# taz.de -- Detlef Diederichsen Böse Musik: Die schlimmste Ära der Popkultur? | |
> Altstars gehen regelmäßig auf Tour, so sie noch jemand sehen will und die | |
> Gesundheit noch mitspielt. Das hat nichts mit Retromania zu tun. | |
Bild: Madonna, im Geiste jung, im Stile 80er | |
Wie alles andere, so kehrt auch die Aufregung über die vermeintliche | |
„Retromania“ in der Popwelt in regelmäßigen Abständen zurück – wird q… | |
selbst Opfer von [1][Retromania –, seit Simon Reynolds den Begriff 2011 in | |
die Vorstellungswelt der Pop-Denkenden eingeführt hat]. So auch jetzt | |
wieder. | |
Allerdings hat sich der Begriff mittlerweile anscheinend weiterentwickelt. | |
In der Welt klagte kürzlich Jens Ulrich Eckhard: „Madonna bringt ein | |
Remix-Album ihrer Hits aus den 90ern raus. Iggy Pop kehrt mit 78 Jahren auf | |
die Bühne zurück. [2][Bruce Springsteen] veröffentlicht mit ‚Tracks II‘ … | |
sieben Alben umfassendes Monumental-Werk. Oasis auf Reunion Tour. Und auch | |
Coldplay klimpert sich wieder durch die Weltgeschichte.“ | |
Dass Altstars regelmäßig auf Tour gehen, so sie noch jemand sehen will und | |
die Gesundheit noch mitspielt, hat nichts mit Retromania im Reynolds’schen | |
Sinne zu tun und war darüber hinaus schon immer so. Auch dass Madonna ihr | |
bislang unveröffentlichtes 1998er-Remix-Album „Veronica Electronica“ in | |
überarbeiteter Form jetzt herausbringt, wird nicht von dem Begriff | |
abgedeckt, zumal die Musik ja eher eine Weiterentwicklung beziehungsweise | |
Distanzierung vom Retromania-fähigen Originalsound der Hits ist. | |
Reynolds ging es eher darum, dass die bequeme Beschwörung der gesichert | |
coolen Popvergangenheit in ihrer Look-&-Feel-Ganzheit ein Verstecken in | |
einem gegen kritische Anwandlungen unangreifbaren Territorium ist und dass | |
die Verlockung zu Re-enactments hoffnungsvolle junge Talente aus dem Pool | |
potenzieller Erneuerer heraussaugt und uns womöglich auf ewig in eine | |
Wiederholungsschleifenhölle wirft. | |
## Blasse glorreiche Vergangenheit | |
Aber man kann Reynolds beruhigen: Die Zahl der Velvet-Underground-, | |
„Keef“-Richards- oder Syd-Barrett-vergötternden Nachwuchsbands ist stark | |
zurückgegangen. Zu blass ist die glorreiche Vergangenheit mittlerweile, als | |
dass sie die Teenager von heute zu mehr als einem Hinzufügen zu einer | |
Playlist animieren könnte. | |
Da die Musik der vergangenen hundert Jahre unterschiedslos neben den erst | |
letzte Woche produzierten Tracks für junge Musikinteressierte verfügbar | |
ist, wird der Algorithmus schnell verstehen, dass er Musik aus allen | |
Epochen und der ganzen Welt vorschlagen darf, sodass am Ende auf der | |
Playlist der jungen Neugierigen [3][Die Heiterkeit] neben Masayoshi | |
Takanaka und Normal Nada The Krakmaxter neben Marilia Medalha landet. Die | |
jeweiligen kulturellen und historischen Zusammenhänge, das „große Bild“, | |
kann da schon mal außen vor bleiben – je nach Tiefe des Interesses –, was | |
man beklagen kann. | |
Auf der anderen Seite spielt der inkriminierte Retro-Spirit, der nicht nur | |
eine Musik, sondern ein komplettes Lebensgefühl aus dem Orkus zurückzuholen | |
trachtet, auf dass man es sich überstülpt und darunter vor der Welt | |
versteckt, hier nun so gar keine Rolle mehr. | |
Für seinen Text „Is This The Worst-Ever Era of American Pop Culture?“ | |
besuchte der The-Atlantic-Autor Spencer Kornhaber unlängst die führenden | |
Pop-Pessimist*innen der USA. Neben Klagen über den Zustand der | |
Musikindustrie, das Verschwinden des Albums und anderen Dauerbrennern | |
durchzieht vor allem ein Unwohlsein aufgrund der starken Präsenz älterer | |
Musik die Analysen der Kritiker*innen: „In meiner Generation hörte niemand, | |
den ich kannte, die Musik seiner Eltern“, sagt der 67-jährige Musiker und | |
Autor Ted Gioia. | |
Ich weiß nicht, welche Musik Ted Gioias Eltern gehört haben. Aber ohne die | |
Rückbesinnung und Neuentdeckung der Folk- und vor allem Blues-Musik der | |
1920er und 1930er Jahre hätten Bob Dylan, die Rolling Stones, Jimi Hendrix | |
und eigentlich fast die gesamte Boomer-Generation ganz andere oder gar | |
keine Musik gemacht. Wie schon William Faulkner sagte: „The past is never | |
dead. It’s not even past.“ | |
16 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Retromania-endlich-auf-Deutsch/!5081791 | |
[2] /Deutschlandtour-von-Bruce-Springsteen/!6093438 | |
[3] /Interview-mit-Musikerin-Stella-Sommer/!5579649 | |
## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Kolumne Böse Musik | |
Retro | |
Rockstars | |
Madonna | |
Iggy Iop | |
Oasis | |
Bruce Springsteen | |
Popmusik | |
Social-Auswahl | |
GNS | |
Kulturkolumnen | |
Kolumne Böse Musik | |
Beach Boys | |
wochentaz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Von Spotify zur Waffenschmiede: Missbrauch von Musikgerät | |
Der Musik-Streamingdienst Spotify ist der Musik selbst nicht zuträglich. | |
Aber ordentliche Gewinne macht er, die er in fragwürdige Industrien steckt. | |
Zum Tod von Beach Boy Brian Wilson: Tragödien, Surfer und Teenagesinfonien | |
Mit den Beach Boys schuf Brian Wilson unbeschwerte Welthits voll | |
kalifornischer Sonne. Als Mensch hatte es der begnadete Komponist nicht so | |
leicht. | |
Schöne neue digitale Kunst: Eine KI gibt sich im Buch als Autor zu erkennen | |
Die Kommentare von Schreib-KIs sollte man nicht in seinem Roman | |
stehenlassen. Und die Synchronsprecher Hollywoods sollten sich warm | |
ansprechen. |