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# taz.de -- Die Wahrheit: Lausige Familienzusammenführung
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (224): So klein
> Kopfläuse sind, so gewaltig sind ihre medizinischen und sozialen
> Einflüsse.
Bild: Es ist nicht immer der Affe, der laust
Die Kinder meiner Freundin Katja wurden von der Schule nach Hause
geschickt, weil sie Kopfläuse hatten. Ihre Mutter ist berufstätig und
konnte nicht einfach mit ihnen zu Hause bleiben. Sie bekämpfte die
Kopfläuse sofort – und ging dann mit ihren Kindern zum Arzt, der ihnen
bescheinigte, läusefrei zu sein. In der Schule benötigte man aber noch eine
Bescheinigung vom Amtsarzt. Dazu musste sie ins Berliner Landesamt für
Gesundheit und Soziales „LAGeSo“ gehen. Dass es zu der Zeit gerade von
Flüchtlingen umlagert war, wusste Katja nicht. Als sie dort hinkam,
gelangte sie nur bis zur Eingangstür: Es gab dort keine Warteschlangen. Sie
drehte sich um und rief in die Menge, die vor dem Gebäude stand: „Wer ist
wegen Läusen hier?“ Keiner meldete sich.
Der Dichter Alexander Krohn, verheiratet, drei Kinder, schreibt in seinem
Prosaband „Ohrstäbchen in der Kathedrale“ (2018): „Ich holte das Kind we…
seiner Läuse vom Kindergarten ab, zog es aus und setzte es mit einer
Läusepackung in die Badewanne. Ich steckte seine Sachen in die
Waschmaschine und sammelte auf dem Bett Stofftiere und Schlafanzug für den
nächsten Waschgang zusammen. Dann zog ich Laken, Kopfkissen und Bettbezug
ab und brachte die Betten zum Fenster. Dort schüttelte ich sie kräftig aus,
und während unten ein dunkelhaariger Mann vorbeilief, murmelte ich: Viel
Glück, kleine Laus!“
Als in Schlesien 1848 eine verheerende Flecktyphusepidemie grassierte,
sollte der 26-jährige Mediziner Rudolf Virchow eine Untersuchung vor Ort
durchführen. Zum Verdruss des preußischen Ministers der geistlichen,
Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten legte er diesem danach eine
„politische Ökologie“ vor. Virchow hatte sich nicht lange mit der Suche
nach den Überträgern aufgehalten und war einfach von einem unsichtbaren
Stoff („Miasma“) in der Luft ausgegangen. Erst um 1900 erkannte Osip
Moschutkovsij, Leiter der Infektionsabteilung des Krankenhauses von
Odessa, dass der Flecktyphuserkrankung Läusebisse vorausgingen. Die
bakteriellen Erreger wurden 1916 identifiziert, das gegen sie wirksame
Antibiotikum 1928 entdeckt.
Für Virchow waren die wahren Ursachen das Elend in den Dörfern der Polen,
wofür er die preußische Kolonialherrschaft verantwortlich machte: „Das
Gesetz war da, die Beamten waren da, und das Volk – starb zu Tausenden
Hungers und an Seuchen.“ Man dürfe sich deswegen nicht wundern, wenn das
Volk „in der Aristokratie oft genug seine geborenen Gegner“ sehe. Virchow
trat in Berlin einem „Bürger-Comité“ bei und hielt „aufrührerische Red…
heißt es in dem Aufsatz „Flecktyphus in Oberschlesien“ des
Medizinhistorikers Bernhard Meyer.
## Polen
Seit seiner Typhusuntersuchung gilt Virchow als Begründer der
Sozialmedizin. Zunächst beschrieb er ausführlich Topografie und Geografie
Oberschlesiens sowie die historischen Aspekte der Besiedlung. Die Bewohner,
fast ausschließlich Polen, waren einer preußischen Beamtenschaft und
deutschen Eigentümern an Grund und Boden ausgeliefert, die sie wie
Fremdlinge hielten. Hinzu kamen die Priester – schlimmer als jede Laus:
„Nirgends hat der katholische Clerus eine absolutere Knechtung des Volkes
zu Stande gebracht, als hier: der Geistliche ist der uneingeschränkte Herr
dieses Volkes, das ihm wie eine Schar Leibeigener zur Verfügung steht.“
Ausführlich beschrieb Virchow die unzureichenden Behausungen, die ständig
überbelegt waren, zudem voller „Ungeziefer, insbesondere Läuse“. Die
Ernährung bestand „seit Menschengedenken nur aus Kartoffeln, Molke und
Sauerkraut“.
Materielle Hilfe, „die den Staatsbehörden zu thun angestanden hätte“,
leistete nur ein wohltätiges „Breslauer Comité“. Das Geld dafür musste
durch einen „Nothruf an die Barmherzigkeit des Publikums“ gesammelt werden.
Das rief bei wohlhabenden Deutschen Befürchtungen hervor: „Als man denen,
die gar nichts, absolut nichts zu essen hatten, 1 Pfund Mehl für den Tag
bewilligte, fürchtete man, sie zu verwöhnen! Kann man sich Schrecklicheres
denken, als dass sich jemand an Mehl, an blossem reinem Mehl, verwöhnen
wird und dass dies jemand befürchten kann?“
Auf ratgeber-gesundheit heißt es: „Nur in außereuropäischen Ländern
übertragen Kopfläuse potentiell gefährliche Bakterien.“ Der Satz
suggeriert, dass man es dort mit der Hygiene nicht so genau nimmt.
„Weltweit erkranken jährlich noch immer 17 Millionen Menschen an Typhus,
und viele sterben daran. Hierzulande ist das Auftreten von Läusen
‚meldepflichtig‘ “. Das ist reduktionistisches Charité-Denken (à la Pro…
Dr. Drosten), denn entscheidend sind – wie der ganzheitlich denkende
Virchow richtig erkannte – die Lebens-, Ernährungs- und sozialpolitischen
Umstände.
## Ecuador
Die noch nicht domestizierten Indigenen gehen ganz anders mit Läusen um:
Nemonte Nenquimo vom Stamm der Waorani im Regenwald Ecuadors berichtet in
ihrem Buch „We Will Not Be Saved“ (2024): „ ‚Du hast keine einzige Laus…
rief Tante Geca enttäuscht, als sie mit den Fingern durch meine Haare fuhr.
‚Wie sollen wir uns denn unterhalten, wenn ich dir keine Läuse aus dem Haar
klauben kann wie früher?‘ “
Bei Gesprächen lausen sich die Waorani oft und gern, wobei die Läuse mit
den Zähnen geknackt werden. Sich berühren, lausen und dabei etwas erzählen
gehören zusammen, aber Nemonte Nenquimo hatte sich von extrem reaktionären
US-Evangelikalen auf deren Missionsschule schicken lassen und antwortete
Geca: „ ‚Gott mag keine Läuse, Tante!‘, sagte ich. ‚Er will, dass wir
sauber und rein sind.‘ Geca kreischte vor Lachen. ‚Welcher idiotische Gott
mag denn keine Läuse? Kopfläuse bringen Familien zusammen!‘ “
Und sie hatte recht. Nemonte Nenquimo fiel deswegen zu ihrem Glück auch
bald wieder vom Glauben ab.
11 Aug 2025
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Ungeziefer
Schädlinge
Infektionskrankheit
Helmut Höge
Helmut Höge
Tiere
Meeresbiologie
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