
## Der Aufruf von Evo Morales sei „fatal“
Susana Bejarano ist Politologin, politische Analystin und kandidiert für
Andrónico Rodriguez’ Partei für den Senat. „Ich war schon immer links.
Diese Haltung habe ich als Journalistin und politische Analystin nie
verheimlicht“, sagt sie. Sie engagiere sich gegen Rassismus, weil sie
glaube, dass dies die größte Wunde des Landes sei.
„Das hat nicht nur soziale Schmerzen verursacht, sondern auch einen
wirtschaftlichen Prozess der Entfremdung mit sich gebracht.“ Jeder, der
diese politischen Ideen in seiner Führung verkörpere, werde ihre
Unterstützung erhalten. „Früher war es Evo Morales, dann war es Luis Arce,
heute ist es Andrónico Rodríguez.“ Als ihre Kandidatur bekannt wurde,
versuchte Morales, sie mit Lügen auf X zu diskreditieren.
„Evo glaubt, er sei das politische Projekt. Zuletzt erklärte er, er sei ein
Gottgesandter.“ Doch das linke Projekt könnten auch andere, sagt Bejarano.
Für sie ist der Aufruf von Evo Morales, ungültig zu wählen, fatal. „Eine
ungültige Stimme wird, wie in jedem demokratischen politischen System,
einfach annulliert.“ Das spiele der Rechten in die Arme. „Unverantwortlich�…
sei das. Auch gegenüber den Verdiensten seiner eigenen Regierung und
gegenüber dem Land.
„Wir wissen, dass es in Bolivien einen bedeutenden Vormarsch der Rechten
gibt“, sagt Bejarano. „Nicht aufgrund der Verdienste der Rechten, sondern
aufgrund der Versäumnisse und Fehler der Linken.“ Der Rechtsruck sei zudem
ein weltweiter Trend. „Andrónico ist die Option Erneuerung.“ Und er sei der
Einzige, der statt des Internationalen Währungsfonds lieber unter anderem
Kredite aus China ins Land holen wolle, um das Devisenproblem zu lösen.
Was Bejarano besonders beschäftigt, sollte sie gewählt werden: Das
Parlament muss wieder mehr Befugnisse bekommen. Die hat Präsident Arce ihm
mit Hilfe der Gerichte weggenommen. So hat die Gerichtsgewalt dem Parlament
die Kontrollkompetenz über vom Präsidenten ausgewählte Akteure entzogen.
Sie befürchtet, dass die Rechte ohne eine starke Opposition die einstigen
Errungenschaften in Sachen Sozialrechte wieder zunichtemacht. „Dann könnten
die Armen im Namen der Krise diese wieder verlieren.“ Oder dass die
Opposition nicht groß genug sein wird, um die Ankunft des IWF zu
verhindern. Das habe sie motiviert, zu kandidieren.
## Apathie statt Enthusiasmus
Obwohl in wenigen Tagen gewählt wird, ist von Wahlkampf auf den Straßen und
in den Gesprächen der Bürger*innen insgesamt wenig zu spüren. Es
herrscht eher Apathie statt Wahlenthusiasmus. Kein Wunder, denn viele
Menschen haben andere Sorgen als die Wahl, es geht häufig ums Überleben.
„Es ist nur ruhig, weil am Sonntag Wahlen sind. Sonst hätten wir das alles
schon in die Luft gejagt“, sagt der Publizist Carlos Valverde.
Morales hat diese Woche verkündet, dass seine Anhänger*innen auf die
Straße gehen würden, wenn nach 20 Jahren Sozialismus eine rechte Regierung
an die Macht käme. Aus seinem Versteck im Dschungel der Provinz Chapare
heraus sagte er der Nachrichtenagentur AFP: „Ich werde das bolivianische
Volk nicht im Stich lassen.“
Samuel Doria Medina sieht das gelassen. Wie wird die Stimmung in Bolivien
am Montag sein? „Der Montag wird ein Feiertag sein, und der Dollar wird
fallen, weil das Vertrauen in den neuen Präsidenten groß sein wird.“ Also
Ruhe statt Rebellion? „Welche Rebellion? Evo Morales war ein großer
Gorilla. Jetzt ist er ein Äffchen. Er wird keine Vertretung im Parlament
haben. Das ist die Realität.“
16 Aug 2025
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## AUTOREN
Katharina Wojczenko
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