# taz.de -- Die Wahrheit: Tierische Refresher-Taste | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (221): Nicht nur die | |
> Meeresschnecke verjüngt sich selbst, auch andere Wasserbewohner altern | |
> seltsam. | |
Bild: Ohrenquallen altern anders als der Mensch rückwärts | |
Viele Milliarden an Geld werden jährlich für Verjüngungsmittel, -kuren und | |
-operationen weltweit ausgegeben. Der Molekularbiologe Nicklas Brendborg | |
erwähnt darüber hinaus in seinem Buch „Quallen altern rückwärts“ (2023)… | |
vielen Millionen Labormäuse, die vernutzt werden auf der Suche nach | |
„Anti-Aging-Mitteln“ für Reiche. | |
Es gibt Tiere, die sich aus eigener Kraft verjüngen können. Bei den Krebsen | |
etwa werden verlorene Fühler, Beine oder Scheren bei der nächsten Häutung | |
ersetzt. Die Meeresschnecke Elysia marginata kann ihren ganzen Körper | |
abtrennen und dann vom Kopf aus einen neuen bilden. Molche und Axolotl | |
vermögen fast alle Körperteile zu regenerieren. Ihre „dedifferenzierten | |
Zellen“ können sich in verschiedene Zelltypen umwandeln. Generationen von | |
Biologiestudenten haben damit rumexperimentiert. Der Forschungsreisende | |
Thor Heyerdahl schimpfte über sein Zoologiestudium: „Statt über das | |
Verhalten von wild lebenden Tieren etwas zu erfahren, pflanzten wir | |
Molchbeine vom Bauch auf den Rücken des Tieres.“ | |
Bei vielen Arten stirbt das Männchen nach der Begattung, unter den | |
Tausendfüßern gibt es eine Ausnahme: die „Schnurfüßer“. Bei ihnen häut… | |
sich das Männchen nach der Verpaarung bloß und hat dann nur noch | |
rückgebildete, durch Knospen angedeutete Fortpflanzungsorgane. Es gleicht | |
damit erneut einem vor der ersten Reifehäutung stehenden Jungtier. Nach | |
einer zweiten Häutung ist es dann wieder begattungsfähig. | |
Quallen, auch Medusen genannt, schweben im Meer. Ihr Körper besteht zu 98 | |
Prozent aus Wasser, auf ihre Fortpflanzung folgt der Alterstod. Für eine | |
Qualle namens Turritopsis dohrnii gilt das jedoch nicht: Sie kann ihre | |
gealterten Zellen in Stammzellen zurückverwandeln, woraus wieder neue | |
spezialisierte Polypenzellen entstehen, aus denen – auf ungeschlechtlichem | |
Wege – Quallen „wachsen“. Diese Qualle wird also immer wieder jung, sofern | |
sie nicht gefressen wird, und ist von daher quasi unsterblich, heißt es im | |
Buch „Wenn Haie leuchten“ (2021) der Meeresforscherin Julia Schnetzer. | |
## Neustart einer Qualle | |
Der Dokumentarfilmregisseur Zoran Solomun hat in Japan einen Film über | |
Turritopsis dohrnii und ihren japanischen Erforscher Shin Kubota gedreht. | |
Die Qualle ist fingernagelgroß. Wenn man ihre Tentakel abschneidet, | |
entwickelt sie sich zurück zu einem Polypen und startet neu. Jetzt mit der | |
Fukushima-Radioaktivität wird die kleine Qualle immer größer. | |
In seinem Drehbuch schrieb Solomun: „Letztendlich gelten nur die | |
einfachsten Lebewesen, die sich mittels Zellteilung vermehren, als | |
unsterblich. Alle höheren und komplizierteren Arten durchleben denselben | |
Zyklus: Sie werden geboren, reifen heran, vermehren sich, altern und | |
sterben.“ Die westliche Wissenschaft will das aber nicht auf sich beruhen | |
lassen und sucht in allen Richtungen nach lebensverlängernden Stoffen und | |
Verfahren. Der Traum ist uralt. In der Regierungszeitung Iswestija | |
erklärten sowjetische „Immortalisten“ 1922: „Wir stellen fest, dass die | |
Frage der Verwirklichung persönlicher Unsterblichkeit jetzt in vollem | |
Umfang auf die Tagesordnung gehört.“ | |
Ich traf mich einmal in Berlin mit zwei älteren Neuköllner Immortalisten, | |
die mir erklärten: „Fische altern auch nicht, sie werden nur größer.“ Im | |
Übrigen gebe es in der Natur eigentlich sowieso nicht das, was wir Menschen | |
einen „natürlichen Tod“ nennen. Der sei quasi ein Haustierphänomen. | |
„Senilität ist ein Kunsterzeugnis der Zähmung. Die wilden Tiere werden | |
dagegen früher oder später fast alle gefressen, wobei diese Gefahr mit | |
wachsendem Alter steigt, obwohl sie zugleich aber auch schlauer werden. Der | |
mittlere Lebensabschnitt ist jedoch auch für uns Menschen der beste …“ | |
„Das sehen die Lebensversicherungsgesellschaften bestimmt genauso“, sagte | |
ich. Sie wollten daraufhin wissen, ob die Versicherungen auch prämienmäßig | |
berücksichtigen würden, dass es entgegen unserer Vorstellung, erst eine | |
Periode der Entwicklung und dann eine des Verfalls durchmachen zu müssen, | |
in Wirklichkeit so sei, dass wir „unser Leben mit einer Periode extrem | |
schnellen Verfalls beginnen und es mit einem sehr langsamen und sehr | |
geringen Verfall beenden“. Als Skeptiker erinnerte ich sie an die Bibel, | |
Matthäus fragt darin: „Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle | |
zusetzen könnte?“ | |
## Resistent gegen Degeneration | |
Selbst die „Lebensqualität“ nimmt ab, das heißt, mit zunehmendem Alter | |
leidet der Mensch unter Gedächtnisverlust. Nicht so die Tintenfische, wie | |
Alexandra Schnell von der University of Cambridge mittels | |
„Gedächtnistests“ herausfand. „Auch greise Tintenfische erinnern sich no… | |
bestens an die vergangenen Erfahrungen. Viele der alten Tintenfische | |
schnitten in der Testphase sogar besser ab als die jungen.“ Wobei es dabei | |
jedoch bloß darum ging, sich zu erinnern, was sie wann und wo gefressen | |
hatten. Die Biologin folgerte daraus: „Ihr Gedächtniszentrum ist resistent | |
gegen Degeneration“ – im Gegensatz zu unserem Hippocampus, wie es auf | |
scinexx.de heißt. | |
Wie verhält es sich aber nun mit dem Gedächtnis der „einfachsten | |
Lebewesen“, die als unsterblich gelten? Gemeint sind die Bakterien. Der | |
französische Bakterienforscher François Jacob schreibt (in „Die Maus, die | |
Fliege und der Mensch“ aus dem Jahr 2000): Ein Bakterium „träumt davon, | |
zwei zu werden“ – was nicht auf sexuellem Wege geschieht: Bakterien sind | |
ungeschlechtlich. Mit ihrer Sexualität ist bloß die Berührung oder | |
Kommunikation zweier Bakterien gemeint, bei der Gen-Geschenke übergeben | |
werden. Dies geschieht durch direkten Körperkontakt oder mittels | |
Proteinfäden, sogenannten Sexual-Pili, die von einem Individuum zum anderen | |
hinüberwachsen. Die Fortpflanzung hat damit nichts zu tun, diese geschieht | |
durch Teilung. | |
Jacobs Kollege am Collège de France Michel Foucault fragte sich darob: | |
„Solange man es zu tun hat mit einem, relativ gesehen, so einfachen | |
Organismus wie einem Bakterium, kann man dann wirklich von einem Individuum | |
sprechen?“ Präziser gefragt: „Kann man sagen, dass es einen Anfang hat, da | |
es schließlich nur die Hälfte einer früheren Zelle ist, die ihrerseits die | |
Hälfte einer anderen Zelle war und so weiter bis in die fernste | |
Vergangenheit des ältesten Bakteriums der Welt?“ Oder – in die andere | |
Zeitrichtung gefragt: „Kann man sagen, dass es stirbt, wenn es sich | |
teilt, zwei Bakterien Platz macht, die unabhängig bestrebt sind, sich | |
alsbald ihrerseits zu teilen?“ | |
Das Sterben, der Bruch im Gedächtnis, tritt erst mit der Verbindung von | |
Sexualität und Fortpflanzung ein. Ich erinnere nur an den Seufzer des | |
Dichters Peter Rühmkorf: „Ach, könnte man doch angelesene Eigenschaften | |
vererben!“ | |
30 Jun 2025 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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